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Kapitel 2

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Was war das bloß für ein Ge­schnat­ter? Noch schlim­mer als an ih­rer al­ten Schu­le!

Schüch­tern be­trat Rebecca die Aula des Sport­gym­na­si­ums. Hier sah es aus wie in ei­nem rie­si­gen Ki­no­saal. Die Stüh­le wa­ren mit ro­tem Pols­ter be­zo­gen. Eine gi­gan­ti­sche Büh­ne, die an den Rän­dern mit schwe­ren, roséfa­r­be­nen Vor­hän­gen um­säumt war, bot einen im­po­san­ten An­blick. Sie er­kann­te den Schul­lei­ter, der am Steh­pult stand und mit Je­man­dem im Ge­spräch ver­sun­ken war. Da­bei fuch­tel­te er im­mer wie­der mit den Ar­men in der Luft her­um und hielt das Mi­kro­fon zu. Mayer trug einen schwa­r­zen An­zug mit wei­ßem Hemd und hell­blau­er Kra­wat­te. Rebecca hat­te den Di­rek­tor nur bei ih­rem Ein­stel­lungs­ge­spräch ken­nen­ler­nen dür­fen. Sie schätz­te ihn auf Ende fünf­zig, was vor al­lem an sei­ner Glat­ze lag, die durch die Schein­wer­fer der Büh­nen­be­leuch­tung wie eine Bow­ling­ku­gel glänz­te.

Rebecca nahm am Rand der drit­ten Stuhl­rei­he Platz und schau­te sich in­ter­es­siert ihre neu­en Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen an. Sie be­fand sich zwar an ei­ner Sport­s­chu­le, doch die meis­ten der Män­ner und Frau­en, die im­mer zahl­rei­cher in den Saal ström­ten und die Laut­stär­ke da­mit wei­ter an­schwel­len lie­ßen, er­schie­nen ihr nicht be­son­ders trai­niert zu sein. Die Schü­ler wür­den es ohne Zwei­fel sein, denn im­mer­hin stan­den meh­re­re Wo­chen­stun­den Sport im Stun­den­plan.

»Ent­schul­di­gung, darf ich mal?«

Ein Mann, wohl zehn Jah­re äl­ter als sie, zwäng­te sich an ihr vor­bei. In der Mit­te der Stuhl­rei­he an­ge­kom­men, traf er auf einen äl­te­ren Herrn, der ihm ka­me­rad­schaft­lich die Hand reich­te und ihn freu­de­strah­lend be­grüß­te.

Als sich der An­kömm­ling auf sei­nem Stuhl nie­der­ließ und sei­ne Schreib­sa­chen aus­pack­te, warf er einen ver­stoh­le­nen Blick zu Rebecca hin­über und lä­chel­te sie an. Dann dreh­te er sich zu dem äl­te­ren Kol­le­gen um, der ihn in ein Ge­spräch ver­wi­ckel­te.

Sie be­trach­te­te den Mann, der eben an ihr vor­bei­ge­huscht war: Er trug ein grau­es, ka­rier­tes Hemd und eine blaue Jeans. Beim Sit­zen zeich­ne­te sich ein klei­ner Bauch­an­satz ab. Sein rund­li­ches Ge­sicht mit den wei­chen Kon­tu­ren er­in­ner­te Rebecca an das von Paul. Nur dass ihr neu­er Kol­le­ge kur­ze brau­ne Haa­re hat­te und eine Bril­le mit di­cker Um­ran­dung trug. Ir­gend­wie wirk­te der Mann von sei­nen Be­we­gun­gen und von sei­ner Mi­mik her selt­sam un­sym­me­trisch, ohne dass sie sa­gen konn­te, wo­her die­ser Ein­druck rühr­te.

Es war mitt­ler­wei­le kurz vor 9 Uhr und noch im­mer flu­te­ten mas­sen­haft Men­schen die Aula. Das muss­ten lo­cker acht­zig Au­gen­paa­re sein, die Rebecca gleich mit ih­ren neu­gie­ri­gen Bli­cken durch­boh­ren wür­den. Das Ge­plap­per der gut acht­zig Mün­der er­füll­te den Saal. Am liebs­ten hät­te sie sich die Oh­ren zu­ge­hal­ten, weil sie die Laut­stär­ke nicht er­trug. An­de­rer­seits: dass die Schu­le so groß war, wür­de von Vor­teil sein. Hier konn­te sie pro­blem­los in der brei­ten Mas­se un­ter­tau­chen: Her­kom­men, Job er­le­di­gen, Schu­le ver­las­sen. Hier muss­te sie kei­ne Freund­schaft heu­cheln. Ober­fläch­li­che Ge­sprä­che in den Pau­sen wür­den aus­rei­chen, um wahr­ge­nom­men zu wer­den.

