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Kapitel 4

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Der Mon­tag­mor­gen be­gann, wie der Sonn­tag­nach­mit­tag ge­en­det hat­te: spät­som­mer­lich warm. Das Ge­wit­ter und der Re­gen taug­ten kaum dazu, die heiß ge­wor­de­nen As­phalt­stra­ßen auf eine er­träg­li­che Wär­me zu sen­ken. Die Hit­ze stau­te sich zwi­schen den Häu­ser­fron­ten und den ab­ge­stell­ten Au­tos. Sie drück­te sich selbst in die engs­ten Gas­sen hin­ein. Sie saß auf und zwi­schen den Bän­ken des Stadt­parks. Sie be­fiel die ei­ge­nen vier Wän­de wie ein bö­ses Vi­rus. Die Hit­ze kroch an den Schlaf­zim­mer­wän­den bis zur De­cke hin­auf. Dort hock­te sie und war­te­te.

Rebecca stand nackt vor dem Spie­gel ih­res Klei­der­schranks. Sie war sich un­sch­lüs­sig dar­über, was sie an ih­rem ers­ten Ar­beits­tag in der neu­en Schu­le an­zie­hen soll­te. Schon jetzt roch die Luft nach Fun­ken und Flir­ren, als dro­he ein na­hes Ge­wit­ter, das die Schwü­le hin­weg­fe­gen wür­de.

Rebecca zog un­ge­dul­dig ein Kleid nach dem an­de­ren aus dem Schrank, warf es auf das Bett oder press­te es ge­gen ih­ren schweiß­durch­näss­ten Kör­per. Dann sah sie ihre som­mer­lich bun­ten Blu­sen schim­mern, die mit ei­ner Shorts oder ei­nem Rock be­stimmt ganz adrett an­mu­te­ten. Das kur­ze Schwa­r­ze, das sie kürz­lich in der Dis­co an­hat­te, als sie Ce­d­ric und Li­nus erst­mals traf, düns­te­te noch im Wä­sche­korb vor sich hin.

Nach ei­ni­gem Hin und Her fiel ihre Wahl auf einen eng ge­schnit­te­nen, kur­z­en Rock und eine rote Blu­se. Da­mit wür­de sie zu­gleich pro­fes­si­o­nell wir­ken und sexy aus­se­hen. Eine Kom­bi, mit der sie schon an ih­rer al­ten Schu­le be­vor­zugt pro­vo­ziert hat­te. Durch den Spit­zen­string schmieg­te sich der wei­che Stoff des Rocks haut­nah an ih­ren Po an. Ihre Hän­de konn­ten gar nicht so schnell ge­zü­gelt wer­den, wie sie neu­gie­rig über den Hin­tern stri­chen. Die Blu­se lag eben­falls ver­bo­ten dicht am Kör­per an und be­ton­te, was es zu ak­zen­tu­ie­ren gab.

Rebecca neig­te den Kopf leicht schräg und be­gut­ach­te­te das Re­sul­tat ih­rer Ent­schei­dung im Schlaf­zim­mer­spie­gel. Im­mer wie­der dreh­te sie sich nach links und nach rechts, glät­te­te den Stoff des Rocks oder zog sich die Blu­se ge­ra­de. Noch war das Out­fit nicht per­fekt, denn ohne die pas­sen­den Schu­he, ohne ein de­zen­tes Make-up und ohne den rich­ti­gen Schmuck war das Er­geb­nis nur halb ide­al. Es muss­te vom ers­ten Tag an den rich­ti­gen Ein­druck ver­mit­teln. Nie­mand soll­te auf die Idee kom­men, sie für bie­der oder alt­ba­cken zu hal­ten.

Es brauch­te noch wei­te­re drei­ßig Mi­nu­ten, be­vor Rebecca ih­ren ho­hen Ansprü­chen ge­recht wur­de und zu­frie­den mit ih­rem Aus­se­hen aus ih­rer Woh­nung stol­zier­te. Das Trep­pen­haus stemm­te sich ei­sern ge­gen die som­mer­lich drü­cken­de Hit­ze. Die kal­ten grau­en Wän­de trotz­ten der Wär­me von au­ßen und jag­ten klei­ne Schau­der über Rebeccas Rü­cken. Die Ab­sät­ze ih­rer Pumps schlu­gen hart auf und lie­ßen den Flur er­zit­tern. Um ih­ren Arm schwang eine Hand­ta­sche. Am ers­ten Tag be­durf­te es nicht vie­ler Uten­si­li­en: Kurs­lis­ten, Mit­schrif­ten aus der Leh­rer­kon­fe­renz, ihr Fe­der­mäpp­chen. Mehr muss­te sie nicht ein­ste­cken.

