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Kapitel 2
ОглавлениеWas war das bloß für ein Geschnatter? Noch schlimmer als an ihrer alten Schule!
Schüchtern betrat Rebecca die Aula des Sportgymnasiums. Hier sah es aus wie in einem riesigen Kinosaal. Die Stühle waren mit rotem Polster bezogen. Eine gigantische Bühne, die an den Rändern mit schweren, roséfarbenen Vorhängen umsäumt war, bot einen imposanten Anblick. Sie erkannte den Schulleiter, der am Stehpult stand und mit Jemandem im Gespräch versunken war. Dabei fuchtelte er immer wieder mit den Armen in der Luft herum und hielt das Mikrofon zu. Mayer trug einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und hellblauer Krawatte. Rebecca hatte den Direktor nur bei ihrem Einstellungsgespräch kennenlernen dürfen. Sie schätzte ihn auf Ende fünfzig, was vor allem an seiner Glatze lag, die durch die Scheinwerfer der Bühnenbeleuchtung wie eine Bowlingkugel glänzte.
Rebecca nahm am Rand der dritten Stuhlreihe Platz und schaute sich interessiert ihre neuen Kolleginnen und Kollegen an. Sie befand sich zwar an einer Sportschule, doch die meisten der Männer und Frauen, die immer zahlreicher in den Saal strömten und die Lautstärke damit weiter anschwellen ließen, erschienen ihr nicht besonders trainiert zu sein. Die Schüler würden es ohne Zweifel sein, denn immerhin standen mehrere Wochenstunden Sport im Stundenplan.
»Entschuldigung, darf ich mal?«
Ein Mann, wohl zehn Jahre älter als sie, zwängte sich an ihr vorbei. In der Mitte der Stuhlreihe angekommen, traf er auf einen älteren Herrn, der ihm kameradschaftlich die Hand reichte und ihn freudestrahlend begrüßte.
Als sich der Ankömmling auf seinem Stuhl niederließ und seine Schreibsachen auspackte, warf er einen verstohlenen Blick zu Rebecca hinüber und lächelte sie an. Dann drehte er sich zu dem älteren Kollegen um, der ihn in ein Gespräch verwickelte.
Sie betrachtete den Mann, der eben an ihr vorbeigehuscht war: Er trug ein graues, kariertes Hemd und eine blaue Jeans. Beim Sitzen zeichnete sich ein kleiner Bauchansatz ab. Sein rundliches Gesicht mit den weichen Konturen erinnerte Rebecca an das von Paul. Nur dass ihr neuer Kollege kurze braune Haare hatte und eine Brille mit dicker Umrandung trug. Irgendwie wirkte der Mann von seinen Bewegungen und von seiner Mimik her seltsam unsymmetrisch, ohne dass sie sagen konnte, woher dieser Eindruck rührte.
Es war mittlerweile kurz vor 9 Uhr und noch immer fluteten massenhaft Menschen die Aula. Das mussten locker achtzig Augenpaare sein, die Rebecca gleich mit ihren neugierigen Blicken durchbohren würden. Das Geplapper der gut achtzig Münder erfüllte den Saal. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten, weil sie die Lautstärke nicht ertrug. Andererseits: dass die Schule so groß war, würde von Vorteil sein. Hier konnte sie problemlos in der breiten Masse untertauchen: Herkommen, Job erledigen, Schule verlassen. Hier musste sie keine Freundschaft heucheln. Oberflächliche Gespräche in den Pausen würden ausreichen, um wahrgenommen zu werden.
Mayer fummelte am Mikrofon herum, bevor er sich räusperte und die Anwesenden freundlich, fast feierlich begrüßte. Die Aula sollte nur der Umrahmung dienen. Die eigentliche Lehrerkonferenz wurde an einem anderen Ort abgehalten. Dies realisierte Rebecca, als sie den Ablaufplan für den heutigen Tag studierte.