Mayer fum­mel­te am Mi­kro­fon her­um, be­vor er sich räus­per­te und die An­we­sen­den freund­lich, fast fei­er­lich be­grüß­te. Die Aula soll­te nur der Um­rah­mung die­nen. Die ei­gent­li­che Leh­rer­kon­fe­renz wur­de an ei­nem an­de­ren Ort ab­ge­hal­ten. Dies re­a­li­sier­te Rebecca, als sie den Ab­lauf­plan für den heu­ti­gen Tag stu­dier­te.

»Ich möch­te Sie, möch­te euch, lie­be Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, recht herz­lich an die­sem ers­ten Tag in der letz­ten Wo­che der Som­mer­fe­ri­en be­grü­ßen. Ich freue mich, dass ich Sie und euch ge­sund wie­der­se­hen darf.« Ap­plaus setz­te ein. Rebecca ließ ih­ren Blick durch den Saal schwe­ben. Die Mehr­zahl der an­we­sen­den Per­so­nen war männ­lich und äl­ter. Im glei­chen Mo­ment schau­te sie der Kol­le­ge, der sich an ihr vor­bei­ge­zwängt hat­te, an und wie­der husch­te ein Lä­cheln um sei­nen Mund.

»Wir dür­fen in die­sem Schul­jahr drei neue Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen be­grü­ßen.«

Rebecca rieb sich die feuch­ten Hän­de an ih­rem Rock ab. Gleich wür­de sie auf­ste­hen müs­sen, denn schon rief Mayer den Ers­ten auf, der sich prompt er­hob und ein­mal wink­te, um sich be­merk­bar zu ma­chen. Mayer gab ein paar Per­so­na­li­en be­kannt, die Rebecca so­fort wie­der ver­gaß, und schau­te da­nach auf das Pult, um sei­ne Un­ter­la­gen zu sor­tie­ren.

»Wir dür­fen als Nächs­tes Rebecca Pe­ters in un­se­rer Run­de will­kom­men hei­ßen.« Mayer zeig­te mit der Hand auf sie. Rebecca stand auf und schau­te sich scheu im Saal um. Nie­man­den wür­dig­te sie län­ger als eine Se­kun­de ei­nes Bli­ckes. Das, was sie wahr­nahm, wa­ren le­dig­lich die über­wie­gend grau me­lier­ten Haa­re der An­we­sen­den. Mehr nicht. Sie wink­te ver­hal­ten, be­vor sie er­mat­tet in den Stuhl zu­rück­fiel. Hof­fent­lich sah das Lä­cheln nicht zu un­si­cher und ver­steift aus.

»Frau Pe­ters wird in die­sem Schul­jahr als Schwan­ger­schafts­ver­tre­tung für Frau Frit­sche ein­sprin­gen. Sie hat bis vor drei Jah­ren als Leh­re­rin für Deutsch und Kunst an ei­ner an­de­ren Schu­le ge­ar­bei­tet.« In­stän­dig hoff­te Rebecca, dass der Schul­lei­ter nie­mals her­aus­be­kam, wie es da­mals dort zu Ende ging! Hof­fent­lich sag­te er nicht, dass sie sich in der Zwi­schen­zeit mit Halb­tags­jobs und Kell­ner­a­r­bei­ten über Was­ser ge­hal­ten hat­te. Wich­tig war nur, dass ihr das Un­ter­rich­ten nach so lan­ger Zeit wie­der ge­lang.

»Frau Pe­ters über­nimmt den Kurs von Frau Frit­sche als Tu­to­rin in Klas­se 12 und wird aus die­sem Grund an der Kurs­fahrt teil­neh­men. Vie­len Dank da­für im Vor­feld«, nick­te ihr Mayer zu. »Frau Pe­ters wird haupt­säch­lich in den obe­ren Klas­sen un­ter­rich­ten und die Leis­tungs­kur­se in Deutsch über­neh­men.«

Dass sie nur we­ni­ge Stun­den da sein wür­de und sich an­sons­ten ab­du­cken konn­te, war der Grund, war­um sie sich über­haupt auf die An­zei­ge als Stütz­leh­re­rin be­wor­ben hat­te. Wenn sie hier Voll­zeit ar­bei­ten ge­hen müss­te, wür­de es wohl wie­der in ei­ner Voll­ka­ta­s­tro­phe en­den und sie end­gül­tig an den Rand ei­nes Bur­nouts trei­ben.

