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Drittes Kapitel
Neckerei. Viatikum. Unterbrochene Heiterkeit

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"Sehr netter Mann", sagte Hans Castorp, als sie nach freund-schaftlicher Begrüßung mit dem hinkenden Concierge, der in seiner Loge Briefe ordnete, durch das Portal hinaus ins Freie tra-ten. Das Portal war an der Südostflanke des weißgetünchten Gebäudes gelegen, dessen mittlerer Teil die beiden Flügel um ein Stockwerk überragte und von einem kurzen, mit schiefer-farbenem Eisenblech gedeckten Uhrturm gekrönt war. Man be-rührte den eingezäunten Garten nicht, wenn man das Haus hier verließ, sondern war gleich im Freien, angesichts schräger Bergwiesen, die von vereinzelten, mäßig hohen Fichten und auf den Boden geduckten Krummholzkiefern bestanden waren. Der Weg, den sie einschlugen – eigentlich war es der einzige, der in Betracht kam, außer der zu Tale abfallenden Fahrstraße – , leitete sie leicht ansteigend nach links an der Rückseite des Sanato-riums vorbei, der Küchen – und Wirtschaftsseite, wo eiserne Abfalltonnen an den Gittern der Kellertreppen standen, lief noch ein gutes Stück in derselben Richtung fort, beschrieb dann ein scharfes Knie und führte steiler nach rechts hin den dünn be-waldeten Hang hinan. Es war ein harter, rötlich gefärbter, noch etwas feuchter Weg, an dessen Saume zuweilen Steinblöcke la-gen. Die Vettern sahen sich keineswegs allein auf der Promenade. Gäste, die gleich nach ihnen ihr Frühstück beendet, folgten ihnen auf dem Fuße, und ganze Gruppen, auf dem Rückweg, kamen ihnen mit den stapfenden Tritten absteigender Leute entgegen.

"Sehr netter Mann!" wiederholte Hans Castorp. "So eine flotte Redeweise hat er, es machte mir Spaß, ihm zuzuhören. 'Quecksilberzigarre' für 'Thermometer' ist doch ausgezeichnet, ich habe es gleich verstanden … Aber ich zünde mir nun eine richtige an", sagte er stehenbleibend, "ich halte es nicht mehr aus! Seit gestern mittag habe ich nichts Ordentliches mehr ge-raucht … Entschuldige mal!" Und er entnahm seinem automo-billedernen und mit silbernem Monogramm geschmückten Etui ein Exemplar von Maria Mancini, ein schönes Exemplar der obersten Lage, an einer Seite abgeplattet, wie er es besonders liebte, kupierte die Spitze mit einem kleinen, eckig schneiden-den Instrument, das er an der Uhrkette trug, ließ seinen Ta-schenzündapparat aufflammen und setzte die ziemlich lange, vorne stumpfe Zigarre mit einigen hingebungsvoll paffenden Zügen in Brand. "So!" sagte er. "Nun können wir meinethalben den Lustwandel fortsetzen. Du rauchst natürlich nicht vor lauter Biereifer."

"Ich rauche ja nie", antwortete Joachim. "Warum sollt' ich denn gerade hier rauchen?"

"Das verstehe ich nicht!" sagte Hans Castorp. "Ich verstehe es nicht, wie jemand nicht rauchen kann, – er bringt sich doch, so-zusagen, um des Lebens bestes Teil und jedenfalls um ein ganz eminentes Vergnügen! Wenn ich aufwache, so freue ich mich, daß ich tagsüber werde rauchen dürfen, und wenn ich esse, so freue ich mich wieder darauf, ja ich kann sagen, daß ich eigentlich bloß esse, um rauchen zu können, wenn ich damit natürlich auch etwas übertreibe. Aber ein Tag ohne Tabak, das wäre für mich der Gipfel der Schalheit, ein vollständig öder und reizloser Tag, und wenn ich mir morgens sagen müßte: heut gibt's nichts zu rauchen, – ich glaube, ich fände den Mut gar nicht, aufzuste-hen, wahrhaftig, ich bliebe liegen. Siehst du: da hat man eine gut brennende Zigarre – selbstverständlich darf sie nicht Ne-benluft haben oder schlecht ziehen, das ist im höchsten Grade ärgerlich – ich meine: hat man eine gute Zigarre, dann ist man eigentlich geborgen, es kann einem buchstäblich nichts ge-schehn. Es ist genau, wie wenn man an der See liegt, dann liegt man eben an der See, nicht wahr, und braucht nichts weiter, we-der Arbeit noch Unterhaltung … Gott sei Dank raucht man ja in der ganzen Welt, es ist nirgendwo unbekannt, soviel ich weiß, wohin man auch etwa verschlagen werden sollte. Selbst die Polarforscher statten sich reichlich mit Rauchvorrat aus für ihre Strapazen, und das hat mich immer sympathisch berührt, wenn ich es las. Denn es kann einem sehr schlecht gehen, – nehmen wir mal an, es ginge mir miserabel; aber solange ich noch meine Zigarre hätte, hielte ich's aus, das weiß ich, sie brächte mich drüber weg."

