Читать книгу Der Zauberberg. Volume 1 - Томас Манн, Thomas Mann - Страница 12

Drittes Kapitel
Satana

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Sein Alter wäre schwer zu schätzen gewesen, zwischen dreißig und vierzig mußte es wohl liegen, denn wenn auch seine Ge-samterscheinung jugendlich wirkte, so war sein Haupthaar doch an den Schläfen schon silbrig durchsetzt und weiter oben merk-lich gelichtet: zwei kahle Buchten sprangen neben dem schma-len, spärlichen Scheitel ein und erhöhten die Stirn. Sein Anzug, diese weiten, hellgelblich karierten Hosen und ein flausartiger, zu langer Rock mit zwei Reihen Knöpfen und sehr großen Auf-schlägen, war weit entfernt, Anspruch auf Eleganz zu erheben; auch zeigte sein rund umgebogener Stehkragen sich von häufi-ger Wäsche an den Kanten schon etwas aufgerauht, seine schwarze Krawatte war abgenutzt, und Manschetten trug er of-fenbar überhaupt nicht, – Hans Castorp erkannte es an der schlaffen Art, in der die Ärmel ihm um das Handgelenk hingen. Trotzdem sah er wohl, daß er einen Herrn vor sich habe; der gebildete Gesichtsausdruck des Fremden, seine freie, ja schöne Haltung ließen keinen Zweifel daran. Diese Mischung aber von Schäbigkeit und Anmut, schwarze Augen, dazu der weich ge-schwungene Schnurrbart, erinnerten Hans Castorp sogleich an gewisse ausländische Musikanten, die zur Weihnachtszeit in den heimischen Höfen aufspielten und mit emporgerichteten Samt-augen ihren Schlapphut hinhielten, damit man ihnen Zehnpfennigstücke aus den Fenstern hineinwürfe. 'Ein Drehor-gelmann!' dachte er. Und so wunderte er sich nicht über den Namen, den er zu hören bekam, als Joachim sich von der Bank erhob und in einiger Befangenheit vorstellte: "Mein Vetter Castorp, – Herr Settembrini."

Hans Castorp war ebenfalls zur Begrüßung aufgestanden, die Spuren seiner Heiterkeitsausschreitung noch im Gesicht. Aber der Italiener bat beide in höflichen Worten, sich nicht in ihrer Bequemlichkeit stören zu lassen und nötigte sie auf ihre Plätze zurück, während er selbst in seiner angenehmen Pose vor ihnen stehen blieb. Er lächelte, wie er da stand und die Vettern, na-mentlich aber Hans Castorp, betrachtete, und diese seine etwas spöttische Vertiefung und Kräuselung seines einen Mundwin-kels unter dem vollen Schnurrbart, dort, wo er sich in schöner Rundung aufwärts bog, war von eigentümlicher Wirkung, es hielt gewissermaßen zur Geistesklarheit und Wachsamkeit an und ernüchterte den trunkenen Hans Castorp im Augenblick, so daß er sich schämte. Settembrini sagte:

"Die Herren sind aufgeräumt, – mit Grund, mit Grund. Ein prächtiger Morgen! Der Himmel ist blau, die Sonne lacht –", und er hob mit einem leichten und gelungenen Schwung seines "Annes die kleine, gelbliche Hand zum Himmel, während er zugleich einen schrägen, heiteren Blick ebenfalls dort hinauf-sandte. "Man könnte in der Tat vergessen, wo man sich be-findet."

Er sprach ohne fremden Akzent, nur an der Genauigkeit seiner Lautbildung hätte man allenfalls den Ausländer erkennen können. Seine Lippen formten die Worte mit einer gewissen Lust. Man hörte ihn mit Vergnügen.

