Читать книгу Der Zauberberg. Volume 1 - Томас Манн, Thomas Mann - Страница 6

Erstes Kapitel
Im Restaurant

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Im Restaurant war es hell, elegant und gemütlich. Es lag gleich rechts an der Halle, den Konversationsräumen gegenüber, und wurde, wie Joachim erklärte, hauptsächlich von neu angekom-menen, außer der Zeit speisenden Gästen, und von solchen, die Besuch hatten, benutzt. Aber auch Geburtstage und bevorste-hende Abreisen wurden dort festlich begangen, sowie günstige Ergebnisse von Generaluntersuchungen. Manchmal gehe es hoch her im Restaurant, sagte Joachim; auch Champagner wer-de serviert. Jetzt saß niemand als eine einzelne etwa dreißigjäh-rige Dame darin, die in einem Buche las, aber dabei vor sich hin summte und mit dem Mittelfinger der linken Hand immerfort leicht auf das Tischtuch klopfte. Als die jungen Leute sich nie-dergelassen hatten, wechselte sie den Platz, um ihnen den Rük-ken zuzuwenden. Sie sei menschenscheu, erklärte Joachim leise, und esse immer mit einem Buche im Restaurant. Man wollte wissen, daß sie schon als ganz junges Mädchen in Lungensana-lorien eingetreten sei und seitdem nicht mehr in der Welt ge-lebt habe.

"Nun, dann bist du ja noch ein junger Anfänger gegen sie mit deinen fünf Monaten und wirst es noch sein, wenn du ein Jahr auf dem Buckel hast", sagte Hans Castorp zu seinem Vetter; worauf Joachim mit jenem Achselzucken, das ihm früher nicht eigen gewesen war, zur Menükarte griff.

Sie hatten den erhöhten Tisch am Fenster genommen, den hübschesten Platz. An dem cremefarbenen Vorhang saßen sie einander gegenüber, die Gesichter beglüht vom Schein des rot umhüllten elektrischen Tischlämpchens. Hans Castorp faltete seine frisch gewaschenen Hände und rieb sie behaglich-erwartungsvoll aneinander, wie er zu tun pflegte, wenn er sich zu Ti-sche setzte, – vielleicht weil seine Vorfahren vor der Suppe ge-betet hatten. Ein freundliches, gaumig sprechendes Mädchen in schwarzem Kleide mit weißer Schürze und einem großen Ge-sicht von überaus gesunder Farbe bediente sie, und zu seiner großen Heiterkeit ließ Hans Castorp sich belehren, daß man die Kellnerinnen hier "Saaltöchter" nenne. Sie bestellten eine Fla-sche Gruaud Larose bei ihr, die Hans Castorp noch einmal fort-schickte, um sie besser temperieren zu lassen. Das Essen war vorzüglich. Es gab Spargelsuppe, gefüllte Tomaten, Braten mit vielerlei Zutat, eine besonders gut bereitete süße Speise, eine Käseplatte und Obst. Hans Castorp aß sehr stark, obgleich sein Appetit sich nicht als so lebhaft erwies, wie er geglaubt hatte. Aber er war gewohnt, viel zu essen, auch wenn er keinen Hunger hatte, und zwar aus Selbstachtung.

Joachim tat den Gerichten nicht viel Ehre an. Er hatte die Küche satt, sagte er, das hätten sie alle hier oben, und es sei Brauch, auf das Essen zu schimpfen; denn wenn man hier ewig und drei Tage sitze … Dagegen trank er mit Vergnügen, ja mit einer gewissen Hingebung von dem Wein, und gab unter sorg-fältiger Vermeidung allzu gefühlvoller Wendungen wiederholt seiner Genugtuung Ausdruck, daß jemand da sei, mit dem man ein vernünftiges Wort reden könne.

"Ja, es ist brillant, daß du gekommen bist!" sagte er, und seine gemächliche Stimme war bewegt. "Ich kann wohl sagen, es ist für mich geradezu ein Ereignis. Das ist doch einmal eine Ab-wechslung, – ich meine, es ist ein Einschnitt, eine Gliederung in dem ewigen, grenzenlosen Einerlei …"

"Aber die Zeit muß euch eigentlich schnell hier vergehen", meinte Hans Castorp.