Als sie aus dem Haus hin­aus­trat, roll­te ihr ein Schwall knis­tern­der Ener­gie ent­ge­gen. Dass sich be­reits um kurz nach halb neun eine so ge­wit­ter­schwe­re At­mo­sphä­re über die Stadt leg­te, war un­ge­wöhn­lich und ver­hei­ßungs­voll. Rebecca sehn­te sich nach Ab­küh­lung, denn schon nach we­ni­gen Schrit­ten be­netz­te Schweiß ihre Stirn. Ihre Wan­gen glüh­ten wie im Fie­ber­wahn. Nicht nur, weil ihr die Hit­ze zu Kopf stieg. Sie glimm­ten vor Auf­re­gung und Neu­gier­de. Was wür­de sie heu­te er­war­ten? Wäh­rend sie Rich­tung Schu­le lief, fan­ta­sier­te sie, wie sie in der Aula vor­ge­stellt wur­de: Wie sie sich er­hob. Wie sie an­ge­gafft und ers­te Ur­tei­le über sie ge­fällt wur­den. Und dann ihre ers­te Stun­de im Kurs. Sie sah eine ge­sichts­lo­se Mas­se an Mäd­chen vor sich sit­zen, da­zwi­schen Ce­d­ric und Li­nus. Wie wür­den die bei­den Jungs re­a­gie­ren, wenn sie fest­stell­ten, dass sie mit ih­rer neu­en Leh­re­rin und Tu­to­rin be­reits Be­kannt­schaft ge­schlos­sen hat­ten? Wür­den sie sich über­haupt an sie er­in­nern oder hat­ten sie die Be­geg­nung in der Dis­co längst aus dem Ge­dächt­nis ge­stri­chen?

Rebecca nä­her­te sich dem Sport­gym­na­si­um. Als sie noch bei der Zei­tung an­ge­stellt war, muss­te sie öf­ter dar­an vor­bei­fah­ren. Ihre Jog­ging­stre­cke führ­te sie eben­falls manch­mal an dem weiß­grau­en, klotz­ar­ti­gen Ge­bäu­de vor­bei. An der gro­ßen Turn­hal­le, an dem Fuß­ball­ra­sen mit dem üp­pi­gen Grün und an der oran­ge schim­mern­den Tar­tan­bahn. Al­les sah ak­ku­rat ge­pflegt aus, wie sie es von ei­ner Schu­le die­ser Aus­rich­tung er­war­te­te. Des Öf­te­ren hat­te sie beim Vor­bei­lau­fen Schü­ler ren­nen, sprin­gen oder spie­len ge­se­hen, ohne zu ah­nen, dass sie hier ir­gend­wann ar­bei­ten wür­de. Heu­te war es so­weit. Sie be­trat den Ein­gang als Leh­re­rin.

Die Ner­vo­si­tät ma­xi­mier­te sich, als sie die Schu­le er­reich­te und ei­ni­ge Schü­ler zeit­gleich mit ihr hin­ein­ström­ten. Noch nahm kaum je­mand No­tiz von ihr. Rebecca steu­er­te wie die Schü­ler der vo­lu­mi­nö­sen Aula zu. Dort ver­lie­ßen ge­ra­de die Fünft- bis Acht­kläss­ler den Saal. Gleich wür­den die Klas­sen 9 bis 12 eine Ein­füh­rung ins neue Schul­jahr er­hal­ten.

Ei­ni­ge Ju­gend­li­che sa­ßen be­reits auf ih­ren Plät­zen und plau­der­ten. Scheu blick­te sich Rebecca im Raum um, als sie nach vorn Rich­tung Büh­ne lief. Je­der Schritt fühl­te sich wie der Gang zum Scha­fott an. Mit je­dem wei­te­ren, den sie nach vorn ab­sol­vier­te, glaub­te sie, die Bli­cke der Schü­ler im Nacken zu spü­ren.