"Immerhin ist es etwas schlapp", sagte Joachim, "daß du so daran hängst. Behrens hat ganz recht. Du bist ein Zivilist – er meinte es ja wohl mehr als Lob, aber du bist ein heilloser Zivilist, das ist die Sache. Übrigens bist du ja gesund und kannst tun, was du willst", sagte er, und seine Augen wurden müde.

"Ja, gesund bis auf die Anämie", sagte Hans Castorp. "Reich-lich geradezu war es ja, wie er es mir so sagte, daß ich grün aus-sehe. Aber es stimmt, es ist mir selber aufgefallen, daß ich im Vergleich mit euch hier oben förmlich grün bin, zu Hause habe ich es nicht so bemerkt. Und dann ist es ja auch wieder nett von ihm, daß er mir so ohne weiteres Ratschläge gibt, ganz sine pe-cunia, wie er sich ausdrückt. Ich will mir gern vornehmen, es zu machen, wie er sagt, und mich ganz nach deiner Lebensweise richten, – was sollt' ich denn sonst auch wohl tun bei euch hier oben, und es kann ja nicht schaden, wenn ich in Gottes Namen Eiweiß ansetze, obgleich es etwas widerlich klingt, das mußt du mir zugeben."

Joachim hüstelte ein paarmal im Gehen, – die Steigung schien ihn doch anzustrengen. Als er zum drittenmal ansetzte, blieb er mit gerunzelten Brauen stehen. "Geh nur voran", sagte er. Hans Castorp beeilte sich, weiterzugehen und sah sich nicht um. Dann verlangsamte er seinen Schritt und blieb schließlich fast stehen, da ihm war, als müsse er einen bedeutenden Vor-sprung vor Joachim gewonnen haben. Aber er sah sich nicht um.

Ein Trupp von Gästen beiderlei Geschlechtes kam ihm entge-gen, – er hatte sie droben auf halber Höhe des Hanges den ebe-nen Weg entlang kommen sehen, jetzt stapften sie abwärts, ge-rade auf ihn zu und ließen ihre verschiedenartigen Stimmen er-tönen. Es waren sechs oder sieben Personen gemischten Alters, die einen blutjung, ein paar schon etwas weiter an Jahren. Er sah sie sich an mit seitwärts geneigtem Kopfe, während er an Joachim dachte. Sie waren barhaupt und braun, die Damen in farbigen Sweaters, die Herren meist ohne Überzieher und selbst ohne Stöcke, wie Leute, die ohne Umstände und die Hände in den Taschen ein paar Schritte vors Haus machen. Da sie bergab gingen, was keine ernsthaft tragende Anstrengung, sondern nur ein lustiges Bremsen und Anstemmen der Beine erfordert, da-mit man nicht ins Laufen und Stolpern gerät, ja eigentlich nichts weiter als ein Sichfallenlassen ist, hatte ihre Gangart etwas Be-schwingtes und Leichtsinniges, was sich ihren Mienen, ihrer ganzen Erscheinung mitteilte, so daß man wohl wünschen konnte, zu ihnen zu gehören.