Mayer nick­te ihr wohl­wol­lend zu und lä­chel­te freund­lich, be­vor er dazu über­ging, den nächs­ten neu­en Kol­le­gen vor­zu­stel­len. Rebecca putz­te sich ein wei­te­res Mal die schweiß­nas­sen Hän­de an ih­rem Rock ab. Ihr Herz schlug noch im­mer bis zum An­schlag und eine hei­ße An­span­nung durch­flu­te­te sie.

Nach drei an­stren­gen­den Stun­den en­de­te die ers­te Leh­rer­kon­fe­renz an der neu­en Schu­le und Rebecca konn­te nicht schnell ge­nug aus dem lau­ten Raum flüch­ten. Ihre Schul­ta­sche hing be­reits über der Schul­ter, als sich ihr der Kol­le­ge nä­her­te, der ihr in den Mor­gen­stun­den in der Aula mehr­fach sein Lä­cheln ge­schenkt hat­te. Bis­her war sie jeg­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­on aus dem Weg ge­gan­gen und hat­te nicht vor, heu­te und hier An­schluss zu fin­den. Da­für war schließ­lich das ge­sam­te Schul­jahr Zeit.

»War­ten Sie kurz!«, rief er ihr nach und hol­te mit gro­ßen Schrit­ten auf, vor­bei an den Kol­le­gen, die eben­falls nach drau­ßen stürm­ten. Rebecca war­te­te, um nicht un­höf­lich zu er­schei­nen, hat­te aber kei­ne Lust auf Small­talk.

»Ich bin Ro­bert Kan­ter, der Mit­tu­tor in Klas­se 12.« Er ent­blößte sei­ne Zäh­ne und streck­te ihr sei­ne Hand ent­ge­gen, die sich ver­schwitzt an­fühl­te.

»Rebecca Pe­ters. Schön, Sie ken­nen­zu­ler­nen.«

»Wir du­zen uns hier.«

Sie nick­te.

»Und wer ist noch Tu­tor bei den Zwöl­fern? Nur wir bei­de?«, woll­te Rebecca wis­sen.

»Nein, Sa­bri­na. Aber sie war heu­te nicht da, sonst hät­te ich sie dir vor­ge­stellt.«

Da er nichts sag­te, ent­stand eine un­an­ge­neh­me Pau­se. Ver­le­gen strich sich Ro­bert durch sein vol­les brau­nes Haar.

»Und du un­ter­rich­test Deutsch für Ka­tha­ri­na?«

»Frau Frit­sche? Ja. Aber nur we­ni­ge Stun­den. Bin ja bloß die Ver­tre­tung«, lach­te Rebecca, pein­lich be­rührt von ih­ren dümm­li­chen Wor­ten.

»Was un­ter­rich­ten Sie? Äh du.«

»Ma­the und Phy­sik.« Ir­gend­wie pass­te die­se Fä­cher­kom­bi­na­ti­on zu sei­nem Aus­se­hen, das leicht ab­ge­dreht wirk­te. In­zwi­schen stan­den sie na­he­zu al­lein vor der Tür zum Kon­fe­renz­zim­mer. Nur Mayer und ein paar Mit­glie­der der Schul­lei­tung wa­ren noch drin, um die Tech­nik ab­zu­bau­en.

»Warst du schon im Leh­rer­zim­mer?«, frag­te Ro­bert und Rebecca nick­te aber­mals.

Sie war dort, hat­te sich vor der Leh­rer­kon­fe­renz sämt­li­che Un­ter­la­gen ge­schnappt und sie in ihre Ta­sche ge­stopft. Ein­zig der Stun­den­plan in­ter­es­sier­te sie. Mit den frem­den Na­men auf den Kurs­lis­ten konn­te sie nichts an­fan­gen.

»Gehst du jetzt es­sen?«, frag­te Ro­bert.

»Ich ko­che zu Hau­se.« Auf aus­ufern­de Ge­sprä­che hat­te Rebecca kei­ne Lust. Der Schä­del brumm­te nach dem lan­gen Sit­zen, Zu­hö­ren und Mit­schrei­ben. Sie ver­schränk­te die Arme vor der Brust, weil sie nur noch eins woll­te: schleu­nigst heim.

»Ich gehe zum Chi­ne­sen ne­be­n­an. Komm mit, wenn du magst. Dann kön­nen wir über die Schü­ler in dei­nem Kurs spre­chen.« Soll­te sie sein An­ge­bot ein­fach aus­schla­gen? War es un­höf­lich, jetzt »Nein« zu sa­gen?

»Okay«, gab sie knapp zur Ant­wort.