"Schnell und langsam, wie du nun willst", antwortete Joachim. "Sie vergeht überhaupt nicht, will ich dir sagen, es ist gar keine Zeit, und es ist auch kein Leben, – nein, das ist es nicht", sagte er kopfschüttelnd und griff wieder zum Glase.

Auch Hans Castorp trank, obgleich sein Gesicht nun wie Feuer brannte. Aber am Körper war ihm noch immer kalt, und eine besondere freudige und doch etwas quälende Unruhe war in seinen Gliedern. Seine Worte überhasteten sich, er versprach sich des öfteren und ging mit einer wegwerfenden Handbewe-gung darüber hin. Übrigens war auch Joachim in belebter Stim-mung, und um so freier und aufgeräumter ging ihr Gespräch, als die summende, pochende Dame ganz plötzlich aufgestanden und davongegangen war. Sie gestikulierten beim Essen mit den Gabeln, machten, einen Bissen in der Backe, wichtige Mienen, lachten, nickten, hoben die Schultern und hatten noch nicht or-dentlich hinuntergeschluckt, wenn sie schon weitersprachen. Joachim wollte von Hamburg hören und hatte das Gespräch auf die geplante Eibregulierung gebracht.

"Epochal!" sagte Hans Castorp. "Epochal für die Entwicklung unserer Schiffahrt, – gar nicht zu überschätzen. Wir setzen fünf-zig Millionen als sofortige einmalige Ausgabe dafür ins Budget, und du kannst überzeugt sein, wir wissen genau, was wir tun."

Übrigens sprang er, bei aller Wichtigkeit, die er der Eibregulierung beimaß, gleich wieder ab von diesem Thema und ver-langte, daß Joachim ihm Weiteres von dem Leben "hier oben" und von den Gästen erzähle, was auch bereitwillig geschah, da Joachim froh war, sich erleichtern und mitteilen zu können. Das von den Leichen, die man die Bob-Bahn hinuntersandte, mußte er wiederholen und noch einmal ausdrücklich versichern, daß es auf Wahrheit beruhe. Da Hans Castorp wieder vom La-chen ergriffen wurde, lachte auch er, was er herzlich zu genie-ßen schien, und ließ andere komische Dinge hören, um der Ausgelassenheit Nahrung zu geben. Eine Dame sitze mit ihm am Tische, namens Frau Stöhr, ziemlich krank übrigens, eine Musikergattin aus Cannstatt, – die sei das Ungebildetste, was ihm jemals vorgekommen. "Desinfiszieren", sage sie, – aber in vollstem Ernst. Und den Assistenten Krokowski nenne sie den "Fomulus". Das müsse man nun hinunterschlucken, ohne das Gesicht zu verziehen. Außerdem sei sie klatschsüchtig, wie übrigens die meisten hier oben, und einer anderen Dame, Frau Iltis, sage sie nach, sie trage ein "Sterilett". "Sterilett nennt sie das, – das ist doch unbezahlbar!" Und halb liegend, gegen die Lehnen ihrer Stühle zurückgeworfen, lachten sie so sehr, daß ihnen der Leib bebte und sie fast gleichzeitig Schluckauf bekamen.

Zwischendurch betrübte Joachim sich und gedachte seines Loses.

"Ja, da sitzen wir nun und lachen", sagte er mit schmerzendem Gesicht und zuweilen von den Erschütterungen seines Zwerchfelles unterbrochen; "und dabei ist gar nicht abzusehen, wann ich hier wegkomme, denn wenn Behrens sagt: noch ein halbes Jahr, dann ist es knapp gerechnet, man muß sich auf mehr gefaßt machen. Aber es ist doch hart, sage mal selbst, ob es nicht traurig für mich ist. Da war ich nun schon genommen, und im nächsten Monat könnte ich meine Offiziersprüfung machen. Und nun lungere ich hier herum mit dem Thermometer im Mund und zähle die Schnitzer von dieser ungebildeten Frau Stöhr und versäume die Zeit. Ein Jahr spielt solch eine Rolle in unserem Alter, es bringt im Leben unten so viele Veränderun-gen und Fortschritte mit sich. Und ich muß hier stagnieren wie ein Wasserloch, – ja, ganz wie ein fauliger Tümpel, es ist gar kein krasser Vergleich …"

Sonderbarerweise antwortete Hans Castorp hierauf nur mit der Frage, ob man hier eigentlich Porter bekommen könne, und als sein Vetter ihn etwas erstaunt betrachtete, sah er, daß jener im Einschlafen begriffen war, – eigentlich schlief er schon.