"Und der Herr hat eine angenehme Reise zu uns gehabt?" wandte er sich an Castorp … "Ist man schon im Besitz seines Urteils? Ich meine: hat die düstere Zeremonie der ersten Untersuchung schon stattgehabt?" – Hier hätte er schweigen und war-ten müssen, wenn es ihm darauf ankam, zu hören; denn er hatte seine Frage gestellt, und Hans Castorp schickte sich an, zu ant-worten. Aber der Fremde fragte gleich weiter: "Ist sie glimpflich verlaufen? Aus Ihrer Lachlust –", und er schwieg einen Augenblick, indes die Kräuselung seines Mundwinkels sich vertiefte, "lassen sich ungleichartige Schlüsse ziehen. Wieviel Monate ha-ben unsere Minos und Rhadamanth Ihnen aufgebrummt?" – Das Wort "aufgebrummt" nahm sich in seinem Munde beson-ders drollig aus. –"Soll ich schätzen? Sechs? Oder gleich neun? Man ist ja nicht knauserig …"

Hans Castorp lachte erstaunt, wobei er sich zu erinnern such-te, wer Minos und Rhadamanth doch gleich noch gewesen seien. Er antwortete:

"Aber wieso. Nein, Sie sind im Irrtum, Herr Septem –" "Settembrini", verbesserte der Italiener klar und mit Schwung, indem er sich humoristisch verneigte.

"Herr Settembrini, – Verzeihung. Nein, also Sie irren. Ich bin gar nicht krank. Ich besuche nur meinen Vetter Ziemßen auf ein paar Wochen und will mich bei dieser Gelegenheit auch ein bißchen erholen –"

"Potztausend, Sie sind nicht von den Unsrigen? Sie sind ge-sund, Sie hospitieren hier nur, wie Odysseus im Schattenreich? Welche Kühnheit, hinab in die Tiefe zu steigen, wo Tote nichtig und sinnlos wohnen –"

"In die Tiefe, Herr Settembrini? Da muß ich doch bitten! Ich bin ja rund fünftausend Fuß hoch geklettert zu Ihnen her-auf –"

"Das schien Ihnen nur so! Auf mein Wort, das war Täu-schung", sagte der Italiener mit einer entscheidenden Handbe-wegung. "Wir sind tief gesunkene Wesen, nicht wahr, Leut-nant", wandte er sich an Joachim, der sich über diese Anrede nicht wenig freute, dies aber zu verbergen suchte und besonnen erwiderte:

"Wir sind wohl wirklich etwas versimpelt. Aber man kann sich schließlich wieder zusammenreißen."

"Ja, Ihnen traue ich's zu; Sie sind ein anständiger Mensch", sagte Settembrini. "So, so, so", sagte er dreimal mit scharfem S, indem er sich wieder gegen Hans Castorp wandte, und schnalz-te dann ebensooft mit der Zunge leise am oberen Gau-men. "Sieh, sieh, sieh", sagte er hierauf, ebenfalls dreimal und mit scharfem S-Laut, indem er dem Neuling so unverwandt ins Auge blickte, daß seine Augen in eine fixe und blinde Ein-stellung gerieten, und fuhr dann, seinen Blick wieder belebend, fort:

"Ganz freiwillig kommen Sie also herauf zu uns Herunterge-kommenen und wollen uns einige Zeit das Vergnügen Ihrer Gesellschaft gönnen. Nun, das ist schön. Und welche Frist haben Sie in Aussicht genommen? Ich frage nicht fein. Aber es soll mich doch wundernehmen, zu hören, wieviel man sich zu-diktiert, wenn man selbst zu bestimmen hat und nicht Rhadamanth!"

"Drei Wochen", sagte Hans Castorp mit etwas eitler Leich-tigkeit, da er merkte, daß er beneidet wurde.

"O dio, drei Wochen! Haben Sie gehört, Leutnant? Hat es nicht fast etwas Impertinentes, zu sagen: Ich komme auf drei Wochen hierher und reise dann wieder? Wir kennen das Wo-chenmaß nicht, mein Herr, wenn ich Sie belehren darf. Unsere kleinste Zeiteinheit ist der Monat. Wir. rechnen im großen Stil, das ist ein Vorrecht der Schatten. Wir haben noch andere, und sie sind alle von ähnlicher Qualität. Darf ich fragen, welchen Be-ruf Sie ausüben im Leben – oder wohl richtiger: aufweichen Sie sich vorbereiten? Sie sehen, wir legen unserer Neugier keine Fes-seln an. Auch die Neugier rechnen wir zu unseren Vorrechten."

"Bitte sehr", sagte Hans Castorp. Und er gab Auskunft.