Nun waren sie bei ihm, Hans Castorp sah ihre Gesichter ge-nau. Sie waren nicht alle gebräunt, zwei Damen stachen durch Blässe ab: die eine dünn wie ein Stock und elfenbeinern von Angesicht, die andere kleiner und fett, von Leberflecken verun-ziert. Sie sahen ihn alle an, mit einem gemeinsamen, dreisten Lächeln. Ein langes junges Mädchen in grünem Sweater, mit schlecht frisiertem Haar und dummen, nur halb geöffneten Au-gen strich dicht an Hans Castorp vorbei, indem es ihn fast mit dem Arme berührte. Und dabei pfiff sie … Nein, das war ver-rückt! Sie pfiff ihn an, doch nicht mit dem Mund, den spitzte sie gar nicht, sie hielt ihn im Gegenteil fest geschlossen. Es pfiff aus ihr, indes sie ihn ansah, dumm und mit halbgeschlossenen Augen, – ein außerordentlich unangenehmes Pfeifen, rauh, scharf und doch hohl, gedehnt und gegen das Ende im Tone ab-fallend, so daß es an die Musik jener Jahrmarktsschweinchen aus Gummi erinnerte, die klagend ihre eingeblasene Luft fahren lassen und zusammensinken, drang irgendwie und unbegreif-licherweise aus ihrer Brust hervor, und dann war sie mit ihrer Gesellschaft vorüber.

Hans Castorp stand starr und blickte ins Weite. Dann wandte er sich hastig um und begriff wenigstens so viel, daß das Ab-scheuliche ein Scherz, eine abgekartete Fopperei gewesen sein mußte, denn er sah an den Schultern der Abziehenden, daß sie Lichten, und ein untersetzter Jüngling mit Wulstlippen, welcher, beide Hände in den Hosentaschen, auf ziemlich unschickliche Art seine Jacke emporgerafft hielt, drehte sogar unverhohlen den Kopf nach ihm und lachte … Joachim war herangekom-men. Er grüßte die Gruppe, indem er nach seiner ritterlichen Gewohnheit beinahe Front machte und sich mit zusammenge-zogenen Absätzen verbeugte, und trat dann sanft blickend zu seinem Vetter.

"Was machst du denn für ein Gesicht?" fragte er.

"Sie pfiff!" antwortete Hans Castorp. "Sie pfiff aus dem Bau-che, als sie an mir vorüberkam, willst du mir das erklären?"

"Ach", sagte Joachim und lachte wegwerfend. "Nicht aus dem Bauche, Unsinn. Das war die Kleefeld, Hermine Kleefeld, die pfeift mit dem Pneumothorax."

"Womit?" fragte Hans Castorp. Er war außerordentlich erregt und wußte nicht recht, in welchem Sinne. Er schwankte zwi-schen Lachen und Weinen, als er hinzufügte: "Du kannst nicht verlangen, daß ich euer Rotwelsch verstehe."

"So komm doch weiter!" sagte Joachim. "Ich kann es dir doch auch im Gehen erklären. Du bist ja wie angewurzelt! Es ist etwas aus der Chirurgie, wie du dir denken kannst, eine Operation, die hier oben häufig ausgeführt wird. Behrens hat große Übung darin … Wenn eine Lunge sehr mitgenommen ist, ver-stehst du, die andere aber gesund oder vergleichsweise gesund, so wird die kranke mal einige Zeit von ihrer Tätigkeit dispen-siert, um sie zu schonen … Das heißt: man wird hier aufge-schnitten, hier irgendwo seitwärts – ich kenne die Stelle ja nicht genau, aber Behrens hat es großartig los. Und dann wird Gas in einen hineingelassen, Stickstoff, weißt du, und so der verkäste Lungenflügel außer Betrieb gesetzt. Das Gas hält natürlich nicht lange vor, halbmonatlich etwa muß es erneuert werden – man wird gleichsam aufgefüllt, so mußt du dir's vorstellen. Und wenn das ein Jahr lang geschieht oder länger, und alles geht gut, so kann die Lunge durch Ruhe zur Heilung kommen. Nicht im-mer, versteht sich, es ist wohl sogar eine gewagte Sache. Aber es sollen schon schöne Erfolge mit dem Pneumothorax erzielt worden sein. Alle haben ihn, die du eben sahst. Frau Iltis war auch dabei – die mit den Leberflecken – und Fräulein Levi, die magere, du erinnerst dich – sie hat so lange zu Bett gelegen. Sie haben sich zusammengefunden, denn so etwas wie der Pneumothorax verbindet die Menschen natürlich, und nennen sich 'Verein Halbe Lunge', unter diesem Namen sind sie bekannt. Aber der Stolz des Vereins ist Hermine Kleefeld, weil sie mit dem Pneumothorax pfeifen kann, – das ist eine Gabe von ihr, es kann es durchaus nicht jeder. Wie sie es fertig bringt, das kann ich dir auch nicht sagen, sie selbst kann es nicht deutlich be-schreiben. Aber wenn sie rasch gegangen ist, dann kann sie aus ihrem Inneren pfeifen, und das benutzt sie natürlich, um die Leute zu erschrecken, besonders die neuangekommenen Kran-ken. Ich glaube übrigens, daß sie Stickstoff dabei verschwendet, denn alle acht Tage muß sie aufgefüllt werden."