"Aber du schläfst ja!" sagte Joachim. "Komm, es ist Zeit, zu Bett zu gehen, für uns beide."

"Es ist überhaupt keine Zeit", sagte Hans Castorp mit schwe-rer Zunge. Aber er ging doch mit, etwas gebückt und steifbei-nig, wie ein Mensch, der von Müdigkeit förmlich zu Boden ge-zogen wird, – nahm sich jedoch gewaltsam zusammen, als er in der nur noch matt erleuchteten Halle Joachim sagen hörte:

"Da sitzt Krokowski. Ich muß dich, glaube ich, rasch noch vorstellen."

Dr. Krokowski saß im Hellen, am Kamin des einen Konversationszimmers, gleich bei der offenen Schiebetür, und las eine Zeitung. Er stand auf, als die jungen Leute auf ihn zutraten und Joachim in militärischer Haltung sagte:

"Darf ich Ihnen, bitte, meinen Vetter Castorp aus Hamburg vorstellen, Herr Doktor. Er ist eben erst angekommen."

Dr. Krokowski begrüßte den neuen Hausgenossen mit einer gewissen heiteren, stämmigen und aufmunternden Herzhaftigkeit, als wollte er andeuten, daß Aug in Auge mit ihm jede Be-fangenheit überflüssig und einzig fröhliches Vertrauen am Plat-ze sei. Er war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, breitschultrig, fett, bedeutend kleiner als die beiden, die vor ihm standen, so daß er den Kopf schräg zurücklegen mußte, um ihnen ins Gesicht zu sehen, – und außerordentlich bleich, von durchschei-nender, ja phosphoreszierender Blässe, die noch gehoben wurde durch die dunkle Glut seiner Augen, die Schwärze seiner Brau-en und seines ziemlich langen, in zwei Spitzen auslaufenden Vollbartes, der bereits ein paar weiße Fäden zeigte. Er trug einen schwarzen, schon etwas abgenutzten Sakkoanzug, schwarze, durchbrochene, sandalenartige Halbschuhe zu dicken, grauwol-lenen Socken und einen weich überfallenden Halskragen, wie Hans Castorp ihn bis dahin nur bei einem Photographen in Danzig gesehen hatte und welcher der Erscheinung Dr. Kro-kowskis in der Tat ein ateliermäßiges Gepräge verlieh. Herzlich lächelnd, so daß in seinem Barte die gelblichen Zähne sichtbar wurden, schüttelte er dem jungen Manne die Hand, indem er mit baritonaler Stimme und etwas fremdländisch schleppenden Akzenten sagte:

"Seien Sie uns willkommen, Herr Castorp! Möchten Sie sich rasch einleben und sich wohlfühlen in unserer Mitte. Sie kom-men zu uns als Patient, wenn ich mir die Frage erlauben darf?"

Es war rührend zu sehen, wie Hans Castorp arbeitete, um sich artig zu erweisen und seiner Schläfrigkeit Herr zu werden. Er ärgerte sich, so schlecht in Form zu sein, und sah mit dem miß-trauischen Selbstbewußtsein junger Leute in dem Lächeln und dem aufmunternden Wesen des Assistenten Zeichen nachsichti-gen Spottes. Er antwortete, indem er von den drei Wochen sprach, auch seines Examens erwähnte und hinzufügte, daß er, gottlob, ganz gesund sei.

"Wahrhaftig?" fragte Dr. Krokowski, indem er seinen Kopf wie neckend schräg vorwärts stieß und sein Lächeln verstärkte … "Aber dann sind Sie eine höchst studierenswerte Erscheinung! Mir ist nämlich ein ganz gesunder Mensch noch nicht vorgekommen. Was für ein Examen haben Sie abgelegt, wenn die Frage erlaubt ist?"

"Ich bin Ingenieur, Herr Doktor", antwortete Hans Castorp mit bescheidener Würde.

"Ah, Ingenieur!" Und Dr. Krokowskis Lächeln zog sich gleichsam zurück, büßte an Kraft und Herzlichkeit für den Au-genblick etwas ein. "Das ist wacker. Und Sie werden hier also keinerlei ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen, weder in körperlicher noch in psychischer Hinsicht?"