»Ich möchte Sie, möchte euch, liebe Kolleginnen und Kollegen, recht herzlich an diesem ersten Tag in der letzten Woche der Sommerferien begrüßen. Ich freue mich, dass ich Sie und euch gesund wiedersehen darf.« Applaus setzte ein. Rebecca ließ ihren Blick durch den Saal schweben. Die Mehrzahl der anwesenden Personen war männlich und älter. Im gleichen Moment schaute sie der Kollege, der sich an ihr vorbeigezwängt hatte, an und wieder huschte ein Lächeln um seinen Mund.
»Wir dürfen in diesem Schuljahr drei neue Kolleginnen und Kollegen begrüßen.«
Rebecca rieb sich die feuchten Hände an ihrem Rock ab. Gleich würde sie aufstehen müssen, denn schon rief Mayer den Ersten auf, der sich prompt erhob und einmal winkte, um sich bemerkbar zu machen. Mayer gab ein paar Personalien bekannt, die Rebecca sofort wieder vergaß, und schaute danach auf das Pult, um seine Unterlagen zu sortieren.
»Wir dürfen als Nächstes Rebecca Peters in unserer Runde willkommen heißen.« Mayer zeigte mit der Hand auf sie. Rebecca stand auf und schaute sich scheu im Saal um. Niemanden würdigte sie länger als eine Sekunde eines Blickes. Das, was sie wahrnahm, waren lediglich die überwiegend grau melierten Haare der Anwesenden. Mehr nicht. Sie winkte verhalten, bevor sie ermattet in den Stuhl zurückfiel. Hoffentlich sah das Lächeln nicht zu unsicher und versteift aus.
»Frau Peters wird in diesem Schuljahr als Schwangerschaftsvertretung für Frau Fritsche einspringen. Sie hat bis vor drei Jahren als Lehrerin für Deutsch und Kunst an einer anderen Schule gearbeitet.« Inständig hoffte Rebecca, dass der Schulleiter niemals herausbekam, wie es damals dort zu Ende ging! Hoffentlich sagte er nicht, dass sie sich in der Zwischenzeit mit Halbtagsjobs und Kellnerarbeiten über Wasser gehalten hatte. Wichtig war nur, dass ihr das Unterrichten nach so langer Zeit wieder gelang.
»Frau Peters übernimmt den Kurs von Frau Fritsche als Tutorin in Klasse 12 und wird aus diesem Grund an der Kursfahrt teilnehmen. Vielen Dank dafür im Vorfeld«, nickte ihr Mayer zu. »Frau Peters wird hauptsächlich in den oberen Klassen unterrichten und die Leistungskurse in Deutsch übernehmen.«
Dass sie nur wenige Stunden da sein würde und sich ansonsten abducken konnte, war der Grund, warum sie sich überhaupt auf die Anzeige als Stützlehrerin beworben hatte. Wenn sie hier Vollzeit arbeiten gehen müsste, würde es wohl wieder in einer Vollkatastrophe enden und sie endgültig an den Rand eines Burnouts treiben.
Mayer nickte ihr wohlwollend zu und lächelte freundlich, bevor er dazu überging, den nächsten neuen Kollegen vorzustellen. Rebecca putzte sich ein weiteres Mal die schweißnassen Hände an ihrem Rock ab. Ihr Herz schlug noch immer bis zum Anschlag und eine heiße Anspannung durchflutete sie.
Nach drei anstrengenden Stunden endete die erste Lehrerkonferenz an der neuen Schule und Rebecca konnte nicht schnell genug aus dem lauten Raum flüchten. Ihre Schultasche hing bereits über der Schulter, als sich ihr der Kollege näherte, der ihr in den Morgenstunden in der Aula mehrfach sein Lächeln geschenkt hatte. Bisher war sie jeglicher Kommunikation aus dem Weg gegangen und hatte nicht vor, heute und hier Anschluss zu finden. Dafür war schließlich das gesamte Schuljahr Zeit.