Rebecca häng­te ihre Ta­sche um und folg­te Ro­bert. Er hum­pel­te ein we­nig. Ihr war auch nicht ent­gan­gen, dass sein Ge­sicht nicht ganz eben­mä­ßig war. Beim Spre­chen hing ein Mund­win­kel von ihm leicht nach un­ten. Bei­nah so, als wäre eine Kör­per­par­tie ge­lähmt. Der ver­schro­be­ne Ge­sichts­aus­druck mach­te ihr ein we­nig Angst.

Das China­re­stau­rant lag nur ein paar Me­ter von der Schu­le ent­fernt. Ob­wohl Ro­bert nicht si­cher lief, be­saß er einen schnel­len Gang. Rebecca hat­te Mühe, sei­nen ra­schen Schrit­ten zu fol­gen.

»Wohnst du schon lan­ge hier?«, griff er das Ge­spräch auf, als sie sich dem Lo­kal nä­her­ten.

»Seit drei Jah­ren.«

»Hört man.« Ro­bert stier­te per­ma­nent beim Ge­hen auf sei­ne Füße, als be­fürch­te­te er, hin­zu­fal­len.

»Wie­so?«

»Dein Di­a­lekt klingt nicht un­be­dingt so, als wür­dest du schon im­mer hier le­ben.«

Er muss­te ja nicht gleich am ers­ten Tag er­fah­ren, dass man ihre Hei­mat erst nach et­li­chen Au­to­stun­den er­reich­te.

In­zwi­schen wa­ren sie am Re­stau­rant an­ge­kom­men. Ro­bert hielt ihr gent­le­m­an­like die Tür auf. Ein schwe­rer Bra­ten­ge­ruch durch­setz­te die Luft. Die Fens­ter lie­ßen nur we­nig Son­nen­licht in die Gast­stät­te, so­dass sie sti­ckig, dumpf und be­klem­mend wirk­te – wie eine her­un­ter­ge­kom­me­ne Spe­lun­ke.

»Gu­ten Tag«, sag­te eine klei­ne, asia­tisch aus­se­hen­de Kell­ne­rin, die Rebecca und Ro­bert am Ein­gang der Gast­stät­te emp­fing. Auf dem Arm trug sie zwei, in ro­ten Samt ein­ge­bun­de­ne Spei­se­kar­ten. Die Be­die­nung ent­sprach ge­nau dem Kli­schee ei­ner Asia­tin mit ih­ren pech­schwa­r­zen, kur­z­en Haa­ren und dem auf­fal­lend rund­li­chen Ge­sicht.

»Einen Tisch für zwei Per­so­nen«, or­der­te Ro­bert.

»Möch­ten Sie drin­nen oder drau­ßen es­sen?«, frag­te die Kell­ne­rin mit fast me­lo­di­schem Klang.

»Wol­len wir drau­ßen sit­zen?«, wand­te sich Ro­bert an Rebecca, die mit ei­nem Kopf­ni­cken be­jah­te.

Die Be­die­nung voll­führ­te eine ein­la­den­de Hand­be­we­gung und ge­lei­te­te sie hin­aus ins Freie. Im Hin­ter­hof des Re­stau­rants wa­ren Ti­sche aus Me­tall auf­ge­stellt. Die Stüh­le be­sa­ßen einen ein­heit­li­chen Grau­ton, der we­nig ge­fäl­lig wirk­te. Im­mer­hin sorg­ten grü­ne Son­nen­schir­me und asia­ti­sche De­ko­ra­ti­on für den nö­ti­gen Char­me. Ir­gend­wo muss­ten sich Bam­bus­höl­zer be­fin­den, die ge­gen­ein­an­der schlu­gen und einen hoh­len Klang ver­brei­te­ten, der har­mo­nisch ins Ohr ging.

Rebecca und Ro­bert er­hiel­ten einen schat­ti­gen Platz ne­ben ei­ner mit­tel­gro­ßen Bud­dha­s­ta­tue zu­ge­wie­sen. Das brei­te Lä­cheln zeig­te ex­akt auf Rebecca.

»Du musst über sei­nen di­cken Bauch strei­cheln. Das bringt Glück«, flö­te­te Ro­bert, der ähn­lich breit grins­te wie die Skulp­tur.

Rebecca zog bei­de Au­gen­brau­en nach oben. »Wer weiß, wer den schon al­les an­ge­fasst hat.«

»Dann eben kein Glück«, sag­te Ro­bert. Sei­ne strah­len­den Zäh­ne bil­de­ten einen auf­fal­len­den Kon­trast du sei­nem schie­fen Mund. Rebecca ver­kniff sich, ihn auf sei­ne Läh­mungs­er­schei­nun­gen an­zu­spre­chen. So et­was ge­hör­te sich ih­rer Mei­nung nach nicht gleich am ers­ten Tag des Ken­nen­ler­nens. Si­cher­lich wür­de er ihr das ir­gend­wann in ei­nem spä­te­ren Ge­spräch an­ver­trau­en.

