Читать книгу Rebeccas Schüler - Tira Beige - Страница 10
Kapitel 4
ОглавлениеDer Montagmorgen begann, wie der Sonntagnachmittag geendet hatte: spätsommerlich warm. Das Gewitter und der Regen taugten kaum dazu, die heiß gewordenen Asphaltstraßen auf eine erträgliche Wärme zu senken. Die Hitze staute sich zwischen den Häuserfronten und den abgestellten Autos. Sie drückte sich selbst in die engsten Gassen hinein. Sie saß auf und zwischen den Bänken des Stadtparks. Sie befiel die eigenen vier Wände wie ein böses Virus. Die Hitze kroch an den Schlafzimmerwänden bis zur Decke hinauf. Dort hockte sie und wartete.
Rebecca stand nackt vor dem Spiegel ihres Kleiderschranks. Sie war sich unschlüssig darüber, was sie an ihrem ersten Arbeitstag in der neuen Schule anziehen sollte. Schon jetzt roch die Luft nach Funken und Flirren, als drohe ein nahes Gewitter, das die Schwüle hinwegfegen würde.
Rebecca zog ungeduldig ein Kleid nach dem anderen aus dem Schrank, warf es auf das Bett oder presste es gegen ihren schweißdurchnässten Körper. Dann sah sie ihre sommerlich bunten Blusen schimmern, die mit einer Shorts oder einem Rock bestimmt ganz adrett anmuteten. Das kurze Schwarze, das sie kürzlich in der Disco anhatte, als sie Cedric und Linus erstmals traf, dünstete noch im Wäschekorb vor sich hin.
Nach einigem Hin und Her fiel ihre Wahl auf einen eng geschnittenen, kurzen Rock und eine rote Bluse. Damit würde sie zugleich professionell wirken und sexy aussehen. Eine Kombi, mit der sie schon an ihrer alten Schule bevorzugt provoziert hatte. Durch den Spitzenstring schmiegte sich der weiche Stoff des Rocks hautnah an ihren Po an. Ihre Hände konnten gar nicht so schnell gezügelt werden, wie sie neugierig über den Hintern strichen. Die Bluse lag ebenfalls verboten dicht am Körper an und betonte, was es zu akzentuieren gab.
Rebecca neigte den Kopf leicht schräg und begutachtete das Resultat ihrer Entscheidung im Schlafzimmerspiegel. Immer wieder drehte sie sich nach links und nach rechts, glättete den Stoff des Rocks oder zog sich die Bluse gerade. Noch war das Outfit nicht perfekt, denn ohne die passenden Schuhe, ohne ein dezentes Make-up und ohne den richtigen Schmuck war das Ergebnis nur halb ideal. Es musste vom ersten Tag an den richtigen Eindruck vermitteln. Niemand sollte auf die Idee kommen, sie für bieder oder altbacken zu halten.
Es brauchte noch weitere dreißig Minuten, bevor Rebecca ihren hohen Ansprüchen gerecht wurde und zufrieden mit ihrem Aussehen aus ihrer Wohnung stolzierte. Das Treppenhaus stemmte sich eisern gegen die sommerlich drückende Hitze. Die kalten grauen Wände trotzten der Wärme von außen und jagten kleine Schauder über Rebeccas Rücken. Die Absätze ihrer Pumps schlugen hart auf und ließen den Flur erzittern. Um ihren Arm schwang eine Handtasche. Am ersten Tag bedurfte es nicht vieler Utensilien: Kurslisten, Mitschriften aus der Lehrerkonferenz, ihr Federmäppchen. Mehr musste sie nicht einstecken.