»Warten Sie kurz!«, rief er ihr nach und holte mit großen Schritten auf, vorbei an den Kollegen, die ebenfalls nach draußen stürmten. Rebecca wartete, um nicht unhöflich zu erscheinen, hatte aber keine Lust auf Smalltalk.
»Ich bin Robert Kanter, der Mittutor in Klasse 12.« Er entblößte seine Zähne und streckte ihr seine Hand entgegen, die sich verschwitzt anfühlte.
»Rebecca Peters. Schön, Sie kennenzulernen.«
»Wir duzen uns hier.«
Sie nickte.
»Und wer ist noch Tutor bei den Zwölfern? Nur wir beide?«, wollte Rebecca wissen.
»Nein, Sabrina. Aber sie war heute nicht da, sonst hätte ich sie dir vorgestellt.«
Da er nichts sagte, entstand eine unangenehme Pause. Verlegen strich sich Robert durch sein volles braunes Haar.
»Und du unterrichtest Deutsch für Katharina?«
»Frau Fritsche? Ja. Aber nur wenige Stunden. Bin ja bloß die Vertretung«, lachte Rebecca, peinlich berührt von ihren dümmlichen Worten.
»Was unterrichten Sie? Äh du.«
»Mathe und Physik.« Irgendwie passte diese Fächerkombination zu seinem Aussehen, das leicht abgedreht wirkte. Inzwischen standen sie nahezu allein vor der Tür zum Konferenzzimmer. Nur Mayer und ein paar Mitglieder der Schulleitung waren noch drin, um die Technik abzubauen.
»Warst du schon im Lehrerzimmer?«, fragte Robert und Rebecca nickte abermals.
Sie war dort, hatte sich vor der Lehrerkonferenz sämtliche Unterlagen geschnappt und sie in ihre Tasche gestopft. Einzig der Stundenplan interessierte sie. Mit den fremden Namen auf den Kurslisten konnte sie nichts anfangen.
»Gehst du jetzt essen?«, fragte Robert.
»Ich koche zu Hause.« Auf ausufernde Gespräche hatte Rebecca keine Lust. Der Schädel brummte nach dem langen Sitzen, Zuhören und Mitschreiben. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, weil sie nur noch eins wollte: schleunigst heim.
»Ich gehe zum Chinesen nebenan. Komm mit, wenn du magst. Dann können wir über die Schüler in deinem Kurs sprechen.« Sollte sie sein Angebot einfach ausschlagen? War es unhöflich, jetzt »Nein« zu sagen?
»Okay«, gab sie knapp zur Antwort.
Rebecca hängte ihre Tasche um und folgte Robert. Er humpelte ein wenig. Ihr war auch nicht entgangen, dass sein Gesicht nicht ganz ebenmäßig war. Beim Sprechen hing ein Mundwinkel von ihm leicht nach unten. Beinah so, als wäre eine Körperpartie gelähmt. Der verschrobene Gesichtsausdruck machte ihr ein wenig Angst.
Das Chinarestaurant lag nur ein paar Meter von der Schule entfernt. Obwohl Robert nicht sicher lief, besaß er einen schnellen Gang. Rebecca hatte Mühe, seinen raschen Schritten zu folgen.
»Wohnst du schon lange hier?«, griff er das Gespräch auf, als sie sich dem Lokal näherten.
»Seit drei Jahren.«
»Hört man.« Robert stierte permanent beim Gehen auf seine Füße, als befürchtete er, hinzufallen.
»Wieso?«
»Dein Dialekt klingt nicht unbedingt so, als würdest du schon immer hier leben.«
Er musste ja nicht gleich am ersten Tag erfahren, dass man ihre Heimat erst nach etlichen Autostunden erreichte.
Inzwischen waren sie am Restaurant angekommen. Robert hielt ihr gentlemanlike die Tür auf. Ein schwerer Bratengeruch durchsetzte die Luft. Die Fenster ließen nur wenig Sonnenlicht in die Gaststätte, sodass sie stickig, dumpf und beklemmend wirkte – wie eine heruntergekommene Spelunke.