Nach ei­ni­gen Mi­nu­ten er­schien die Kell­ne­rin er­neut. »Ha­ben Sie schon ein Ge­tränk ge­wählt?«

»Ich neh­me einen Sekt«, spru­del­te es aus Rebecca her­aus.

»Ich be­kom­me ein Rad­ler«, sag­te er höf­lich und die Be­die­nung stie­fel­te von dan­nen.

Rebecca nahm sich die Kar­te zur Hand und such­te nach ei­nem Ge­richt.

»Die En­ten­brust ist ganz gut«, ver­si­cher­te Ro­bert, als er be­merk­te, dass sie stän­dig in der Kar­te vor- und zu­rück­blät­ter­te.

»Gehst du hier öf­ter es­sen?«, frag­te sie, ohne das Ge­sicht von der Kar­te zu neh­men.

»Ich kom­me hin und wie­der mit Kol­le­gen her. Mit mei­ner Fa­mi­lie bin ich auch manch­mal hier.«

Rebecca über­leg­te, ob es zu un­ver­schämt war, ihn über den In­halt sei­nes letz­ten Sat­zes aus­zu­quet­schen. Sie schwieg und biss sich auf die Un­ter­lip­pe.

»Na gut, dann neh­me ich die Ente«, sag­te sie.

Ro­bert blies an­ge­hei­tert Luft durch die Nase aus und blick­te amü­siert in die Kar­te.

»Was ist?«, woll­te Rebecca wis­sen. »War­um lachst du?«

»Ich dach­te, du fragst mich jetzt nach mei­ner Fa­mi­lie.«

Er hat­te also ihr Zö­gern be­merkt. Ro­bert schien ein sehr auf­merk­sa­mer Mensch zu sein.

Be­vor Rebecca et­was er­wi­dern konn­te, hielt die Kell­ne­rin mit schnel­len Schrit­ten auf ih­ren Tisch zu. Auf dem Ta­blett trug sie zwei Glä­ser, an de­nen Was­ser­trop­fen ab­perl­ten. Sie be­stell­ten ihr Ge­richt und sa­hen der Be­die­nung hin­ter­her, die ge­nau­so schnell ver­schwand, wie sie ge­kom­men war.

Ver­lo­ckend pri­ckel­te der gold­gel­be Sekt im Glas, das vor Rebecca stand. Sie setz­te das köst­lich kal­te Ge­tränk an ih­ren Mund an. Schon be­netz­te der Spru­del ihre Lip­pen, noch be­vor sie dar­aus trank. Eine fruch­ti­ge Süße nach Pfir­sich lieb­kos­te ihre Nase. Sie ge­noss die­se klei­nen Mo­men­te des Le­bens. Der ers­te Schluck war be­le­bend und zog zi­schend ihre Keh­le hin­un­ter.

Ohne dass Rebecca nach­frag­te, griff Ro­bert den Ge­sprächs­fet­zen von eben auf: »Ich bin ver­hei­ra­tet. Habe zwei Söh­ne, elf und neun. Und du?«

»Ich habe kei­ne Kin­der«, er­wi­der­te Rebecca.

»Bist du ver­hei­ra­tet oder hast du einen Part­ner?«

Rebecca schüt­tel­te den Kopf. Ohne ih­rer Mi­mik an­mer­ken zu las­sen, wie sie über ih­ren Be­zie­hungs­sta­tus dach­te, fass­te sie zu­sam­men: »Be­vor ich vor drei Jah­ren hier­her ge­zo­gen bin, habe ich mit ei­nem Mann zu­sam­men­ge­lebt. Gute acht Jah­re lang. Seit­dem gab es nichts Fes­tes mehr.«

Ro­berts stahl­graue Au­gen ver­fins­ter­ten sich. Fa­mi­li­en­mensch durch und durch, dach­te Rebecca.