"Ein Schiffsbaumeister! Aber das ist großartig!" rief Settembrini. "Seien Sie überzeugt, daß ich das großartig finde, obgleich meine eigenen Fähigkeiten in anderer Richtung liegen."

"Herr Settembrini ist Literat", sagte Joachim erläuternd und etwas verlegen. "Er hat für deutsche Blätter den Nachruf für Carducci geschrieben, – Carducci, weißt du." Und er wurde noch verlegener, da sein Vetter ihn verwundert ansah und zu sagen schien: Was weißt denn du von Carducci? Ebenso wenig wie ich, sollte ich meinen.

"Das ist richtig", sagte der Italiener kopfnickend. "Ich hatte die Ehre, Ihren Landsleuten von dem Leben dieses großen Po-eten und Freidenkers zu erzählen, als es abgeschlossen war. Ich kannte ihn, ich darf mich seinen Schüler nennen. In Bologna habe ich zu seinen Füßen gesessen. Ihm verdanke ich, was ich an Bildung und Frohsinn mein eigen nenne. Aber wir sprachen von Ihnen. Ein Schiffsbaumeister! Wissen Sie, daß Sie zuse-hends emporwachsen in meinen Augen? Sie sitzen da plötzlich, als der Vertreter einer ganzen Welt der Arbeit und des prakti-schen Genies!"

"Aber Herr Settembrini – ich bin ja eigentlich noch Student und fange erst an."

"Gewiß, und aller Anfang ist schwer. Überhaupt, alle Arbeit ist schwer, die diesen Namen verdient, nicht wahr?"

"Ja, das weiß der Teufel!" sagte Hans Castorp, und es kam ihm von Herzen.

Settembrini zog rasch die Brauen empor.

"Sogar den Teufel rufen Sie an", sagte er, "um das zu bekräftigen? Den leibhaftigen Satan? Wissen Sie auch, daß mein gro-ßer Lehrer eine Hymne an ihn gerichtet hat?"

"Erlauben Sie", sagte Hans Castorp, "an den Teufel?"

"An ihn selbst. Sie wird in meiner Heimat zuweilen gesungen, bei festlichen Gelegenheiten. O salute, o Satana, o Ribel-lione, o forza vindice della Ragione … Ein herrliches Lied! Aber dieser Teufel war es wohl kaum, den Sie im Sinne hatten, denn er steht mit der Arbeit auf ausgezeichnetem Fuß. Der, den Sie meinten und der die Arbeit verabscheut, weil er sie zu fürchten hat, ist vermutlich jener andere, von dem es heißt, daß man ihm nicht den kleinen Finger reichen soll –"

Das alles wirkte recht sonderbar auf den guten Hans Castorp. Italienisch verstand er nicht, und das übrige war ihm auch nicht behaglicher. Es schmeckte nach Sonntagspredigt, obgleich es in leichtem und scherzhaftem Plauderton vorgetragen wurde. Er sah seinen Vetter an, der die Augen niederschlug, und sagte dann:

"Ach, Herr Settembrini, Sie nehmen meine Worte viel zu genau. Das mit dem Teufel war nur so eine Redewendung von mir, ich versichere Sie!"

"Irgend jemand muß Geist haben", sagte Settembrini, indem er melancholisch in die Luft blickte. Aber sich wieder belebend, erheiternd und anmutig einlenkend fuhr er fort:

"Jedenfalls schließe ich wohl mit Recht aus Ihren Worten, daß Sie da einen ebenso anstrengenden wie ehrenvollen Beruf erwählt haben. Mein Gott, ich bin Humanist, ein homo huma-nus, ich verstehe nichts von ingeniösen Dingen, so aufrichtig der Respekt ist, den ich ihnen zolle. Aber vorstellen kann ich mir wohl, daß die Theorie Ihres Faches einen klaren und schar-fen Kopf und seine Praxis einen ganzen Mann verlangt, – ist es nicht so?"