"Nein, ich danke tausendmal!" sagte Hans Castorp und wäre fast einen Schritt zurückgewichen.

Da brach das Lächeln Dr. Krokowskis wieder siegreich her-vor, und indem er dem jungen Manne aufs neue die Hand schüttelte, rief er mit lauter Stimme:

"Nun, so schlafen Sie denn wohl, Herr Castorp, – im Vollgefühl Ihrer untadeligen Gesundheit! Schlafen Sie wohl und auf Wiedersehn!" – Damit entließ er die jungen Leute und setzte sich wieder zu seiner Zeitung nieder.

Der Aufzug hatte keine Bedienung mehr, und so legten sie zu Fuß die Treppen zurück, schweigend und etwas verwirrt von der Begegnung mit Dr. Krokowski. Joachim begleitete Hans Castorp auf Nummer Vierunddreißig, wo der Hinkende das Gepäck des Ankömmlings richtig eingeliefert hatte, und sie plauderten noch eine Viertelstunde, während Hans Castorp Nacht – und Waschzeug auspackte und eine dicke, milde Ziga-rette dazu rauchte. Zur Zigarre kam er heute nicht mehr, was ihm wunderlich und außerordentlich erschien.

"Er sieht sehr bedeutend aus", sagte er, indem er beim Sprechen den eingeatmeten Rauch hervorsprudelte. "Wachsbleich ist er. Aber mit seiner Chaussure, höre mal, da steht es scheußlich. Grauwollene Socken und dann diese Sandalen. War er zum Schluß eigentlich beleidigt?"

"Er ist etwas empfindlich", gab Joachim zu. "Du hättest die ärztliche Behandlung nicht so brüsk zurückweisen sollen, we-nigstens nicht die psychische. Er sieht es nicht gern, wenn man sich dem entzieht. Auf mich ist er auch nicht besonders zu spre-chen, weil ich ihm nicht genug anvertraue. Aber dann und wann erzähl ich ihm doch einen Traum, damit er was zu zer-gliedern hat."

"Nun, dann hab ich ihn eben vor den Kopf gestoßen", sagte Hans Castorp verdrießlich; denn es machte ihn unzufrieden mit sich selbst, jemanden gekränkt zu haben, und so kam denn die Müdigkeit auch mit erneuter Stärke über ihn.

"Gute Nacht", sagte er. "Ich falle um."

"Um acht hole ich dich zum Frühstück", sagte Joachim und gingHans Castorp machte nur flüchtige Nachttoilette. Der Schlaf übermannte ihn, kaum daß er das Nachttischlämpchen gelöscht hatte, aber er schreckte noch einmal auf, da er sich erinnerte, daß in diesem Bette vorgestern jemand gestorben sei. "Es wird nicht das erstemal gewesen ein", sagte er zu sich, als könne ihm das zur Beruhigung dienen. "Es ist eben ein Totenbett, ein gewöhn-liches Totenbett." Und er schlief ein.

Aber sobald er eingeschlafen war, begann er zu träumen und träumte fast unaufhörlich bis zum anderen Morgen. Hauptsäch-lich sah er Joachim Ziemßen in sonderbar verrenkter Lage auf einem Bobschlitten eine schräge Bahn hinabfahren. Er war so phosphoreszierend bleich wie Dr. Krokowski, und vorneauf saß der Herrenreiter, der sehr unbestimmt aussah, wie jemand, den man lediglich hat husten hören, und lenkte. "Das ist uns doch ganz einerlei, – uns hier oben", sagte der verrenkte Joachim, und dann war er es, nicht der Herrenreiter, der so grauenhaft breiig hustete. Darüber mußte Hans Castorp bitterlich weinen und sah ein, daß er in die Apotheke laufen müsse, um sich Coldcream zu besorgen. Aber am Wege saß Frau Iltis mit einer spitzen Schnauze und hielt etwas in der Hand, was offenbar ihr "Sterilett" sein sollte, aber nichts weiter war als ein Sicherheits-Rasierapparat. Das machte Hans Castorp nun wieder lachen, und so wurde er zwischen verschiedenen Gemütsbewegungen hin und her geworfen, bis der Morgen durch seine halboffene Bal-kontür graute und ihn weckte.

Der Zauberberg. Volume 1

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