»Guten Tag«, sagte eine kleine, asiatisch aussehende Kellnerin, die Rebecca und Robert am Eingang der Gaststätte empfing. Auf dem Arm trug sie zwei, in roten Samt eingebundene Speisekarten. Die Bedienung entsprach genau dem Klischee einer Asiatin mit ihren pechschwarzen, kurzen Haaren und dem auffallend rundlichen Gesicht.
»Einen Tisch für zwei Personen«, orderte Robert.
»Möchten Sie drinnen oder draußen essen?«, fragte die Kellnerin mit fast melodischem Klang.
»Wollen wir draußen sitzen?«, wandte sich Robert an Rebecca, die mit einem Kopfnicken bejahte.
Die Bedienung vollführte eine einladende Handbewegung und geleitete sie hinaus ins Freie. Im Hinterhof des Restaurants waren Tische aus Metall aufgestellt. Die Stühle besaßen einen einheitlichen Grauton, der wenig gefällig wirkte. Immerhin sorgten grüne Sonnenschirme und asiatische Dekoration für den nötigen Charme. Irgendwo mussten sich Bambushölzer befinden, die gegeneinander schlugen und einen hohlen Klang verbreiteten, der harmonisch ins Ohr ging.
Rebecca und Robert erhielten einen schattigen Platz neben einer mittelgroßen Buddhastatue zugewiesen. Das breite Lächeln zeigte exakt auf Rebecca.
»Du musst über seinen dicken Bauch streicheln. Das bringt Glück«, flötete Robert, der ähnlich breit grinste wie die Skulptur.
Rebecca zog beide Augenbrauen nach oben. »Wer weiß, wer den schon alles angefasst hat.«
»Dann eben kein Glück«, sagte Robert. Seine strahlenden Zähne bildeten einen auffallenden Kontrast du seinem schiefen Mund. Rebecca verkniff sich, ihn auf seine Lähmungserscheinungen anzusprechen. So etwas gehörte sich ihrer Meinung nach nicht gleich am ersten Tag des Kennenlernens. Sicherlich würde er ihr das irgendwann in einem späteren Gespräch anvertrauen.
Nach einigen Minuten erschien die Kellnerin erneut. »Haben Sie schon ein Getränk gewählt?«
»Ich nehme einen Sekt«, sprudelte es aus Rebecca heraus.
»Ich bekomme ein Radler«, sagte er höflich und die Bedienung stiefelte von dannen.
Rebecca nahm sich die Karte zur Hand und suchte nach einem Gericht.
»Die Entenbrust ist ganz gut«, versicherte Robert, als er bemerkte, dass sie ständig in der Karte vor- und zurückblätterte.
»Gehst du hier öfter essen?«, fragte sie, ohne das Gesicht von der Karte zu nehmen.
»Ich komme hin und wieder mit Kollegen her. Mit meiner Familie bin ich auch manchmal hier.«
Rebecca überlegte, ob es zu unverschämt war, ihn über den Inhalt seines letzten Satzes auszuquetschen. Sie schwieg und biss sich auf die Unterlippe.
»Na gut, dann nehme ich die Ente«, sagte sie.
Robert blies angeheitert Luft durch die Nase aus und blickte amüsiert in die Karte.
»Was ist?«, wollte Rebecca wissen. »Warum lachst du?«
»Ich dachte, du fragst mich jetzt nach meiner Familie.«
Er hatte also ihr Zögern bemerkt. Robert schien ein sehr aufmerksamer Mensch zu sein.
Bevor Rebecca etwas erwidern konnte, hielt die Kellnerin mit schnellen Schritten auf ihren Tisch zu. Auf dem Tablett trug sie zwei Gläser, an denen Wassertropfen abperlten. Sie bestellten ihr Gericht und sahen der Bedienung hinterher, die genauso schnell verschwand, wie sie gekommen war.