"Gewiß ist es so, ja, da kann ich Ihnen unbedingt zustimmen", antwortete Hans Castorp, indem er sich unwillkürlich bemühte, ein wenig beredt zu sprechen. "Die Anforderungen sind kolossal heutzutage, man darf es sich gar nicht so klar ma-chen, wie scharf sie sind, sonst könnte man wahrhaftig den Mut verlieren. Nein, ein Spaß ist es nicht. Und wenn man nun auch nicht der Stärkste ist … Ich bin ja hier nur zu Gaste, aber der Stärkste bin ich doch auch nicht gerade, und da müßte ich lü-l',en, wenn ich behaupten wollte, daß mir das Arbeiten so ausge-zeichnet bekäme. Vielmehr nimmt es mich ziemlich mit, das muß ich sagen. Recht gesund fühle ich mich eigentlich nur, wenn ich gar nichts tue –"

"Zum Beispiel jetzt?"

"Jetzt? Oh, jetzt bin ich noch so neu hier oben, – etwas ver-wirrt, können Sie sich denken."

"Ah, – verwirrt."

"Ja, ich habe auch nicht ganz richtig geschlafen, und dann war das erste Frühstück zu ausgiebig … Ich bin ja ein ordentliches Frühstück gewöhnt, aber das heutige war doch, wie es scheint, zu kompakt für mich, too rich, wie die Engländer sagen. Kurz, ich fühle mich etwas beklommen, und besonders wollte mir heute morgen meine Zigarre nicht schmecken, – denken Sie! Das passiert mir so gut wie nie, nur, wenn ich ernstlich krank bin, – und nun schmeckte sie mir heute wie Leder. Ich mußte sie wegwerfen, es hatte keinen Zweck, daß ich es forcier-te. Sind Sie Raucher, wenn ich fragen darf? Nicht? Dann können Sie sich nicht vorstellen, was für ein Ärger und eine Enttäu-schung das für jemanden ist, der von Jugend auf so besonders gern raucht, wie ich …"

"Ich bin ohne Erfahrung auf diesem Gebiet", erwiderte Settembrini, "und befinde mich übrigens mit dieser Unerfahrenheit in keiner schlechten Gesellschaft. Eine Reihe von edlen und nüchternen Geistern haben den Rauchtabak verabscheut. Auch Carducci liebte ihn nicht. Aber da werden Sie bei unserem Rhadamanth Verständnis finden. Er ist ein Anhänger Ihres La-siere."

"Nun, – Laster, Herr Settembrini …"

"Warum nicht? Man muß die Dinge mit Wahrheit und Kraft bezeichnen. Das verstärkt und erhöht das Leben. Auch ich habe Laster."

"Und Hofrath Behrens ist also Zigarrenkenner? Ein reizender Mann."

"Sie finden? Ah, Sie haben also schon seine Bekanntschaft gemacht?"

"Ja, vorhin, als wir fortgingen. Es war beinahe so etwas wie eine Konsultation, aber sine pecunia, wissen Sie. Er sah gleich, daß ich ziemlich anämisch bin. Und dann riet er mir, hier so zu leben 'wie mein Vetter, viel auf dem Balkon zu liegen, und messen soll ich mich auch gleich mit, hat er gesagt."

"Wahrhaftig?" rief Settembrini … "Vorzüglich!" rief er nach oben in die Luft hinein, indem er sich lachend zurückneigte. "Wie heißt es doch in der Oper Ihres Meisters? 'Der Vogelfän-ger bin ich ja, stets lustig, heisa hopsassa!' Kurz, das ist sehr amüsant. Sie werden seinen Rat befolgen? Zweifelsohne. Wie sollten sie nicht. Ein Satanskerl, dieser Rhadamanth! Und wirk-lich 'stets lustig', wenn auch zuweilen ein wenig gezwungen. Er neigt zur Schwermut. Sein Laster bekommt ihm nicht – sonst wäre es übrigens kein Laster – , der Rauchtabak macht ihn schwermütig, – weshalb unsere verehrungswürdige Frau Oberin die Vorräte in Verwahrung genommen hat und ihm nur kleine Tagesrationen zuteilt. Es soll vorkommen, daß er der Versu-chung unterliegt, sie zu bestehlen, und dann verfällt er der Schwermut. Mit einem Wort: eine verworrene Seele. Sie ken-nen auch unsere Oberin schon? Nicht? Aber das ist ein Fehler! Sie tun unrecht, sich nicht um ihre Bekanntschaft zu bewerben. Aus dem Geschlechte derer von Mylendonk, mein Herr! Von der mediceischen Venus unterscheidet sie sich dadurch, daß sie dort, wo sich bei der Göttin der Busen befindet, ein Kreuz zu tragen pflegt…"

"Ha, ha, ausgezeichnet!" lachte Hans Castorp.