Als sie aus dem Haus hinaustrat, rollte ihr ein Schwall knisternder Energie entgegen. Dass sich bereits um kurz nach halb neun eine so gewitterschwere Atmosphäre über die Stadt legte, war ungewöhnlich und verheißungsvoll. Rebecca sehnte sich nach Abkühlung, denn schon nach wenigen Schritten benetzte Schweiß ihre Stirn. Ihre Wangen glühten wie im Fieberwahn. Nicht nur, weil ihr die Hitze zu Kopf stieg. Sie glimmten vor Aufregung und Neugierde. Was würde sie heute erwarten? Während sie Richtung Schule lief, fantasierte sie, wie sie in der Aula vorgestellt wurde: Wie sie sich erhob. Wie sie angegafft und erste Urteile über sie gefällt wurden. Und dann ihre erste Stunde im Kurs. Sie sah eine gesichtslose Masse an Mädchen vor sich sitzen, dazwischen Cedric und Linus. Wie würden die beiden Jungs reagieren, wenn sie feststellten, dass sie mit ihrer neuen Lehrerin und Tutorin bereits Bekanntschaft geschlossen hatten? Würden sie sich überhaupt an sie erinnern oder hatten sie die Begegnung in der Disco längst aus dem Gedächtnis gestrichen?
Rebecca näherte sich dem Sportgymnasium. Als sie noch bei der Zeitung angestellt war, musste sie öfter daran vorbeifahren. Ihre Joggingstrecke führte sie ebenfalls manchmal an dem weißgrauen, klotzartigen Gebäude vorbei. An der großen Turnhalle, an dem Fußballrasen mit dem üppigen Grün und an der orange schimmernden Tartanbahn. Alles sah akkurat gepflegt aus, wie sie es von einer Schule dieser Ausrichtung erwartete. Des Öfteren hatte sie beim Vorbeilaufen Schüler rennen, springen oder spielen gesehen, ohne zu ahnen, dass sie hier irgendwann arbeiten würde. Heute war es soweit. Sie betrat den Eingang als Lehrerin.
Die Nervosität maximierte sich, als sie die Schule erreichte und einige Schüler zeitgleich mit ihr hineinströmten. Noch nahm kaum jemand Notiz von ihr. Rebecca steuerte wie die Schüler der voluminösen Aula zu. Dort verließen gerade die Fünft- bis Achtklässler den Saal. Gleich würden die Klassen 9 bis 12 eine Einführung ins neue Schuljahr erhalten.
Einige Jugendliche saßen bereits auf ihren Plätzen und plauderten. Scheu blickte sich Rebecca im Raum um, als sie nach vorn Richtung Bühne lief. Jeder Schritt fühlte sich wie der Gang zum Schafott an. Mit jedem weiteren, den sie nach vorn absolvierte, glaubte sie, die Blicke der Schüler im Nacken zu spüren.
In der ersten Reihe saßen ihre neuen Kollegen und starrten Löcher in die Luft. Auf ihren Gesichtern ruhte die Entspannung, während Rebeccas Augen von Nervosität gezeichnet waren. Sie hatte gehofft, dass Robert schon da war. Er hätte ihr die Kraft gegeben, die sie jetzt brauchte, und ihren Puls beruhigt. Doch er war nicht da.
Mayer stand auf der Tribüne und fummelte gemeinsam mit einem Kollegen am Mikrofon herum. Rebecca setzte sich neben eine ältere Kollegin und strich nervös über ihren Rock. Ihre klatschnassen Finger rieben angespannt über den Stoff. Ein Blick auf die Uhr. In zehn Minuten würde die Einführung beginnen. Ihre triefenden Hände verkeilten sich ineinander. Rebecca blickte sich erneut um. Eine Wand an Gesprächen drang in ihr Ohr, immer wieder übertönt durch das Rücken von Stühlen oder das Rascheln von Taschen. Zwischen den vielen unbekannten Gesichtern saßen irgendwo Cedric und Linus. Vielleicht wurde sie gerade von ihnen oder von den Mädchen in ihrem Tutorkurs angeschaut. Lächeln, Rebecca. Sie rang sich Freundlichkeit ab, doch die prickelnde Gespanntheit ihrer Nerven übertünchte schlichtweg ihre gut gemeinten Vorsätze. Die Mundwinkel fielen beinah automatisch nach unten zurück. Daher drehte sich Rebecca weg von der Masse der Fremden und richtete ihren Blick starr auf die Bühne, auf der Mayer seine Zettel sortierte.
»Guten Morgen!« Das erste bekannte Lächeln an diesem Montagmorgen. Robert strahlte sie an. Sichtlich erfreut, sein wohltuendes Gesicht mit dem schiefen Mund zu sehen, grinste Rebecca ihm entgegen. »Ich setze mich neben dich, wenn das okay ist«, sagte Robert und nahm den Platz bereits in Anspruch, noch während der Satz seine Lippen verließ.
