Читать книгу Der Zauberberg. Volume 1 - Томас Манн, Thomas Mann - Страница 13

Drittes Kapitel
Gedankenschärfe

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Aber Joachim konnte nur noch behindert und undeutlich ant-worten. Er hatte aus einem rotledernen, mit Samt gefütterten Etui, das auf seinem Tische lag, ein kleines Thermometer ge-nommen und das untere, mit Quecksilber gefüllte Ende in den Mund gesteckt. Links unter der Zunge hielt er es, so, daß ihm "las gläserne Instrument schräg aufwärts aus dem Munde her-vorragte. Dann machte er Haustoilette, zog Schuhe und eine lilewkaartige Joppe an, nahm eine gedruckte Tabelle nebst Blei-stift vom Tisch, ferner ein Buch, eine russische Grammatik – denn er trieb Russisch, weil er, wie er sagte, dienstlichen Vorteil davon erhoffte – , und so ausgerüstet nahm er draußen auf dem Balkon im Liegestuhl Platz, indem er eine Kamelhaardecke nur leicht über die Füße warf Sie war kaum nötig: schon während der letzten Viertelstunde war die Wolkenschicht dünner und dünner geworden, und die Sonne brach durch, so sommerlich warm und blendend, daß oachim seinen Kopf mit einem weißleinenen Schirm schützte, der vermittelst einer kleinen, sinnreichen Vorrichtung an der Armlehne des Stuhles zu befestigen und dem Stande der Sonne nach zu verstellen war. Hans Castorp lobte diese Erfindung. Er wollte das Ergebnis der Messung abwarten und sah unterdessen zu, wie alles gemacht wurde, betrachtete auch den Pelzsack, der in einem Winkel der Loggia lehnte (Joachim bediente sich seiner an kalten Tagen), und blickte, die Ellenbogen auf der Brü-stung, in den Garten hinab, wo die allgemeine Liegehalle nun von lesend, schreibend und plaudernd ausgestreckten Patienten bevölkert war. Übrigens sah man nur einen Teil des Inneren, et-wa fünf Stühle.

"Aber wie lange dauert denn das?" fragte Hans Castorp und wandte sich um. Joachim hob seinen Finger empor.

"Die müssen doch um sein – sieben Minuten!"

Joachim schüttelte den Kopf Etwas später nahm er das Thermometer aus dem Mund, betrachtete es und sagte dabei:

"Ja, wenn man ihr aufpaßt, der Zeit, dann vergeht sie sehr langsam. Ich habe das Messen, viermal am Tage, ordentlich gern, weil man doch dabei merkt, was das eigentlich ist: eine Minute oder gar ganze sieben, – wo man sich hier die sieben Tage der Woche so gräßlich um die Ohren schlägt."

"Du sagst 'eigentlich'. 'Eigentlich' kannst du nicht sagen", entgegnete Hans Castorp. Er saß mit einem Schenkel auf der Brüstung, und das Weiße seiner Augen war rot geädert. "Die Zeit ist doch überhaupt nicht 'eigentlich'. Wenn sie einem lang vorkommt, so ist sie lang, und wenn sie einem kurz vorkommt, so ist sie kurz, aber wie lang oder wie kurz sie in Wirklichkeit ist, das weiß doch niemand." Er war durchaus nicht gewohnt, zu philosophieren und fühlte dennoch den Drang dazu.

Joachim widersprach.

"Wieso denn. Nein. Wir messen sie doch. Wir haben doch Uhren und Kalender, und wenn ein Monat um ist, dann ist er für dich und mich und uns alle um."

"Dann paß auf", sagte Hans Castorp und hielt sogar den Zei-gefinger neben seine trüben Augen. "Eine Minute ist also so lang, wie sie dir vorkommt, wenn du dich mißt?"

"Eine Minute ist so lang … sie dauert so lange, wie der Se-kundenzeiger braucht, um seinen Kreis zu beschreiben."