Verlockend prickelte der goldgelbe Sekt im Glas, das vor Rebecca stand. Sie setzte das köstlich kalte Getränk an ihren Mund an. Schon benetzte der Sprudel ihre Lippen, noch bevor sie daraus trank. Eine fruchtige Süße nach Pfirsich liebkoste ihre Nase. Sie genoss diese kleinen Momente des Lebens. Der erste Schluck war belebend und zog zischend ihre Kehle hinunter.
Ohne dass Rebecca nachfragte, griff Robert den Gesprächsfetzen von eben auf: »Ich bin verheiratet. Habe zwei Söhne, elf und neun. Und du?«
»Ich habe keine Kinder«, erwiderte Rebecca.
»Bist du verheiratet oder hast du einen Partner?«
Rebecca schüttelte den Kopf. Ohne ihrer Mimik anmerken zu lassen, wie sie über ihren Beziehungsstatus dachte, fasste sie zusammen: »Bevor ich vor drei Jahren hierher gezogen bin, habe ich mit einem Mann zusammengelebt. Gute acht Jahre lang. Seitdem gab es nichts Festes mehr.«
Roberts stahlgraue Augen verfinsterten sich. Familienmensch durch und durch, dachte Rebecca.
»Du brauchst kein Mitleid mit mir zu haben«, gab sie schnell zurück, als sie registrierte, dass Roberts unbeschwerte Miene von eben durch ihre Worte gänzlich verschwunden war. »Wir haben uns einvernehmlich getrennt. Es gab ein paar … Probleme.«
Du bist fremdgegangen, Rebecca. Nun gut. Ihr Seitensprung mit ihrem Schüler war schuld. Nachdem Paul die Wahrheit verdaut hatte, war schnell klar, dass es keine Zukunft mit ihm geben würde. Die Partnerschaft stand schon vor ihrer Affäre auf der Kippe. Zum Einsturz gebracht hatte sie letztlich ihre Unfähigkeit, mit Paul über ihre Gefühle reden zu können. Heute wünschte sie, sie hätte sich eher getraut, ihm zu gestehen, wie unglücklich sie die lieblose Partnerschaft gemacht hatte. Die Jahre mit Paul waren sicherlich nicht vergeudet, aber herz- und freudlos.
Nie wieder wollte sie es so weit kommen lassen, sich ihre Gefühle nicht einzugestehen und in einer Partnerschaft zu enden, die nur Stillstand kannte. Nun galt es zu leben, mit jeder Faser des Körpers und der Seele den Moment zu genießen. Nur noch das Hier und Jetzt sollte zählen.
»Lass uns über die Schüler sprechen, die ich bekomme«, schlug sie vor, um nicht mehr an ihren Ex und an die verlorene Liebe zu ihrem Schüler denken zu müssen.
»Lass uns erst mal essen«, machte Robert den Gegenvorschlag, als er sah, dass die Mahlzeit serviert wurde. Die Bedienung stellte den Teller mit der dampfenden Entenbrust auf eine Warmhalteplatte. Dann lief sie davon und brachte als Nächstes den Reis in kleinen, weiß-blauen Porzellanschälchen herbei.
Rebecca nahm sich etwas von dem verführerisch duftenden Fleisch auf ihren Teller. Daneben stapelte sie eine ordentliche Portion von dem Klebereis, der sich schwer vom Porzellanlöffel löste. Wie Kleister hing er daran. Robert schaufelte sich ähnlich viel davon auf seinen Teller drauf.
Es schmeckte in der Tat sehr appetitlich. Ihr neuer Kollege hatte nicht übertrieben.
»Kennst du meine Schüler, die ich bekomme?«, fragte Rebecca kauend.