»Aufgeregt?«, fragte er mitfühlend und drehte seinen Kopf zu ihr herum.
»Und ob«, keuchte sie angestrengt und fächelte sich Luft mit der Hand zu. Es half nur bedingt.
»Brauchst du aber nicht zu sein«, beruhigte Robert. »Der Schulleiter wird grob das neue Schuljahr vorstellen, Mut machen für die anstehenden Wochen und für die Prüfungen im nächsten Semester. Die neuen Kollegen werden meist gleich nach der Begrüßung vorgestellt. So wie bei der Lehrerkonferenz. Du musst nicht auf die Bühne gehen.«
Seine Worte besänftigten Rebeccas gespannte Nerven, die kurz vorm Zerreißen standen. Sie drehte sich noch einmal um und blickte in die Menge der Unbekannten.
»Tu’s besser nicht«, raunte ihr Robert zu.
»Was?«
»Dich umdrehen. Das macht dich nur noch nervöser. Du zerfließt ja jetzt schon vor Aufregung. Ich merke doch, dass du am liebsten flüchten würdest, so aufgekratzt, wie du auf dem Stuhl herumrutschst.« Er war ein wirklich wachsamer Mensch. Rebecca war gar nicht aufgefallen, dass sich ihre Beine bewegten. Mal überkreuzt, mal lang ausgestreckt, mal zu Robert geneigt, mal nach hinten hin angewinkelt. Doch ihr Kopf konnte nicht anders. Er musste sich immerfort umblicken. Als würde eine innere Kraft sie dazu zwingen, in die fremden Gesichter zu blicken.
Unerwartet legte sich Roberts Hand auf ihr Knie und Rebeccas Kopf schnellte zu ihm herum. Mit großen Augen schaute sie ihren Kollegen an. Der aber schien absolut unbeeindruckt von der intimen Geste seiner Hand zu sein. »Hierher, Rebecca«, flüsterte er und zog sogleich seine Hand von ihrem Knie ab. Er wollte sie bloß beruhigen und ihre Blicke nach vorn zwingen.
Es schien loszugehen, denn Mayer räusperte sich ins Mikrofon. Es wurde sichtlich leiser im Saal.
»Guten Morgen!«, schallte die sonore Stimme des Direktors durch die Aula und ließ die letzten Schwätzer verstummen. Es folgte ein motivierendes Zitat eines Philosophen, das Rebecca sofort vergaß. Sie hörte kaum den Aussagen des Schulleiters zu, weil der Druck einen dicken Klumpen in ihrem Hals erzeugte und sich schwer auf ihre Seele legte. Sie schluckte ihn hinunter. Das sorgte nur dafür, dass sich der Kloß in ihrem Bauch festsetzte und als dicker Brocken ihre Eingeweide malträtierte. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte auf der Stelle den Raum verlassen. Sie glaubte, auf einmal Durchfall zu bekommen und schleunigst auf die Toilette zu müssen. Es gluckerte und grollte hörbar in ihrem Bauch und Gedärmen. Der Schweiß rann von ihrer Stirn, lief an den Schläfen hinab. Die Hände flossen weg. Rebeccas Beine wussten nicht mehr, wo sie hin sollten. Weg, weg von hier, schrien sie.
Je mehr Worte Mayer ins Mikrofon goss, desto unwohler fühlte sich Rebecca in ihrer Haut. Sie musste sich dazu quälen, auf seine Sätze zu hören und nicht auf ihren verräterischen Körper, der mit Entkommen reagieren wollte. Das erste Mal Lehrerin nach drei Jahren.
»Das neue Schuljahr bringt uns auch immer neue Kollegen.« Mayer wirkte ungeheuer souverän, wie er da vorn an seinem Rednerpult stand und Herr seiner selbst war. Er strahlte Dominanz und Beherrschung aus. Sein seidiger schwarzer Anzug schimmerte im Licht der Bühnenbeleuchtung. Die Schüler zollten ihm Achtung, denn seine Worte brachten alle im Saal zum Schweigen.