Nun lachte Hans Castorp; seine Erregung hatte sich bei Joachims Worten zum Heitern entschieden, und indem er im Gehen die Augen mit der Hand bedeckte und sich vorneigte, wurden seine Schultern von einem raschen und leisen Kichern erschüttert.

"Sind sie auch eingetragen?" fragte er, und das Sprechen wur-de ihm nicht leicht; es klang vor zurückgehaltenem Lachen wei-nerlich und leise jammernd. "Haben sie Statuten? Schade, daß du nicht Mitglied bist, du, dann könnten sie mich als Ehrengast zulassen oder als … Konkneipant … Du solltest Behrens bitten, daß er dich teilweise außer Betrieb setzt. Vielleicht würdest du auch pfeifen können, wenn du's drauf anlegtest, es muß doch schließlich zu lernen sein … Das ist das Komischste, was ich in meinem Leben gehört habe!" sagte er tief aufseufzend. "Ja, verzeih, daß ich so davon spreche, aber sie selbst sind ja in der besten Laune, deine pneumatischen Freunde! Wie sie daher-kamen … Und zu denken, daß es der 'Verein Halbe Lunge' war! 'Tiuu' pfeift sie mich an, – eine tolle Person! Aber das ist doch heller Übermut! Warum sind sie so übermütig, du, willst du mir das mal sagen?"

Joachim suchte nach einer Antwort. "Gott", sagte er, "sie sind so frei… Ich meine, es sind ja junge Leute, und die Zeit spielt keine Rolle für sie, und dann sterben sie womöglich. Warum sollen sie da ernste Gesichter schneiden. Ich denke manchmal: Krankheit und Sterben sind eigentlich nicht ernst, sie sind mehr so eine Art Bummelei, Ernst gibt es genaugenommen nur im Leben da unten. Ich glaube, daß du das mit der Zeit schon ver-stehen wirst, wenn du erst länger hier oben bist."

"Sicher", sagte Hans Castorp. "Das glaube ich sogar sicher. Ich habe schon sehr viel Interesse gefaßt für euch hier oben, und wenn man sich interessiert, nicht wahr, dann kommt das Verste– von selber … Aber wie ist mir denn nur, – sie schmeckt nicht!" sagte er und betrachtete seine Zigarre. "Ich frage mich die ganze Zeit, was mir fehlt, und nun merke ich, daß es Maria ist, die mir nicht schmeckt. Sie schmeckt wie Papiermache, ich versichere dich, es ist gerade, wie wenn man einen völlig ver-dorbenen Magen hat. Das ist doch unbegreiflich! Ich habe ja ungewöhnlich viel zum Frühstück gegessen, aber das kann der Grund nicht sein, denn wenn man viel gegessen hat, so schmeckt sie zunächst sogar besonders gut. Meinst du, es kann daher kommen, daß ich so unruhig geschlafen habe? Vielleicht bin ich dadurch in Unordnung geraten. Nein, ich muß sie gera-dezu wegwerfen!" sagte er nach einem neuen Versuch. "Jeder Zug ist eine Enttäuschung; es hat keinen Zweck, daß ich es for-ciere." Und nachdem er noch einen Augenblick gezögert, warf er die Zigarre den Abhang hinab zwischen das feuchte Nadel-holz. "Weißt du, womit es meiner Überzeugung nach zusam-menhängt?" fragte e r… "Meiner festen Überzeugung nach hängt es mit dieser verdammten Gesichtshitze zusammen, an der ich nun schon wieder seit dem Aufstehen laboriere. Weiß der Teufel, mir ist immer, als wäre ich schamrot im Gesicht… Hast du das auch so gehabt, als du ankamst?"