In der ers­ten Rei­he sa­ßen ihre neu­en Kol­le­gen und starr­ten Lö­cher in die Luft. Auf ih­ren Ge­sich­tern ruh­te die Ent­span­nung, wäh­rend Rebeccas Au­gen von Ner­vo­si­tät ge­zeich­net wa­ren. Sie hat­te ge­hofft, dass Ro­bert schon da war. Er hät­te ihr die Kraft ge­ge­ben, die sie jetzt brauch­te, und ih­ren Puls be­ru­higt. Doch er war nicht da.

Mayer stand auf der Tri­bü­ne und fum­mel­te ge­mein­sam mit ei­nem Kol­le­gen am Mi­kro­fon her­um. Rebecca setz­te sich ne­ben eine äl­te­re Kol­le­gin und strich ner­vös über ih­ren Rock. Ihre klatsch­nas­sen Fin­ger rie­ben an­ge­spannt über den Stoff. Ein Blick auf die Uhr. In zehn Mi­nu­ten wür­de die Ein­füh­rung be­gin­nen. Ihre trie­fen­den Hän­de ver­keil­ten sich in­ein­an­der. Rebecca blick­te sich er­neut um. Eine Wand an Ge­sprä­chen drang in ihr Ohr, im­mer wie­der über­tönt durch das Rü­cken von Stüh­len oder das Ra­scheln von Ta­schen. Zwi­schen den vie­len un­be­kann­ten Ge­sich­tern sa­ßen ir­gend­wo Ce­d­ric und Li­nus. Viel­leicht wur­de sie ge­ra­de von ih­nen oder von den Mäd­chen in ih­rem Tu­tor­kurs an­ge­schaut. Lä­cheln, Rebecca. Sie rang sich Freund­lich­keit ab, doch die pri­ckeln­de Ge­spannt­heit ih­rer Ner­ven über­tünch­te schlicht­weg ihre gut ge­mein­ten Vor­sät­ze. Die Mund­win­kel fie­len bei­nah au­to­ma­tisch nach un­ten zu­rück. Da­her dreh­te sich Rebecca weg von der Mas­se der Frem­den und rich­te­te ih­ren Blick starr auf die Büh­ne, auf der Mayer sei­ne Zet­tel sor­tier­te.

»Gu­ten Mor­gen!« Das ers­te be­kann­te Lä­cheln an die­sem Mon­tag­mor­gen. Ro­bert strahl­te sie an. Sicht­lich er­freut, sein wohl­tu­en­des Ge­sicht mit dem schie­fen Mund zu se­hen, grins­te Rebecca ihm ent­ge­gen. »Ich set­ze mich ne­ben dich, wenn das okay ist«, sag­te Ro­bert und nahm den Platz be­reits in An­spruch, noch wäh­rend der Satz sei­ne Lip­pen ver­ließ.

»Auf­ge­regt?«, frag­te er mit­füh­lend und dreh­te sei­nen Kopf zu ihr her­um.

»Und ob«, keuch­te sie an­ge­strengt und fä­chel­te sich Luft mit der Hand zu. Es half nur be­dingt.

»Brauchst du aber nicht zu sein«, be­ru­hig­te Ro­bert. »Der Schul­lei­ter wird grob das neue Schul­jahr vor­stel­len, Mut ma­chen für die an­ste­hen­den Wo­chen und für die Prü­fun­gen im nächs­ten Se­mes­ter. Die neu­en Kol­le­gen wer­den meist gleich nach der Be­grü­ßung vor­ge­stellt. So wie bei der Leh­rer­kon­fe­renz. Du musst nicht auf die Büh­ne ge­hen.«

Sei­ne Wor­te be­sänf­tig­ten Rebeccas ge­spann­te Ner­ven, die kurz vorm Zer­rei­ßen stan­den. Sie dreh­te sich noch ein­mal um und blick­te in die Men­ge der Un­be­kann­ten.

»Tu’s bes­ser nicht«, raun­te ihr Ro­bert zu.