Robert schluckte seinen Bissen hinunter und sagte: »Ich bin viele Jahre lang Klassenlehrer in dieser Jahrgangsstufe gewesen. Ich kenne alle Schüler sehr gut. Als Tutor muss man sich natürlich noch mal ganz anders um sie kümmern. Man begleitet sie bis zum Abitur, steht ihnen sehr nahe.«
Rebeccas Erfahrung ging bisher nicht über die einer Klassenlehrerin hinaus. Dass sie in dieser Verantwortung nicht erfolgreich war, weil sie keinen Draht zu den Kindern aufbauen konnte, verschwieg sie. Tutorin zu sein, stellte für sie eine gänzlich neue Herausforderung dar. Nun musste sie beweisen, dass sie Empathie besaß und fähig dazu war, die Schüler zu Studierenden zu machen.
»Mein Leistungskurs in Deutsch wird mein Tutorkurs«, sagte Rebecca. »Ich möchte nicht nur unterrichten, sondern die Schüler kennenlernen.« Das Ziel musste diesmal konsequent verfolgt werden, um von vornherein Komplikationen mit den Jugendlichen auszuschließen.
Robert nickte und schob sich einen Happen von der Entenbrust in den Mund, genau wie Rebecca.
»Aber du hast Glück mit deinen Leuten«, antwortete er und lächelte sie mit seinen dicken Wangen an. Seine Kiefermuskulatur wirkte beim Kauen noch verschobener.
»Du hast nur zwölf Schüler in deinem Kurs. Zehn Mädchen und zwei Jungs. Aber die haben es in sich«, deutete Robert verschwörerisch an und schaute von seinem Gericht auf. Sein schelmisches Grinsen verstellte seinen ohnehin schiefen Mund.
»Du meinst, die Jungs haben es in sich?«, wollte Rebecca wissen.
Robert schnitt mit der Gabel ein Stück Entenbrust ab, bevor er tief einatmend sagte: »Ich war der Klassenlehrer von Cedric und Linus und rate dir, ein Auge auf die beiden zu haben.«
Krach!!! Die Gabel kam scheppernd auf dem Porzellanteller auf.
Die beiden Kerle aus der Disco würden ihre neuen Schüler sein?!
»Was ist los?«, fragte Robert, sichtlich erschrocken von dem lauten Geräusch, den das Metall verursacht hatte.
»Nichts. Mir ist die Gabel aus der Hand gefallen«, bekräftigte Rebecca, die Mühe damit hatte, den dicken Klumpen Entenbrust, der sich in ihre Luftröhre verirrt hatte, nach oben zu würgen. Hastig ergriff sie das Sektglas und leerte es in wenigen Zügen.
»Cedric vor allem solltest du im Blick behalten.« Das Geburtstagskind aus der Discothek, ergänzte Rebecca im Geist. »Ziemlicher Draufgänger. Macht immer einen auf cool, tanzt schnell aus der Reihe. Weiß nicht, ob er sich inzwischen mehr von Erwachsenen sagen lässt. In der Unterstufe jedenfalls war er nicht sehr kooperativ.« Seine Worte waren sehr aufschlussreich. »Cedric hat nicht viel auf dem Kasten. Der wird Mühe haben, überhaupt zum Abi zugelassen zu werden. Wenn er Pech hat, vergeigt er das erste Halbjahr, dann kann er seine Zulassung zur Prüfung vergessen.«
Rebecca hörte ihrem neuen Kollegen aufmerksam zu, saugte jede Information, die sie erhielt, ein.
»Und der Zweite?«, fragte sie interessiert nach, nachdem Robert nichts mehr über Cedric sagte.
»Linus ist ein Jahr älter als die anderen. Er kam in der zehnten Klasse an die Schule. Hat seinen Realschulabschluss in der Tasche und will jetzt das Abitur machen. Ja …«, brach Robert seinen Satz ab und kaute am Reis herum.
»Linus ist anders. Wirst du sehen. Bisschen schüchtern, in sich gekehrt. Als er in der zehnten Klasse zu uns stieß, war Cedric derjenige, der ihn in die Außenseiterrolle gedrängt hat.«
Wieder beließ es Robert bei Andeutungen, weil er aufhörte, weiterzusprechen. Stattdessen schob er sich das Gemüse in den Mund.