»Ihr wisst, dass Frau Fritsche im Babyjahr ist. Sie wird vertreten von Frau Peters.« Mayer richtete seinen Blick auf Rebecca und deutete mit einer Handbewegung an, dass sie aufstehen sollte. Sie wollte Stärke ausstrahlen, aber ihr Körper zwängte sich lediglich träge in die Senkrechte. Ein flüchtiger Blick, ein kurzes Nicken über die Köpfe der Anwesenden hinweg, dann sank Rebecca in ihren Stuhl zurück. Als wäre sie von einem mehrstündigen Marsch aus dem Gebirge wiedergekommen. Hatte sie gelächelt?
»Frau Peters wird die Tutorin für den Kurs von Frau Fritsche. Außerdem übernimmt sie …« Rebecca war nicht mehr in der Lage, Mayer zu folgen. Zu sehr folterte es sie, dass sie nicht selbstbewusst aufgetreten war. Die erste Stunde in ihrem Kurs musste unbedingt anders ablaufen.
Nach anstrengenden zwanzig Minuten beendete Mayer seinen Monolog und entließ die Klassen und Kurse sowie die Lehrer in ihre ersten gemeinsamen Stunden. Jetzt mussten die organisatorischen Dinge geklärt werden. Rebecca wollte den Schwerpunkt heute auf das Kennenlernen lenken.
»Du packst das schon«, lächelte Robert, als Unruhe im Saal aufbrandete. Die ersten Schüler verließen schnatternd die Aula und drängten in die Klassenzimmer. Rebecca blickte sich scheu nach den Jugendlichen um, die immer zahlreicher als namenlose Masse nach draußen verschwanden.
»Du hast nette Leute in deinem Kurs. Die fressen dich nicht auf«, beruhigte Robert. »Wenn du magst, begleite ich dich in deinen Raum.« Sein Angebot war lieb gemeint. Aber wie sähe es aus, wenn der Kollege sie absetzte wie ein Kleinkind, das in den Kindergarten gebracht wurde?
»Danke, ich schaff das allein«, sagte Rebecca. Nicht überzeugend, aber mit der nötigen Kraft, um ihn zufriedenzustellen.
»Okay. Dann sehen wir uns in der Frühstückspause im Lehrerzimmer?«, hakte er nach.
Rebecca nötigte sich ein unsicheres Kopfnicken ab und verließ mit den letzten Jugendlichen die Aula.
Sie wusste, wo sie gleich erstmals auf ihren Kurs treffen würde. Den Raum hatte sie ausgekundschaftet, als sie vor ein paar Tagen zur Lehrerkonferenz erschienen war. Sie wollte nicht hin. Sie musste hin. Dass sie zwei Schüler vom Sehen kannte, beschwichtigte einerseits ihr zerrüttetes Nervenkostüm. Andererseits fürchtete sie sich vor dem Zusammentreffen. Warum, das wusste ihr flackernder Körper wohl selbst nicht genau.
Auf dem Gang war es ruhig. Die meisten Kinder und Jugendlichen befanden sich in ihren Klassen- und Kursräumen. Viele Türen waren geschlossen. Die lautesten Geräusche verursachten ihre Heels, die, Maschinengewehrkugeln gleich, an den Wänden des Flurs widerhallten. Die Tür zu ihrem Raum stand offen. Gemurmel drang bis auf den Gang hinaus. Rebecca verharrte in ihrer Bewegung. Ihre Atmung ging abgehackt und flach. Ein kurzes Schließen der Augen brachte keine Beruhigung. Sie strich sich ein letztes Mal den Schweiß von der Stirn. Jetzt gab es kein Zurück. Der dicke Klotz in Rebeccas Bauch grummelte ein finsteres Lied. Es wäre falsch, seiner Melodie zu lauschen und dem Drang, aus dem Gebäude zu verschwinden, nachzugeben.
Ein tiefer Atemzug von der stickigen Luft des Flures, dann preschte Rebecca in den Kursraum hinein und flog auf den Lehrertisch zu. Sie meinte, im Gehen den Kopf gedreht und den Schülern eine leise Begrüßung durch ihre hochgezogenen Mundwinkel gegeben zu haben.