"Mit Vornamen heißt sie Adriatica."

"Auch das noch?" rief Hans Castorp … "Hören Sie, das ist merkwürdig! Von Mylendonk und dann Adriatica, es klingt, als müßte sie längst gestorben sein. Geradezu mittelalterlich mutet es an."

"Mein geehrter Herr", antwortete Settembrini, "hier gibt es manches, was 'mittelalterlich anmutet', wie Sie sich auszudrük-ken belieben. Ich für meine Person bin überzeugt, daß unser Rhadamanth einzig und allein aus künstlerischem Stilgefühl dieses Petrefakt zur Oberaufseherin seines Schreckenspalastes gemacht hat. Er ist nämlich Künstler, – das wissen Sie nicht? Er malt in Öl. Was wollen Sie, das ist nicht verboten, nicht wahr, es steht jedem frei … Frau Adriatica sagt es jedem, der es hören will, und den andern auch, daß eine Mylendonk Mitte des drei-zehnten Jahrhunderts Äbtissin eines Stiftes zu Bonn am Rheine war. Sie selbst kann nicht lange nach diesem Zeitpunkt das Licht der Welt erblickt haben …"

"Ha, ha, ha! Ich finde Sie aber spöttisch, Herr Settembrini."

"Spöttisch? Sie meinen: boshaft. Ja, boshaft bin ich ein wenig –", sagte Settembrini. "Mein Kummer ist, daß ich verurteilt bin, meine Bosheit an so elende Gegenstände zu verschwenden. Ich hoffe, Sie haben nichts gegen die Bosheit, Ingenieur? In meinen Augen ist sie die glänzendste Waffe der Vernunft gegen die Mächte der Finsternis und der Häßlichkeit. Bosheit, mein Herr, ist der Geist der Kritik, und Kritik bedeutet den Ursprung des Fortschrittes und der Aufklärung." Und im Nu begann er von Petrarca zu reden, den er den "Vater der Neuzeit" nannte.

"Wir müssen nun aber in die Liegekur", sagte Joachim be-sonnen.

Der Literat hatte seine Worte mit anmutigen Handbewegungen begleitet. Nun rundete er dies Gestenspiel mit einer Gebär-de ab, die auf Joachim hinwies, und sagte:

"Unser Leutnant treibt zum Dienst: Gehen wir also. Wir haen den gleichen Weg, – 'rechtshin, welcher zu Dis, des Gewalen, Mauern hinanstrebt'. Ah, Virgil, Virgil! Meine Herren, er ist unübertroffen. Ich glaube an den Fortschritt, gewiß. Aber Virgil verfügt über Beiwörter, wie kein Moderner sie hat …" I lud während sie sich auf den Heimweg machten, fing er an, la-teinische Verse in italienischer Aussprache vorzutragen, unter-brach sich jedoch, als irgendein junges Mädchen, eine Tochter des Städtchens, wie es schien, und durchaus nicht sonderlich hübsch, ihnen entgegenkam, und verlegte sich auf ein schwere-nöterhaftes Lächeln und Trällern. "T, t, t", schnalzte er. "Ei, ei, ei! La, la la! Du süßes Käferchen, willst du die Meine sein? Seht doch, 'es funkelt ihr Auge in schlüpfrigem Licht'", zitierte er – Gott wußte, was es war – und sandte dem verlegenen Rücken des Mädchens eine Kußhand nach.