»Was?«

»Dich um­dre­hen. Das macht dich nur noch ner­vö­ser. Du zer­fließt ja jetzt schon vor Auf­re­gung. Ich mer­ke doch, dass du am liebs­ten flüch­ten wür­dest, so auf­ge­kratzt, wie du auf dem Stuhl her­um­rutschst.« Er war ein wirk­lich wach­sa­mer Mensch. Rebecca war gar nicht auf­ge­fal­len, dass sich ihre Bei­ne be­weg­ten. Mal über­kreuzt, mal lang aus­ge­streckt, mal zu Ro­bert ge­neigt, mal nach hin­ten hin an­ge­win­kelt. Doch ihr Kopf konn­te nicht an­ders. Er muss­te sich im­mer­fort um­bli­cken. Als wür­de eine in­ne­re Kraft sie dazu zwin­gen, in die frem­den Ge­sich­ter zu bli­cken.

Un­er­war­tet leg­te sich Ro­berts Hand auf ihr Knie und Rebeccas Kopf schnell­te zu ihm her­um. Mit gro­ßen Au­gen schau­te sie ih­ren Kol­le­gen an. Der aber schien ab­so­lut un­be­ein­druckt von der in­ti­men Ges­te sei­ner Hand zu sein. »Hier­her, Rebecca«, flüs­ter­te er und zog so­gleich sei­ne Hand von ih­rem Knie ab. Er woll­te sie bloß be­ru­hi­gen und ihre Bli­cke nach vorn zwin­gen.

Es schien los­zu­ge­hen, denn Mayer räus­per­te sich ins Mi­kro­fon. Es wur­de sicht­lich lei­ser im Saal.

»Gu­ten Mor­gen!«, schall­te die so­no­re Stim­me des Di­rek­tors durch die Aula und ließ die letz­ten Schwät­zer ver­stum­men. Es folg­te ein mo­ti­vie­ren­des Zi­tat ei­nes Phi­lo­so­phen, das Rebecca so­fort ver­gaß. Sie hör­te kaum den Aus­sa­gen des Schul­lei­ters zu, weil der Druck einen di­cken Klum­pen in ih­rem Hals er­zeug­te und sich schwer auf ihre See­le leg­te. Sie schluck­te ihn hin­un­ter. Das sorg­te nur da­für, dass sich der Kloß in ih­rem Bauch fest­setz­te und als di­cker Bro­cken ihre Ein­ge­wei­de mal­trä­ti­er­te. Am liebs­ten wäre sie auf­ge­sprun­gen und hät­te auf der Stel­le den Raum ver­las­sen. Sie glaub­te, auf ein­mal Durch­fall zu be­kom­men und schleu­nigst auf die Toi­let­te zu müs­sen. Es glu­cker­te und groll­te hör­bar in ih­rem Bauch und Ge­där­men. Der Schweiß rann von ih­rer Stirn, lief an den Schlä­fen hin­ab. Die Hän­de flos­sen weg. Rebeccas Bei­ne wuss­ten nicht mehr, wo sie hin soll­ten. Weg, weg von hier, schri­en sie.

Je mehr Wor­te Mayer ins Mi­kro­fon goss, des­to un­woh­ler fühl­te sich Rebecca in ih­rer Haut. Sie muss­te sich dazu quä­len, auf sei­ne Sät­ze zu hö­ren und nicht auf ih­ren ver­rä­te­rischen Kör­per, der mit Ent­kom­men re­a­gie­ren woll­te. Das ers­te Mal Leh­re­rin nach drei Jah­ren.

»Das neue Schul­jahr bringt uns auch im­mer neue Kol­le­gen.« Mayer wirk­te un­ge­heu­er sou­ve­rän, wie er da vorn an sei­nem Red­ner­pult stand und Herr sei­ner selbst war. Er strahl­te Do­mi­nanz und Be­herr­schung aus. Sein sei­di­ger schwa­r­zer An­zug schim­mer­te im Licht der Büh­nen­be­leuch­tung. Die Schü­ler zoll­ten ihm Ach­tung, denn sei­ne Wor­te brach­ten alle im Saal zum Schwei­gen.