»Lern’ sie erst mal kennen. Wir haben in Klasse 11 mit jedem Schüler Einzelgespräche geführt.«
»Wozu?«, wollte Rebecca wissen.
»Wenn du als Tutor arbeitest, solltest du deine Schüler sehr genau kennen. Du musst wissen, womit sie Probleme haben, was sie in ihrer Freizeit machen, wie sie an Hausaufgaben herangehen, wie sie mit Stress umgehen. Außerdem ist es gut zu wissen, was sie nach dem Abi machen wollen, um ihnen die nötige Motivation zu geben, an ihrem Traum zu arbeiten. Es schafft eine ganz andere Atmosphäre, wenn du deine Schüler im Vorfeld kennenlernst. Glaub mir, das mache ich schon seit vielen Jahren so, wenn ich in der Oberstufe eingesetzt bin.«
Solche Erkenntnisse waren vollkommen neu für Rebecca. Einzelgespräche. Aber so schloss sie von vornherein Probleme aus und stellte einen persönlichen Draht zu den Schülern her.
»Nutz’ die Kursfahrt dafür«, durchbrach Robert ihre Gedanken.
»Kann ich euch helfen? Ist noch was zu erledigen?«
»Eine Woche vor der Kursfahrt führen wir einen Elternabend durch. Da solltest du auf jeden Fall anwesend sein. Bereite einfach einen Zettel mit der Einladung vor, mehr brauchst du nicht zu tun. Auf dem Elternabend erfährst du dann alles über die Fahrt. Ach so, und wir wollen dich dort natürlich als neue Tutorin vorstellen«, grinste Robert und kratzte das Gemüse von seinem Teller.
Das hatte Rebecca befürchtet. Noch mehr Menschenmassen, die sie musterten.
»Warum fahren wir eigentlich so zeitig im Schuljahr?«, wollte sie wissen. »Normalerweise finden doch Klassenfahrten im Frühjahr und Sommer statt, oder?«
»Ja, das stimmt. Die Abiturienten sollen aber den Kopf frei haben für die Prüfungen, die im Frühling und Sommer stattfinden. Daher nutzen wir den Beginn des Schuljahres zur Abschlussfahrt. Außerdem bekommt man leichter eine Unterkunft, wenn man außerhalb der Saison fährt.«
Robert wischte sich den Mund ab und legte die Serviette beiseite. Auch Rebecca war pappsatt. Vom Essen und von den Infos.
Nach anderthalb Stunden verließen Robert und Rebecca mit vollen Mägen das Restaurant.
»Wir sehen uns am Montag!«, verabschiedete sich der neue Kollege fröhlich und stiefelte in entgegengesetzter Richtung nach Hause.
Rebeccas Wohnung lag nicht weit entfernt von der Gaststätte und ihrer neuen Schule, sodass sie laufen konnte. Bei ihrer alten Arbeitsstätte hatte sie stets das Auto nehmen müssen. Wie praktisch, gleich in der Nachbarschaft zu wohnen.
Die kommenden freien Tage nutzte Rebecca, um akribisch die Stunden vorzubereiten, die sie in der nächsten Woche erwarten würden. Sie hatte an ihrem ersten Tag einen detaillierten Plan erhalten, wie weit die schwangere Kollegin mit ihren Lerngruppen gekommen war. Obwohl ihr letzter Unterricht einige Jahre zurücklag, konnte sie die fehlenden Lerninhalte gut herleiten.
Nachdem Robert ihr von den Schülern erzählt hatte, studierte Rebecca die Klassen- beziehungsweise Kurslisten. Den Leistungskurs in Klasse 12, ihren Tutorkurs, würde sie fünfmal in der Woche zu Gesicht bekommen.
Sie überflog die Namen.
Nächste Woche würde sie wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Wenn sie wirklich Einzelgespräche mit den Schülern führen sollte, war sie schon jetzt auf die letzten beiden Namen auf ihrer Liste gespannt. Linus Voigt. Cedric Weise.