Das ist ja ein rechter Windbeutel, dachte Hans Castorp, und dabei blieb er auch, als Settembrini nach seiner galanten An-wandlung wieder zu medisieren begann. Hauptsächlich hatte er es auf Hofrat Behrens abgesehen, stichelte auf den Umfang seiner Füße und hielt sich bei seinem Titel auf, den er von einem an Gehirntuberkulose leidenden Prinzen erhalten habe. Von dem skandalösen Lebenswandel dieses Prinzen spreche noch heute die ganze Gegend, aber Rhadamanth habe ein Auge zuge drückt, beide Augen, jeder Zoll ein Hofrat. Ob die Herren übri-gens wüßten, daß er der Erfinder der Sommersaison sei? Ja, er und kein anderer. Dem Verdienste seine Krone. Früher hätten im Sommer nur die Treuesten der Treuen in diesem Tale ausge-harrt. Da habe "unser Humorist" mit unbestechlichem Scharf-blick erkannt, daß dieser Mißstand nichts als die Frucht eines Vorurteils sei. Er habe die Lehre aufgestellt, daß, wenigstens so-weit sein Institut in Frage komme, die sommerliche Kur nicht nur nicht weniger empfehlenswert, sondern sogar besonders wirksam und geradezu unentbehrlich sei. Und er habe dieses Theorem unter die Leute zu bringen gewußt, habe populäre Ar-tikel darüber verfaßt und sie in die Presse lanciert. Seitdem gehe das Geschäft im Sommer so flott wie im Winter. "Genie!" sagte Settembrini. "In-tu-i-tion!" sagte er. Und dann hechelte er die übrigen Heilanstalten des Platzes durch und lobte auf beißende Art den Erwerbssinn ihrer Inhaber. Da sei Professor Kafka … Alljährlich, zur kritischen Zeit der Schneeschmelze, wenn viele Patienten abzureisen verlangten, finde Professor Kafka sich ge-zwungen, rasch noch auf acht Tage zu verreisen, wobei er ver-spreche, nach seiner Rückkehr die Entlassung vorzunehmen. Dann aber bleibe er sechs Wochen aus, und die Ärmsten warte-ten, wobei sich, am Rande bemerkt, ihre Rechnungen vergrößerten. Bis nach Fiume lasse man Kafka kommen, bevor man fünftausend gute Schweizer Franken sichergestellt, worüber vierzehn Tage vergingen. Einen Tag nach der Ankunft des Cele-brissimo sterbe alsdann der Kranke. Was Doktor Salzmann be-treffe, so sage er dem Professor Kafka nach, daß er seine Sprit-zen nicht rein genug halte und den Kranken Mischinfektionen beibringe. Er fahre auf Gummi, sagte Salzmann, damit seine To-ten ihn nicht hörten, – wogegen wiederum Kafka behaupte, bei Salzmann werde den Patienten "des Rebstocks erheiternde Ga-be" in solchen Mengen aufgenötigt – nämlich ebenfalls behufs Abrundung ihrer Rechnungen – , daß die Leute wie die Fliegen stürben, und zwar nicht an Phthise, sondern an Trinkerleber …

So ging es weiter, und Hans Castorp lachte herzlich und gut-mütig über diesen Sturzbach zungenfertiger Lästerungen. Die Suade des Italieners lautete eigentümlich angenehm in ihrer un-bedingten, von jeder Mundart freien Reinheit und Richtigkeit. Die Worte kamen prall, nett und wie neugeschaffen von seinen beweglichen Lippen, er genoß die gebildeten, bissig behenden Wendungen und Formen, deren er sich bediente, ja selbst die grammatische Beugung und Abwandlung der Wörter mit einem offensichtlichen, sich mitteilenden und heiter stimmenden Be- agen und schien viel zu klaren und gegenwärtigen Geistes, um sich auch nur ein einziges Mal zu versprechen.

"Sie sprechen so drollig, Herr Settembrini", sagte Hans Castorp, "so lebhaft, – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll."

"Plastisch, wie?" entgegnete der Italiener und fächelte sich mit dem Taschentuch, obgleich es ja eher kühl war. "Das wird das Wort sein, das Sie suchen. Ich habe eine plastische Art zu sprechen, wollen Sie sagen. Aber halt!" rief er. "Was sehe ich! Dort wandeln unsere Höllenrichter! Welch ein An-blick!"