»Ihr wisst, dass Frau Frit­sche im Ba­by­jahr ist. Sie wird ver­tre­ten von Frau Pe­ters.« Mayer rich­te­te sei­nen Blick auf Rebecca und deu­te­te mit ei­ner Hand­be­we­gung an, dass sie auf­ste­hen soll­te. Sie woll­te Stär­ke ausstrah­len, aber ihr Kör­per zwäng­te sich le­dig­lich trä­ge in die Senk­rech­te. Ein flüch­ti­ger Blick, ein kur­z­es Ni­cken über die Köp­fe der An­we­sen­den hin­weg, dann sank Rebecca in ih­ren Stuhl zu­rück. Als wäre sie von ei­nem mehr­stün­di­gen Marsch aus dem Ge­bir­ge wie­der­ge­kom­men. Hat­te sie ge­lä­chelt?

»Frau Pe­ters wird die Tu­to­rin für den Kurs von Frau Frit­sche. Au­ßer­dem über­nimmt sie …« Rebecca war nicht mehr in der Lage, Mayer zu fol­gen. Zu sehr fol­ter­te es sie, dass sie nicht selbst­be­wusst auf­ge­tre­ten war. Die ers­te Stun­de in ih­rem Kurs muss­te un­be­dingt an­ders ab­lau­fen.

Nach an­stren­gen­den zwan­zig Mi­nu­ten be­en­de­te Mayer sei­nen Mo­no­log und entließ die Klas­sen und Kur­se so­wie die Leh­rer in ihre ers­ten ge­mein­sa­men Stun­den. Jetzt muss­ten die or­ga­ni­sa­to­ri­schen Din­ge ge­klärt wer­den. Rebecca woll­te den Schwer­punkt heu­te auf das Ken­nen­ler­nen len­ken.

»Du packst das schon«, lä­chel­te Ro­bert, als Un­ru­he im Saal auf­bran­de­te. Die ers­ten Schü­ler ver­lie­ßen schnat­ternd die Aula und dräng­ten in die Klas­sen­zim­mer. Rebecca blick­te sich scheu nach den Ju­gend­li­chen um, die im­mer zahl­rei­cher als na­men­lo­se Mas­se nach drau­ßen ver­schwan­den.

»Du hast net­te Leu­te in dei­nem Kurs. Die fres­sen dich nicht auf«, be­ru­hig­te Ro­bert. »Wenn du magst, be­glei­te ich dich in dei­nen Raum.« Sein An­ge­bot war lieb ge­meint. Aber wie sähe es aus, wenn der Kol­le­ge sie ab­setz­te wie ein Klein­kind, das in den Kin­der­gar­ten ge­bracht wur­de?

»Dan­ke, ich schaff das al­lein«, sag­te Rebecca. Nicht über­zeu­gend, aber mit der nö­ti­gen Kraft, um ihn zu­frie­den­zu­stel­len.

»Okay. Dann se­hen wir uns in der Früh­stücks­pau­se im Leh­rer­zim­mer?«, hak­te er nach.

Rebecca nö­tig­te sich ein un­si­che­res Kopf­ni­cken ab und ver­ließ mit den letz­ten Ju­gend­li­chen die Aula.

Sie wuss­te, wo sie gleich erst­mals auf ih­ren Kurs tref­fen wür­de. Den Raum hat­te sie aus­ge­kund­schaf­tet, als sie vor ein paar Ta­gen zur Leh­rer­kon­fe­renz er­schie­nen war. Sie woll­te nicht hin. Sie muss­te hin. Dass sie zwei Schü­ler vom Se­hen kann­te, be­schwich­tig­te ei­ner­seits ihr zer­rüt­te­tes Ner­ven­ko­s­tüm. An­de­rer­seits fürch­te­te sie sich vor dem Zu­sam­men­tref­fen. War­um, das wuss­te ihr fla­ckern­der Kör­per wohl selbst nicht ge­nau.