Beim Aufblicken zeigte sie das schönste Lächeln, das sie sich in diesem Moment abringen konnte. Ihre Augen blieben auf den Gesichtern hängen. Manche Mädchen demonstrierten offen ihre Sympathie. Wiederum andere schauten neutral nach vorn. Manche musterten Rebecca mit kritischem Blick. Welches Bild mochte sie wohl abgeben? Jetzt, da sie am Lehrertisch stand und sich mit einer Hand an der Kante festkrallte.
Ganz links, auf der letzten Bank, saßen Cedric und Linus. Cedrics hübsches Gesicht konnte nur glotzen. Linus’ Mund stand offen. Sie wussten, wer sie war. Sofort steckten beide die Köpfe zusammen und murmelten sich etwas zu.
»Ich begrüße euch ganz herzlich«, sagte Rebecca mit der festesten Stimme, die ihr zur Verfügung stand. Sie schluckte einen erneuten Batzen Aufregung nach unten. »Ich möchte mich vorstellen.« Jetzt lächelte sie. »Mein Name ist Rebecca Peters. Ich werde in diesem Schuljahr eure Tutorin sein. Außerdem unterrichte ich euch im Leistungskurs Deutsch.« Wieder ein dicker Klumpen im Hals, der verschluckt wurde. »Ich bin etwas aufgeregt, wie ihr sicher sehen könnt.« Sie lachte auf, um ihre Hektik zu überspielen. Manche Schülerinnen nickten verhalten. Die Person, die die souveränste Haltung ausstrahlen sollte, stand vorn und machte alles andere als einen selbstsicheren Eindruck.
»Ich bin auch deswegen so aufgeregt, weil es das erste Mal seit Jahren ist, dass ich wieder vor Schülern stehe.« Gemurmel. »Ich bin vor drei Jahren in diese Stadt gezogen und bin seitdem nur Minijobs und einer Anstellung bei einer Zeitung nachgegangen.« Wieder Getuschel. »Aber ich bin studierte Lehrerin für Deutsch und Kunst und war an meiner letzten Schule auch als Klassenlehrerin tätig. Leider zwang mich ein Umzug dazu, mich neu auszurichten.«
Bullshit, Rebecca! Niemand sollte erfahren, was sie wirklich hierher trieb. Die Affäre zu ihrem ehemaligen Schüler Elouan musste unter allen Umständen vertuscht werden. Niemals sollte ihre Vergangenheit auf den Tisch kommen!
»Wenn wir uns besser kennen, können wir gern darüber sprechen, wie schwierig es ist, irgendwo neu anzufangen. Aber heute nicht. Heute geht es darum, dass wir uns ein wenig ›beschnuppern‹.« Rebecca zwang sich zu einem Lächeln durch, das ihr nach wie vor schwerfiel.
»Ich weiß, dass wir nur ein Schuljahr zusammen haben werden. Das reicht vielleicht gerade aus, um als Kurs zusammenzuwachsen. Ich möchte in den kommenden Tagen mit euch Einzelgespräche führen. Ich will herausfinden, was ihr für Menschen seid, was ihr euch vorgenommen habt für dieses Schuljahr und ich will wissen, was ihr mit dem Abi machen wollt. Ich denke, dass wir uns vor allem während der Kursfahrt annähern werden.«
Klang das halbwegs sicher? Rebecca pochte mit den Fingerkuppen auf den Lehrertisch. »Okay, dann stellt euch mal vor, damit ich euch mit Namen ansprechen kann«, bat sie, setzte sich hin und erstellte einen Sitzplan. »Gut, beginnen wir bei dir hier vorn.«
Zur Frühstückspause verließ Rebecca den Raum und stolperte Richtung Lehrerzimmer, wo sie hoffte, auf Robert zu treffen. Schon beim Aufschließen des Raums prasselte ein lautstarker Schwall auf sie ein. Kolleginnen rannten wie aufgescheuchte Suppenhühner durch das Zimmer. Einige saßen an den Tischen zusammen und aßen ihre mitgebrachten Frühstücksbrote, während sich einer lauter als der andere über den ersten Schultag austauschte. Auch Robert war mit einer Frau im Gespräch versunken. Als er Rebecca entdeckte, hob er die Hand und winkte sie herbei. Als Rebecca am Tisch ankam, streckte ihr die ältere Kollegin mit den rötlich-grauen Haaren die Hand entgegen und stellte sich als Sabrina Winkler vor, die dritte Tutorin.