"Ja", sagte Joachim. "Mir war auch zuerst etwas sonderbar. Mach dir nichts draus! Ich hab dir ja gesagt, daß es nicht so leicht ist, sich einzuleben bei uns. Aber du kommst wieder in Ordnung. Siehst du, die Bank steht hübsch. Wir wollen uns etwas setzen und dann nach Hause gehen, ich muß in die Liegekur."

Der Weg war eben geworden. Er lief nun in der Richtung auf Platz Davos, etwa in Drittelhöhe des Hanges, und gewährte Wischen hohen, schmal gewachsenen und windschiefen Kiefern den Blick auf den Ort, der weißlich in hellerem Lichte lag. Die schlicht gezimmerte Bank, auf der sie sich setzten, lehnte sich an die steile Bergwand. Neben ihnen fiel ein Wasser in of-fener Holzrinne gurgelnd und plätschernd zu Tal.

Joachim wollte den Vetter über die Namen der umwölkten Alpenhäupter unterrichten, die das Tal im Süden zu schließen schienen, indem er mit der Spitze seines Bergstockes auf sie wies. Aber Hans Castorp blickte nur flüchtig hin, er saß vorn-übergebeugt, zeichnete mit der Zwinge seines städtischen, sil-berbeschlagenen Stockes Figuren im Sand und verlangte anderes zu wissen.

"Was ich dich fragen wollte – ", fing er an … "Der Fall in meinem Zimmer war also gerade eingegangen, als ich kam. Sind sonst schon viele Todesfälle vorgekommen, seit du hier oben bist?" – "Mehrere sicher", antwortete Joachim. "Aber sie werden diskret behandelt, verstehst du, man erfährt nichts da-von oder nur gelegentlich, später, es geht im strengsten Ge-heimnis vor sich, wenn einer stirbt, aus Rücksicht auf die Pa-tienten und namentlich auf die Damen, die sonst leicht Zufälle bekämen. Wenn neben dir jemand stirbt, das merkst du gar nicht. Und der Sarg wird in aller Frühe gebracht, wenn du noch schläfst, und abgeholt wird der Betreffende auch nur in solchen Zeiten, zum Beispiel während des Essens."

"Hm", sagte Hans Castorp und zeichnete weiter. "Hinter den Kulissen also geht so etwas vor sich."

"Ja, so kann man sagen. Aber neulich, es ist nun, warte mal, möglicherweise acht Wochen her – "

"Dann kannst du nicht neulich sagen", bemerkte Hans Castorp trocken und wachsam.

"Wie? Also nicht neulich. Du bist aber genau. Ich habe die Zahl ja nur so geraten. Also vor einiger Zeit, da habe ich doch einmal hinter die Kulissen gesehen, aus reinem Zufall, ich weiß es wie heute. Das war, als sie der kleinen Hujus, einer Katholi-schen, Barbara Hujus, das Viatikum brachten, das Sterbesakra-ment, weißt du, die Letzte Ölung. Sie war noch auf, als ich hier ankam, und ausgelassen lustig konnte sie sein, so dalberig, recht wie ein Backfisch. Aber dann ging es rapide mit ihr, sie stand nicht mehr auf, drei Zimmer von meinem lag sie, und ihre El-tern kamen, und nun kam denn also der Priester. Er kam, während alles beim Tee war, nachmittags, es war kein Mensch auf den Gängen. Aber stelle dir vor, ich hatte verschlafen, ich war in der Hauptliegekur eingeschlafen und hatte das Gong überhört lind mich um eine Viertelstunde verspätet. Da war ich nun im entscheidenden Augenblick nicht, wo alle waren, sondern war hinter die Kulissen geraten, wie du sagtest, und wie ich über den Korridor gehe, da kommen sie mir entgegen, in Spitzen-hemden und ein Kreuz voran, ein goldenes Kreuz mit Laternen, der eine trug es voran wie den Schellenbaum vor der Janitscha-renmusik."