Auf dem Gang war es ru­hig. Die meis­ten Kin­der und Ju­gend­li­chen be­fan­den sich in ih­ren Klas­sen- und Kurs­räu­men. Vie­le Tü­ren wa­ren ge­schlos­sen. Die lau­tes­ten Ge­räu­sche ver­ur­sach­ten ihre Heels, die, Ma­schi­nen­ge­wehr­ku­geln gleich, an den Wän­den des Flurs wi­der­hall­ten. Die Tür zu ih­rem Raum stand of­fen. Ge­mur­mel drang bis auf den Gang hin­aus. Rebecca ver­harr­te in ih­rer Be­we­gung. Ihre At­mung ging ab­ge­hackt und flach. Ein kur­z­es Schlie­ßen der Au­gen brach­te kei­ne Be­ru­hi­gung. Sie strich sich ein letz­tes Mal den Schweiß von der Stirn. Jetzt gab es kein Zu­rück. Der di­cke Klotz in Rebeccas Bauch grum­mel­te ein fins­te­res Lied. Es wäre falsch, sei­ner Me­lo­die zu lau­schen und dem Drang, aus dem Ge­bäu­de zu ver­schwin­den, nach­zu­ge­ben.

Ein tie­fer Atem­zug von der sti­cki­gen Luft des Flu­res, dann presch­te Rebecca in den Kurs­raum hin­ein und flog auf den Lehrer­tisch zu. Sie mein­te, im Ge­hen den Kopf ge­dreht und den Schü­lern eine lei­se Be­grü­ßung durch ihre hoch­ge­zo­ge­nen Mund­win­kel ge­ge­ben zu ha­ben.

Beim Auf­bli­cken zeig­te sie das schöns­te Lä­cheln, das sie sich in die­sem Mo­ment ab­rin­gen konn­te. Ihre Au­gen blie­ben auf den Ge­sich­tern hän­gen. Man­che Mäd­chen de­mon­s­trier­ten of­fen ihre Sym­pa­thie. Wie­der­um an­de­re schau­ten neu­tral nach vorn. Man­che mus­ter­ten Rebecca mit kri­ti­schem Blick. Wel­ches Bild moch­te sie wohl ab­ge­ben? Jetzt, da sie am Lehrer­tisch stand und sich mit ei­ner Hand an der Kan­te fest­krall­te.

Ganz links, auf der letz­ten Bank, sa­ßen Ce­d­ric und Li­nus. Ce­d­rics hüb­sches Ge­sicht konn­te nur glot­zen. Li­nus’ Mund stand of­fen. Sie wuss­ten, wer sie war. So­fort steck­ten bei­de die Köp­fe zu­sam­men und mur­mel­ten sich et­was zu.

»Ich be­grü­ße euch ganz herz­lich«, sag­te Rebecca mit der fes­tes­ten Stim­me, die ihr zur Ver­fü­gung stand. Sie schluck­te einen er­neu­ten Bat­zen Auf­re­gung nach un­ten. »Ich möch­te mich vor­stel­len.« Jetzt lä­chel­te sie. »Mein Name ist Rebecca Pe­ters. Ich wer­de in die­sem Schul­jahr eure Tu­to­rin sein. Au­ßer­dem un­ter­rich­te ich euch im Leis­tungs­kurs Deutsch.« Wie­der ein di­cker Klum­pen im Hals, der ver­schluckt wur­de. »Ich bin et­was auf­ge­regt, wie ihr si­cher se­hen könnt.« Sie lach­te auf, um ihre Hek­tik zu über­spie­len. Man­che Schü­le­rin­nen nick­ten ver­hal­ten. Die Per­son, die die sou­ve­räns­te Hal­tung ausstrah­len soll­te, stand vorn und mach­te al­les an­de­re als einen selbst­si­che­ren Ein­druck.

»Ich bin auch des­we­gen so auf­ge­regt, weil es das ers­te Mal seit Jah­ren ist, dass ich wie­der vor Schü­lern ste­he.« Ge­mur­mel. »Ich bin vor drei Jah­ren in die­se Stadt ge­zo­gen und bin seit­dem nur Mi­ni­jobs und ei­ner An­stel­lung bei ei­ner Zei­tung nach­ge­gan­gen.« Wie­der Ge­tu­schel. »Aber ich bin stu­dier­te Leh­re­rin für Deutsch und Kunst und war an mei­ner letz­ten Schu­le auch als Klas­sen­leh­re­rin tä­tig. Lei­der zwang mich ein Um­zug dazu, mich neu aus­zu­rich­ten.«

Bullshit, Rebecca! Nie­mand soll­te er­fah­ren, was sie wirk­lich hier­her trieb. Die Af­fä­re zu ih­rem ehe­ma­li­gen Schü­ler Elou­an muss­te un­ter al­len Um­stän­den ver­tuscht wer­den. Nie­mals soll­te ihre Ver­gan­gen­heit auf den Tisch kom­men!