»Du brauchst kein Mit­leid mit mir zu ha­ben«, gab sie schnell zu­rück, als sie re­gis­trier­te, dass Ro­berts un­be­schwer­te Mie­ne von eben durch ihre Wor­te gänz­lich ver­schwun­den war. »Wir ha­ben uns ein­ver­nehm­lich ge­trennt. Es gab ein paar … Pro­ble­me.«

Du bist fremd­ge­gan­gen, Rebecca. Nun gut. Ihr Sei­ten­sprung mit ih­rem Schü­ler war schuld. Nach­dem Paul die Wahr­heit ver­daut hat­te, war schnell klar, dass es kei­ne Zu­kunft mit ihm ge­ben wür­de. Die Part­ner­schaft stand schon vor ih­rer Af­fä­re auf der Kip­pe. Zum Ein­sturz ge­bracht hat­te sie letzt­lich ihre Un­fä­hig­keit, mit Paul über ihre Ge­füh­le re­den zu kön­nen. Heu­te wünsch­te sie, sie hät­te sich eher ge­traut, ihm zu ge­ste­hen, wie un­g­lü­ck­lich sie die lieb­lo­se Part­ner­schaft ge­macht hat­te. Die Jah­re mit Paul wa­ren si­cher­lich nicht ver­geu­det, aber herz- und freud­los.

Nie wie­der woll­te sie es so weit kom­men las­sen, sich ihre Ge­füh­le nicht ein­zu­ge­ste­hen und in ei­ner Part­ner­schaft zu en­den, die nur Still­stand kann­te. Nun galt es zu le­ben, mit je­der Fa­ser des Kör­pers und der See­le den Mo­ment zu ge­ni­e­ßen. Nur noch das Hier und Jetzt soll­te zäh­len.

»Lass uns über die Schü­ler spre­chen, die ich be­kom­me«, schlug sie vor, um nicht mehr an ih­ren Ex und an die ver­lo­re­ne Lie­be zu ih­rem Schü­ler den­ken zu müs­sen.

»Lass uns erst mal es­sen«, mach­te Ro­bert den Ge­gen­vor­schlag, als er sah, dass die Mahl­zeit ser­viert wur­de. Die Be­die­nung stell­te den Tel­ler mit der damp­fen­den En­ten­brust auf eine Warm­hal­te­plat­te. Dann lief sie da­von und brach­te als Nächs­tes den Reis in klei­nen, weiß-blau­en Por­zel­lan­schäl­chen her­bei.

Rebecca nahm sich et­was von dem ver­füh­re­risch duf­ten­den Fleisch auf ih­ren Tel­ler. Da­ne­ben sta­pel­te sie eine or­dent­li­che Por­ti­on von dem Kle­be­reis, der sich schwer vom Por­zel­lan­löf­fel lös­te. Wie Kleis­ter hing er dar­an. Ro­bert schau­fel­te sich ähn­lich viel da­von auf sei­nen Tel­ler drauf.

Es schmeck­te in der Tat sehr ap­pe­tit­lich. Ihr neu­er Kol­le­ge hat­te nicht über­trie­ben.

»Kennst du mei­ne Schü­ler, die ich be­kom­me?«, frag­te Rebecca kau­end.

Ro­bert schluck­te sei­nen Bis­sen hin­un­ter und sag­te: »Ich bin vie­le Jah­re lang Klas­sen­leh­rer in die­ser Jahr­gangs­stu­fe ge­we­sen. Ich ken­ne alle Schü­ler sehr gut. Als Tu­tor muss man sich na­tür­lich noch mal ganz an­ders um sie küm­mern. Man be­glei­tet sie bis zum Ab­itur, steht ih­nen sehr nahe.«

Rebeccas Er­fah­rung ging bis­her nicht über die ei­ner Klas­sen­leh­re­rin hin­aus. Dass sie in die­ser Ver­ant­wor­tung nicht er­folg­reich war, weil sie kei­nen Draht zu den Kin­dern auf­bau­en konn­te, ver­schwieg sie. Tu­to­rin zu sein, stell­te für sie eine gänz­lich neue Her­aus­for­de­rung dar. Nun muss­te sie be­wei­sen, dass sie Em­pa­thie be­saß und fä­hig dazu war, die Schü­ler zu Stu­die­ren­den zu ma­chen.

»Mein Leis­tungs­kurs in Deutsch wird mein Tu­tor­kurs«, sag­te Rebecca. »Ich möch­te nicht nur un­ter­rich­ten, son­dern die Schü­ler ken­nen­ler­nen.« Das Ziel muss­te dies­mal kon­se­quent ver­folgt wer­den, um von vorn­her­ein Kom­pli­ka­ti­o­nen mit den Ju­gend­li­chen aus­zu­schlie­ßen.

Ro­bert nick­te und schob sich einen Hap­pen von der En­ten­brust in den Mund, ge­nau wie Rebecca.

»Aber du hast Glück mit dei­nen Leu­ten«, ant­wor­te­te er und lä­chel­te sie mit sei­nen di­cken Wan­gen an. Sei­ne Kie­fer­mus­ku­la­tur wirk­te beim Kau­en noch ver­scho­be­ner.