"Das ist kein Vergleich", sagte Hans Castorp nicht ohne Strenge.

"Es kam mir so vor. Ich wurde unwillkürlich daran erinnert. Aber höre nur weiter. Sie kommen also auf mich zu, marsch, marsch, im Geschwindschritt, zu dritt, wenn ich nicht irre, vor-an der Mann mit dem Kreuz, darauf der Geistliche, eine Brille auf der Nase, und dann noch ein Junge mit einem Räucherfäß-chen. Der Geistliche hielt das Viatikum an der Brust, es war zu-gedeckt, und er hielt recht demütig den Kopf schief, es ist ja ihr A I Irrheiligstes."

"Eben üben darum", sagte Hans Castorp. "Eben aus diesem Grunde wundere ich mich, daß du von Schellenbaum sprechen magst."

"Ja, ja. Aber warte nur, wenn du dabei gewesen wärst, wüß-test du auch nicht, was du für ein Gesicht machen solltest in der Erinnerung. Es war, daß man davon träumen könnte – "

"In welcher Hinsicht?"

"Folgendermaßen. Ich frage mich also, wie ich mich zu ver-halten habe unter diesen Umständen. Einen Hut zum Abneh-men hatte ich nicht auf-"

"Siehst du wohl!" unterbrach ihn Hans Castorp rasch noch einmal. "Siehst du wohl, daß man einen Hut aufhaben soll! Es ist mir natürlich aufgefallen, daß ihr keinen tragt hier oben. Mm soll aber einen aufsetzen, damit man ihn abnehmen kann, bei Gelegenheiten, wo es sich schickt. Aber was denn nun weiter?"

"Ich stellte mich an die Wand", sagte Joachim, "in anständigen Haltung, und verbeugte mich etwas, als sie bei mir waren, – es war gerade vor dem Zimmer der kleinen Hujus, Nummer achthundzwanzig. Ich glaube, der Geistliche freute sich, daß ich grüßte; er dankte sehr höflich und nahm seine Kappe ab. Aber zugleich machen sie auch schon halt, und der Ministrantenjunge mit dem Räucherfaß klopft an, und dann klinkt er auf und läßt seinem Chef den Vortritt ins Zimmer. Und nun stelle dir vor und male dir meinen Schrecken aus und meine Empfindungen! In dem Augenblick, wo der Priester den Fuß über die Schwelle setzt, geht da drinnen ein Zetermordio an, ein Gekreisch, du hast nie so etwas gehört, drei-, viermal hintereinander, und da-nach ein Schreien ohne Pause und Absatz, aus weit offenem Munde offenbar, ahhh, es lag ein Jammer darin und ein Entset-zen und Widerspruch, daß es nicht zu beschreiben ist, und so ein greuliches Betteln war es auch zwischendurch, und auf einen Schlag wird es hohl und dumpf, als ob es in die Erde versunken wäre und tief aus dem Keller käme."

Hans Castorp hatte sich seinem Vetter heftig zugewandt. "War das die Hujus?" fragte er aufgebracht. "Und wieso: aus dem Keller?"

"Sie war unter die Decke gekrochen!" sagte Joachim. "Stelle dir meine Empfindungen vor! Der Geistliche stand dicht an der Schwelle und sagte beruhigende Worte, ich sehe ihn noch, er schob immer den Kopf dabei vor und zog ihn dann wieder zu-rück. Der Kreuzträger und der Ministrant standen noch zwi-schen Tür und Angel und konnten nicht eintreten. Und ich konnte zwischen ihnen hindurch ins Zimmer sehen. Es ist ja ein Zimmer wie deins und meins, das Bett steht links von der Tür an der Seitenwand, und am Kopfende standen Leute, die Ange-hörigen natürlich, die Eltern und redeten auch beschwichtigend auf das Bett hinunter, man sah nichts als eine formlose Masse darin, die bettelte und grauenhaft protestierte und mit den Bei-nen strampelte."

"Sagst du, daß sie mit den Beinen strampelte?"