»Wenn wir uns bes­ser ken­nen, kön­nen wir gern dar­über spre­chen, wie schwie­rig es ist, ir­gend­wo neu an­zu­fan­gen. Aber heu­te nicht. Heu­te geht es dar­um, dass wir uns ein we­nig ›be­schnup­pern‹.« Rebecca zwang sich zu ei­nem Lä­cheln durch, das ihr nach wie vor schwer­fiel.

»Ich weiß, dass wir nur ein Schul­jahr zu­sam­men ha­ben wer­den. Das reicht viel­leicht ge­ra­de aus, um als Kurs zu­sam­men­zu­wach­sen. Ich möch­te in den kom­men­den Ta­gen mit euch Ein­zel­ge­sprä­che füh­ren. Ich will her­aus­fin­den, was ihr für Men­schen seid, was ihr euch vor­ge­nom­men habt für die­ses Schul­jahr und ich will wis­sen, was ihr mit dem Abi ma­chen wollt. Ich den­ke, dass wir uns vor al­lem wäh­rend der Kurs­fahrt an­nä­hern wer­den.«

Klang das halb­wegs si­cher? Rebecca poch­te mit den Fin­ger­kup­pen auf den Lehrer­tisch. »Okay, dann stellt euch mal vor, da­mit ich euch mit Na­men an­spre­chen kann«, bat sie, setz­te sich hin und er­stell­te einen Sitz­plan. »Gut, be­gin­nen wir bei dir hier vorn.«

Zur Früh­stücks­pau­se ver­ließ Rebecca den Raum und stol­per­te Rich­tung Leh­rer­zim­mer, wo sie hoff­te, auf Ro­bert zu tref­fen. Schon beim Auf­schlie­ßen des Raums pras­sel­te ein laut­star­ker Schwall auf sie ein. Kol­le­gin­nen rann­ten wie auf­ge­scheuch­te Sup­pen­hüh­ner durch das Zim­mer. Ei­ni­ge sa­ßen an den Ti­schen zu­sam­men und aßen ihre mit­ge­brach­ten Früh­stücks­bro­te, wäh­rend sich ei­ner lau­ter als der an­de­re über den ers­ten Schul­tag aus­tausch­te. Auch Ro­bert war mit ei­ner Frau im Ge­spräch ver­sun­ken. Als er Rebecca ent­deck­te, hob er die Hand und wink­te sie her­bei. Als Rebecca am Tisch an­kam, streck­te ihr die äl­te­re Kol­le­gin mit den röt­lich-grau­en Haa­ren die Hand ent­ge­gen und stell­te sich als Sa­bri­na Wink­ler vor, die drit­te Tu­to­rin.

»Und wie war dei­ne ers­te Stun­de im Kurs?«, frag­te sie Rebecca herz­lich. Die neue Kol­le­gin be­saß eine ein­neh­men­de Er­schei­nung. Ihre Sta­tur war sehr kräf­tig. In Kom­bi­na­ti­on mit den kur­z­en Haa­ren wirk­te Sa­bri­na leicht bu­ben­haft. Trotz ih­res re­so­lu­ten Auf­tre­tens er­weck­te sie den Ein­druck, eine Ka­me­ra­din fürs Le­ben zu sein.

»Ich war tie­risch auf­ge­regt«, sag­te Rebecca und ver­senk­te ihre Hand­flä­chen ins Ge­sicht.

»Ach Quatsch!«, rief Sa­bri­na aus und patsch­te ihr auf die Schul­ter. Es war ein ker­ni­ger Hand­schlag. Fast wie bei ei­nem Mann. Auch Sa­bri­nas Stim­me war sehr dun­kel ge­färbt.