»Du hast nur zwölf Schü­ler in dei­nem Kurs. Zehn Mäd­chen und zwei Jungs. Aber die ha­ben es in sich«, deu­te­te Ro­bert ver­schwö­re­risch an und schau­te von sei­nem Ge­richt auf. Sein schel­mi­sches Grin­sen ver­stell­te sei­nen oh­ne­hin schie­fen Mund.

»Du meinst, die Jungs ha­ben es in sich?«, woll­te Rebecca wis­sen.

Ro­bert schnitt mit der Ga­bel ein Stück En­ten­brust ab, be­vor er tief ein­at­mend sag­te: »Ich war der Klas­sen­leh­rer von Ce­d­ric und Li­nus und rate dir, ein Auge auf die bei­den zu ha­ben.«

Krach!!! Die Ga­bel kam schep­pernd auf dem Por­zel­lan­tel­ler auf.

Die bei­den Ker­le aus der Dis­co wür­den ihre neu­en Schü­ler sein?!

»Was ist los?«, frag­te Ro­bert, sicht­lich er­schro­cken von dem lau­ten Ge­räusch, den das Me­tall ver­ur­sacht hat­te.

»Nichts. Mir ist die Ga­bel aus der Hand ge­fal­len«, be­kräf­tig­te Rebecca, die Mühe da­mit hat­te, den di­cken Klum­pen En­ten­brust, der sich in ihre Luft­röh­re ver­irrt hat­te, nach oben zu wür­gen. Has­tig er­griff sie das Sekt­glas und leer­te es in we­ni­gen Zü­gen.

»Ce­d­ric vor al­lem soll­test du im Blick be­hal­ten.« Das Ge­burts­tags­kind aus der Dis­co­thek, er­gänz­te Rebecca im Geist. »Ziem­li­cher Drauf­gän­ger. Macht im­mer einen auf cool, tanzt schnell aus der Rei­he. Weiß nicht, ob er sich in­zwi­schen mehr von Er­wach­se­nen sa­gen lässt. In der Un­ter­stu­fe je­den­falls war er nicht sehr ko­ope­ra­tiv.« Sei­ne Wor­te wa­ren sehr auf­schluss­reich. »Ce­d­ric hat nicht viel auf dem Kas­ten. Der wird Mühe ha­ben, über­haupt zum Abi zu­ge­las­sen zu wer­den. Wenn er Pech hat, ver­geigt er das ers­te Halb­jahr, dann kann er sei­ne Zu­las­sung zur Prü­fung ver­ges­sen.«

Rebecca hör­te ih­rem neu­en Kol­le­gen auf­merk­sam zu, saug­te jede In­for­ma­ti­on, die sie er­hielt, ein.

»Und der Zwei­te?«, frag­te sie in­ter­es­siert nach, nach­dem Ro­bert nichts mehr über Ce­d­ric sag­te.

»Li­nus ist ein Jahr äl­ter als die an­de­ren. Er kam in der zehn­ten Klas­se an die Schu­le. Hat sei­nen Re­al­schul­ab­schluss in der Ta­sche und will jetzt das Ab­itur ma­chen. Ja …«, brach Ro­bert sei­nen Satz ab und kau­te am Reis her­um.

»Li­nus ist an­ders. Wirst du se­hen. Biss­chen schüch­tern, in sich ge­kehrt. Als er in der zehn­ten Klas­se zu uns stieß, war Ce­d­ric der­je­ni­ge, der ihn in die Au­ßen­sei­ter­rol­le ge­drängt hat.«

Wie­der beließ es Ro­bert bei An­deu­tun­gen, weil er auf­hör­te, wei­ter­zu­spre­chen. Statt­des­sen schob er sich das Ge­mü­se in den Mund.

»Lern’ sie erst mal ken­nen. Wir ha­ben in Klas­se 11 mit je­dem Schü­ler Ein­zel­ge­sprä­che ge­führt.«

»Wozu?«, woll­te Rebecca wis­sen.