»Und wie war deine erste Stunde im Kurs?«, fragte sie Rebecca herzlich. Die neue Kollegin besaß eine einnehmende Erscheinung. Ihre Statur war sehr kräftig. In Kombination mit den kurzen Haaren wirkte Sabrina leicht bubenhaft. Trotz ihres resoluten Auftretens erweckte sie den Eindruck, eine Kameradin fürs Leben zu sein.
»Ich war tierisch aufgeregt«, sagte Rebecca und versenkte ihre Handflächen ins Gesicht.
»Ach Quatsch!«, rief Sabrina aus und patschte ihr auf die Schulter. Es war ein kerniger Handschlag. Fast wie bei einem Mann. Auch Sabrinas Stimme war sehr dunkel gefärbt.
»Du hast ganz liebe Mädels drin. Die unterstützen dich bei allem, was du mit denen vorhast.«
»Ich habe Rebecca«, schaltete sich Robert ins Gespräch ein, »schon gesagt, dass sie einzig Cedric und Linus im Auge behalten muss.« Aus Sabrinas Mund entrang ein kehliges Lachen. Sicherlich rauchte sie schon seit Jahren, so metallisch wie ihre Stimmlage klang.
»Ja, die beiden sind eine Nummer für sich«, griente Sabrina und entblößte ihre gelblichen Zähne.
»Sind mir nicht weiter aufgefallen«, sagte Rebecca schnell. Tatsächlich hatten sich die Jungs während der Einführungsstunde benommen. Keiner hat irgendeinen komischen Kommentar verlauten lassen. Eine Anspielung auf die Disconacht wäre auch mehr als unpassend gewesen.
»Sie kennen dich noch nicht«, meinte Robert und nahm einen Bissen von seiner Wurststulle. Rebecca bekam nichts herunter, obwohl sie ihre Schnitte eingepackt mit ins Lehrerzimmer genommen hatte. Zu groß war der innere Brocken, den sie seit gut anderthalb Stunden in sich trug.
»So, ich glaube, wir müssen wieder«, sagte Sabrina und erhob sich mit ihrem ganzen Gewicht vom Stuhl. Mit einer Hand auf der Tischkante abgestützt, drückte sie ihren wuchtigen Körper nach oben. Dann zwängte sie sich an den anderen Kollegen vorbei, die ihr keine Beachtung schenkten. Rebecca beobachtete, wie ihr massiger Leib beim Gehen von einer in die andere Richtung schwenkte. Mit diesem Aussehen am Sportgymnasium zu bestehen, war bestimmt nicht einfach. Aber die Kollegin strahlte die nötige Stärke aus, die es brauchte, um als Lehrerpersönlichkeit geachtet zu werden.
»Welche Fächer unterrichtet sie?«, fragte Rebecca, als Sabrina aus ihrem Blickfeld verschwand.
»Geografie«, erwiderte er.
»Nur ein Fach? Dann hat sie sicherlich nicht viele Stunden.«
»Man sieht es ihr nicht an, aber bis vor zehn Jahren hat Sabrina sogar Sport unterrichtet.« Als könnte er seine Worte selbst nicht glauben, lachte Robert nach Beendigung des Satzes laut auf.
»Sabrina arbeitet schon über fünfzehn Jahre hier. Ich bin seit acht Jahren dabei. Ich habe sie nie als Sportlehrerin gesehen. Sie hat es mir mal irgendwann gesagt, als wir auf Klassenfahrt waren.«
Schon komisch, wie sich Menschen verändern konnten.
»Sie unterrichtet nahezu alle Klassen in ihrem Fach. Ich glaube über fünfundzwanzig.«
Aufbruch im Lehrerzimmer. Robert erhob sich und wünschte ihr gutes Gelingen. Rebecca war dankbar, zwei Kollegen zu haben, die sie unterstützten. Mit diesem Background konnte sie ruhigen Gewissens ins neue Schuljahr starten.