»Du hast ganz lie­be Mä­dels drin. Die un­ter­stüt­zen dich bei al­lem, was du mit de­nen vor­hast.«

»Ich habe Rebecca«, schal­te­te sich Ro­bert ins Ge­spräch ein, »schon ge­sagt, dass sie ein­zig Ce­d­ric und Li­nus im Auge be­hal­ten muss.« Aus Sa­bri­nas Mund ent­rang ein keh­li­ges La­chen. Si­cher­lich rauch­te sie schon seit Jah­ren, so me­tal­lisch wie ihre Stimm­la­ge klang.

»Ja, die bei­den sind eine Num­mer für sich«, grien­te Sa­bri­na und ent­blößte ihre gelb­li­chen Zäh­ne.

»Sind mir nicht wei­ter auf­ge­fal­len«, sag­te Rebecca schnell. Tat­säch­lich hat­ten sich die Jungs wäh­rend der Ein­füh­rungs­stun­de be­nom­men. Kei­ner hat ir­gend­ei­nen ko­mi­schen Kom­men­tar ver­lau­ten las­sen. Eine An­spie­lung auf die Dis­co­nacht wäre auch mehr als un­pas­send ge­we­sen.

»Sie ken­nen dich noch nicht«, mein­te Ro­bert und nahm einen Bis­sen von sei­ner Wurst­stul­le. Rebecca be­kam nichts her­un­ter, ob­wohl sie ihre Schnit­te ein­ge­packt mit ins Leh­rer­zim­mer ge­nom­men hat­te. Zu groß war der in­ne­re Bro­cken, den sie seit gut an­dert­halb Stun­den in sich trug.

»So, ich glau­be, wir müs­sen wie­der«, sag­te Sa­bri­na und er­hob sich mit ih­rem gan­zen Ge­wicht vom Stuhl. Mit ei­ner Hand auf der Tisch­kan­te ab­ge­stützt, drück­te sie ih­ren wuch­ti­gen Kör­per nach oben. Dann zwäng­te sie sich an den an­de­ren Kol­le­gen vor­bei, die ihr kei­ne Be­ach­tung schenk­ten. Rebecca be­ob­ach­te­te, wie ihr mas­si­ger Leib beim Ge­hen von ei­ner in die an­de­re Rich­tung schwenk­te. Mit die­sem Aus­se­hen am Sport­gym­na­si­um zu be­ste­hen, war be­stimmt nicht ein­fach. Aber die Kol­le­gin strahl­te die nö­ti­ge Stär­ke aus, die es brauch­te, um als Leh­rer­per­sön­lich­keit ge­ach­tet zu wer­den.

»Wel­che Fä­cher un­ter­rich­tet sie?«, frag­te Rebecca, als Sa­bri­na aus ih­rem Blick­feld ver­schwand.

»Geo­gra­fie«, er­wi­der­te er.

»Nur ein Fach? Dann hat sie si­cher­lich nicht vie­le Stun­den.«

»Man sieht es ihr nicht an, aber bis vor zehn Jah­ren hat Sa­bri­na so­gar Sport un­ter­rich­tet.« Als könn­te er sei­ne Wor­te selbst nicht glau­ben, lach­te Ro­bert nach Be­en­di­gung des Sat­zes laut auf.

»Sa­bri­na ar­bei­tet schon über fünf­zehn Jah­re hier. Ich bin seit acht Jah­ren da­bei. Ich habe sie nie als Sport­leh­re­rin ge­se­hen. Sie hat es mir mal ir­gend­wann ge­sagt, als wir auf Klas­sen­fahrt wa­ren.«

Schon ko­misch, wie sich Men­schen ver­än­dern konn­ten.

»Sie un­ter­rich­tet na­he­zu alle Klas­sen in ih­rem Fach. Ich glau­be über fünf­und­zwan­zig.«

Auf­bruch im Leh­rer­zim­mer. Ro­bert er­hob sich und wünsch­te ihr gu­tes Ge­lin­gen. Rebecca war dank­bar, zwei Kol­le­gen zu ha­ben, die sie un­ter­stütz­ten. Mit die­sem Back­ground konn­te sie ru­hi­gen Ge­wis­sens ins neue Schul­jahr star­ten.

Rebeccas Schüler

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