Die Spaziergänger hatten die Wegbiegung schon wieder zu-rückgelegt. War es den Reden Settembrinis, dem Gefälle der Straße zu danken, oder hatten sie sich in Wahrheit weniger weit vom Sanatorium entfernt, als Hans Castorp geglaubt hatte, – denn ein Weg, den wir zum ersten Male gehen, ist bedeutend länger als derselbe, wenn wir ihn schon kennen –: jedenfalls war der Rückmarsch überraschend geschwind vonstatten gegan-gen. Settembrini hatte recht, es war das Ärztepaar, das dort un-len auf dem freien Platz die Rückseite des Sanatoriums entlang-strebte, voran der Hofrat im weißen Kittel, mit heraustretendem Genick und die Hände wie Ruder bewegend, auf seiner Fährte Dr. Krokowski im schwarzen Oberhemd und desto selbstbe-wußter um sich blickend, als der klinische Brauch ihn nötigte, sich auf Dienstgängen hinter dem Chef zu halten.

"Ah, Krokowski!" rief Settembrini. "Dort geht er und weiß alle Geheimnisse unserer Damen. Man bittet, die feine Symbolik seiner Kleidung zu beachten. Er trägt sich schwarz, um anzu-deuten, daß sein eigenstes Studiengebiet die Nacht ist. Dieser Mann hat in seinem Kopf nur einen Gedanken, und der ist schmutzig. Ingenieur, wie kommt es, daß wir von ihm noch gar nicht gesprochen haben! Sie haben seine Bekanntschaft ge-macht?"

Hans Castorp bejahte.

"Nun, und? Ich fange an zu vermuten, daß auch er Ihnen ge-fallen hat?"

"Ich weiß wirklich nicht, Herr Settembrini. Ich bin ihm nur erst flüchtig begegnet. Und dann bin ich auch nicht sehr rasch von Urteil. Ich sehe mir die Leute an und denke: So bist du also? Nun gut."

"Das ist Dumpfsinn!" antwortete der Italiener. "Urteilen Sie! Dafür hat die Natur Ihnen Augen und Verstand gegeben. Sie fanden, ich spräche boshaft; aber wenn ich es tat, so geschah es vielleicht nicht ohne pädagogische Absicht. Wir Humanisten haben alle eine pädagogische Ader … Meine Herren, der histo-rische Zusammenhang von Humanismus und Pädagogik be-weist ihren psychologischen. Man soll dem Humanisten das Amt der Erziehung nicht nehmen, – man kann es ihm nicht nehmen, denn nur bei ihm ist die Überlieferung von der Wür-de und Schönheit des Menschen. Einst löste er den Priester ab, der sich in trüben und menschenfeindlichen Zeiten die Führung der Jugend anmaßen durfte. Seitdem, meine Herren, ist schlechterdings kein neuer Erziehertyp mehr entstanden. Das humanistische Gymnasium, – nennen Sie mich rückschrittlich, Ingenieur, aber grundsätzlich, in abstracto, ich bitte, mich wohl zu verstehen, bleibe ich sein Anhänger …"

Noch im Lift führte er dies weiter aus und verstummte erst, als die Vettern im zweiten Stockwerk den Aufzug verließen. Er selber fuhr bis zum dritten weiter, wo er, wie Joachim erzählte, ein kleines Zimmer nach hinten hinaus bewohnte.

"Er hat wohl kein Geld?" fragte Hans Castorp, der Joachim begleitete. Es sah bei Joachim genau so aus wie drüben bei ihm.

"Nein", sagte Joachim, "das hat er wohl nicht. Oder doch nur gerade so viel, um den Aufenthalt hier bestreiten zu können. Sein Vater war auch schon Literat, weißt du, und ich glaube, der Großvater auch."

"Ja, dann", sagte Hans Castorp. "Ist er denn eigentlich ernst-haft krank?"

"Es ist nicht gefährlich, soviel ich weiß, aber hartnäckig und kommt immer wieder. Er hat es schon seit Jahren und war zwi-schendurch mal fort, mußte aber bald wieder einrücken."

"Armer Kerl! Wo er doch so fürs Arbeiten zu schwärmen scheint. Riesig gesprächig ist er dabei, so leicht kommt er von einem aufs andere. Mit dem Mädchen war er ja etwas frech, es genierte mich momentan. Aber was er nachher von der mensch-lichen Würde sagte, klang doch famos, ganz wie bei einem Festakt. Bist du denn öfter mit ihm zusammen?",

Der Zauberberg. Volume 1

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