"Aus Leibeskräften! Aber es nützte ihr nichts, das Sterbe-sakrament mußte sie haben. Der Pfarrer ging auf sie zu, und auch die beiden anderen traten ein, und die Tür wurde zugezogen. Aber vorher sah ich noch: der Kopf von der Hujus kommt für eine Sekunde zum Vorschein, mit wirrem hellblonden Haar, und starrt den Priester mit weitaufgerissenen Augen an, so blas-sen Augen, ganz ohne Farbe, und fährt mit Ah und Huh wieder unters Laken."

"Und das erzählst du mir jetzt erst?" sagte Hans Castorp nach einer Pause. "Ich verstehe nicht, daß du nicht schon gestern abend darauf zu sprechen gekommen bist. Aber, mein Gott, sie mußte doch noch eine Menge Kraft haben, so wie sie sich wehrte. Dazu gehören doch Kräfte. Man sollte den Priester nicht holen lassen, bevor einer ganz schwach ist."

"Sie war auch schwach", erwiderte Joachim. " … Ach, zu er-zählen gäbe es viel; es ist schwer, die erste Auswahl zu tref-fen … Schwach war sie schon, es war nur die Angst, die ihr so-viel Kräfte gab. Sie ängstigte sich eben fürchterlich, weil sie merkte, daß sie sterben sollte. Sie war ja ein junges Mädchen, da muß man es schließlich entschuldigen. Aber auch Männer füh-ren sich manchmal so auf, was natürlich eine unverzeihliche Schlappheit ist. Behrens weiß übrigens mit ihnen umzugehen, er hat den richtigen Ton in solchen Fällen."

"Was für einen Ton?" fragte Hans Castorp mit zusammen-gezogenen Brauen.

""Stellen Sie sich nicht so an!' sagt er", antwortete Joachim. "Wenigstens hat er es neulich zu einem gesagt, – wir wissen es von der Oberin, die dabei war und den Sterbenden festhalten half. Es war so einer, der zu guter Letzt eine scheußliche Szene machte und absolut nicht sterben wollte. Da hat Behrens ihn angefahren: 'Stellen Sie sich gefälligst nicht so an!' hat er gesagt, und sofort ist der Patient still geworden und ist ganz ruhig gestorben."

Hans Castorp schlug sich mit der Hand auf den Schenkel und warf sich gegen die Rückenlehne der Bank, indem er zum Him-mel aufblickte.

"Na, höre mal, das ist doch stark!" rief er. "Fährt auf ihn los und sagt einfach zu ihm: 'Stellen Sie sich nicht so an!' Zu einem Sterbenden! Das ist doch stark! Ein Sterbender ist doch ge-wissermaßen ehrwürdig. Man kann ihn doch nicht so mir nichts, dir nichts … Ein Sterbender ist doch sozusagen heilig, sollte ich meinen!"

"Das will ich nicht leugnen", sagte Joachim. "Aber wenn er sich nun doch dermaßen schlapp benimmt …"

"Nein!" beharrte Hans Castorp mit einer Heftigkeit, die zu dem Widerstand, den man ihm leistete, in keinem Verhältnis stand. "Das lasse ich mir nicht ausreden, daß ein Sterbender etwas Vornehmeres ist, als irgend so ein Lümmel, der herumgeht und lacht und Geld verdient und sich den Bauch vollschlägt! Das geht nicht –" und seine Stimme schwankte höchst sonder-bar. "Das geht nicht, daß man ihn so mir nichts, dir nichts –", und seine Worte erstickten im Lachen, das ihn ergriff und ihn überwältigte, dem Lachen von gestern, einem tief heraufquel-lenden, leiberschütternden, grenzenlosen Gelächter, das ihm die Augen schloß und Tränen zwischen den Lidern hervorpreßte.

"Pst!" machte Joachim plötzlich. "Sei still!" flüsterte er und stieß den haltlos Lachenden heimlich in die Seite. Hans Castorp blickte in Tränen auf.

Auf dem Wege von links kam ein Fremder daher, ein zierlicher brünetter Herr mit schön gedrehtem schwarzen Schnurr-bart und in hellkariertem Beinkleid, der, herangekommen, mit Joachim einen Morgengruß tauschte – der seine war präzis und wohllautend – und mit gekreuzten Füßen, auf seinen Stock ge-stützt, in anmutiger Haltung vor ihm stehen blieb.

Der Zauberberg. Volume 1

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