»Wenn du als Tu­tor ar­bei­test, soll­test du dei­ne Schü­ler sehr ge­nau ken­nen. Du musst wis­sen, wo­mit sie Pro­ble­me ha­ben, was sie in ih­rer Frei­zeit ma­chen, wie sie an Haus­auf­ga­ben her­an­ge­hen, wie sie mit Stress um­ge­hen. Au­ßer­dem ist es gut zu wis­sen, was sie nach dem Abi ma­chen wol­len, um ih­nen die nö­ti­ge Mo­ti­va­ti­on zu ge­ben, an ih­rem Traum zu ar­bei­ten. Es schafft eine ganz an­de­re At­mo­sphä­re, wenn du dei­ne Schü­ler im Vor­feld ken­nen­lernst. Glaub mir, das ma­che ich schon seit vie­len Jah­ren so, wenn ich in der Ober­stu­fe ein­ge­setzt bin.«

Sol­che Er­kennt­nis­se wa­ren voll­kom­men neu für Rebecca. Ein­zel­ge­sprä­che. Aber so schloss sie von vorn­her­ein Pro­ble­me aus und stell­te einen per­sön­li­chen Draht zu den Schü­lern her.

»Nutz’ die Kurs­fahrt da­für«, durch­brach Ro­bert ihre Ge­dan­ken.

»Kann ich euch hel­fen? Ist noch was zu er­le­di­gen?«

»Eine Wo­che vor der Kurs­fahrt füh­ren wir einen El­tern­abend durch. Da soll­test du auf je­den Fall an­we­send sein. Be­rei­te ein­fach einen Zet­tel mit der Ein­la­dung vor, mehr brauchst du nicht zu tun. Auf dem El­tern­abend er­fährst du dann al­les über die Fahrt. Ach so, und wir wol­len dich dort na­tür­lich als neue Tu­to­rin vor­stel­len«, grins­te Ro­bert und kratz­te das Ge­mü­se von sei­nem Tel­ler.

Das hat­te Rebecca be­fürch­tet. Noch mehr Men­schen­mas­sen, die sie mus­ter­ten.

»War­um fah­ren wir ei­gent­lich so zei­tig im Schul­jahr?«, woll­te sie wis­sen. »Nor­ma­le­r­wei­se fin­den doch Klas­sen­fahr­ten im Früh­jahr und Som­mer statt, oder?«

»Ja, das stimmt. Die Ab­itu­ri­en­ten sol­len aber den Kopf frei ha­ben für die Prü­fun­gen, die im Früh­ling und Som­mer statt­fin­den. Da­her nut­zen wir den Be­ginn des Schul­jah­res zur Ab­schluss­fahrt. Au­ßer­dem be­kommt man leich­ter eine Un­ter­kunft, wenn man au­ßer­halb der Sai­son fährt.«

Ro­bert wisch­te sich den Mund ab und leg­te die Ser­vi­et­te bei­sei­te. Auch Rebecca war papp­satt. Vom Es­sen und von den In­fos.

Nach an­dert­halb Stun­den ver­lie­ßen Ro­bert und Rebecca mit vol­len Mä­gen das Re­stau­rant.

»Wir se­hen uns am Mon­tag!«, ver­ab­schie­de­te sich der neue Kol­le­ge fröh­lich und stie­fel­te in ent­ge­gen­ge­setz­ter Rich­tung nach Hau­se.

Rebeccas Woh­nung lag nicht weit ent­fernt von der Gast­stät­te und ih­rer neu­en Schu­le, so­dass sie lau­fen konn­te. Bei ih­rer al­ten Ar­beits­s­tät­te hat­te sie stets das Auto neh­men müs­sen. Wie prak­tisch, gleich in der Nach­bar­schaft zu woh­nen.

Die kom­men­den frei­en Tage nutz­te Rebecca, um akri­bisch die Stun­den vor­zu­be­rei­ten, die sie in der nächs­ten Wo­che er­war­ten wür­den. Sie hat­te an ih­rem ers­ten Tag einen de­tail­lier­ten Plan er­hal­ten, wie weit die schwan­ge­re Kol­le­gin mit ih­ren Lern­grup­pen ge­kom­men war. Ob­wohl ihr letz­ter Un­ter­richt ei­ni­ge Jah­re zu­rück­lag, konn­te sie die feh­len­den Lern­in­hal­te gut her­lei­ten.

Nach­dem Ro­bert ihr von den Schü­lern er­zählt hat­te, stu­dier­te Rebecca die Klas­sen- be­zie­hungs­wei­se Kurs­lis­ten. Den Leis­tungs­kurs in Klas­se 12, ih­ren Tu­tor­kurs, wür­de sie fünf­mal in der Wo­che zu Ge­sicht be­kom­men.

Sie über­flog die Na­men.

Nächs­te Wo­che wür­de sie wis­sen, mit wem sie es zu tun hat­te. Wenn sie wirk­lich Ein­zel­ge­sprä­che mit den Schü­lern füh­ren soll­te, war sie schon jetzt auf die letz­ten bei­den Na­men auf ih­rer Lis­te ge­spannt. Li­nus Voigt. ­Ce­d­ric Wei­se.

Rebeccas Schüler

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