"Aber er braucht ja ganz verschieden lange – für unser Ge-fühl! Und tatsächlich … ich sage: tatsächlich genommen", wie-derholte Hans Castorp und drückte den Zeigefinger so fest ge-gen die Nase, daß er ihre Spitze vollständig umbog, "ist das eine Bewegung, eine räumliche Bewegung, nicht wahr? Halt, warte! Wir messen also die Zeit mit dem Raume, aber das ist doch ebenso, als wollten wir den Raum an der Zeit messen, – was doch nur ganz unwissenschaftliche Leute tun. Von Hamburg nach Davos sind zwanzig Stunden, – ja, mit der Eisenbahn. Aber zu Fuß, wie lange ist es da? Und in Gedanken? Keine Se-kunde!"

"Hör mal", sagte Joachim, "was hast du denn? Ich glaube, es greift dich an hier bei uns?"

"Sei still! Ich bin sehr scharf im Kopf heute. Was ist denn die Zeit?" fragte Hans Castorp und bog seine Nasenspitze so ge-waltsam zur Seite, daß sie weiß und blutleer wurde. "Willst du mir das mal sagen? Den Raum nehmen wir doch mit unseren Organen wahr, mit dem Gesichtssinn und dem Tastsinn. Schön. Aber welches ist denn unser Zeitorgan? Willst du mir das mal eben angeben? Siehst du, da sitzt du fest. Aber wie wollen wir denn etwas messen, wovon wir genaugenommen rein gar nichts, nicht eine einzige Eigenschaft auszusagen wissen! Wir sagen: die Zeit läuft ab. Schön, soll sie also mal ablaufen. Aber um sie messen zu können … warte! Um meßbar zu sein, müßte sie doch gleichmäßig ablaufen, und wo steht denn das geschrie-ben, daß sie das tut? Für unser Bewußtsein tut sie es nicht, wir nehmen es nur der Ordnung halber an, daß sie es tut, und unse-re Maße sind doch bloß Konvention, erlaube mir mal …"

"Gut", sagte Joachim, "dann ist es wohl auch bloß Konvention, daß ich hier vier Striche zuviel habe auf meinem Thermometer! Aber wegen dieser fünf Striche muß ich mich hier her-umräkeln und kann nicht Dienst machen, das ist eine ekelhafte Tatsache!"

"Hast.du 37,5?"

"Es geht schon wieder herunter." Und Joachim machte die Eintragung in seine Tabelle. "Gestern abend waren es fast 38, das machte deine Ankunft. Alle, die Besuch bekommen, haben Erhöhung. Aber es ist doch eine Wohltat."

"Ich gehe ja nun auch", sagte Hans Castorp. "Ich habe noch eine Menge Gedanken über die Zeit im Kopf, – es ist ein ganzer Komplex, kann ich wohl sagen. Aber ich will dich jetzt nicht damit aufregen, da du sowieso zuviel Striche hast. Ich werde es schon alles behalten, und wir können später darauf zurückkom-men, vielleicht nach dem Frühstück. Wenn es Frühstückszeit ist, rufst du mich wohl. Ich gehe jetzt auch in die Liegekur, es tut ja nicht weh, gottlob." Und damit ging er an der gläsernen Schei-dewand vorbei in seine eigene Loge hinüber, wo gleichfalls ein Liegestuhl nebst Tischchen aufgeschlagen war, holte sich Ocean steamships" und sein schönes, weiches, dunkelrot und grün gewürfeltes Plaid aus dem reinlich aufgeräumten Zimmer und ließ sich nieder.

Auch er mußte sehr bald den Schirm aufspannen; sowie man lüg, wurde der Sonnenbrand unerträglich. Man lag aber ganz Ungewöhnlich bequem, das stellte Hans Castorp sogleich mit Vergnügen fest, – er erinnerte sich nicht, daß ihm je ein so angenehmer Liegestuhl vorgekommen sei. Das Gestell, ein wenig altmodisch in der Form – was aber nur eine Geschmacksspielerei war, denn der Stuhl war offenbarbestand aus rotbraun poliertem Holz, und eine Matratze mit weichem, kattun-artigem Überzug, eigentlich aus drei hohen Polstern zusam-mengesetzt, reichte vom Fußende bis über die Rückenlehne hinauf Außerdem war vermittelst einer Schnur eine weder zu feste noch zu nachgiebige Nackenrolle mit gesticktem Leinen-Überzug daran befestigt, die von besonders wohltuender Wir-kung war. Hans Castorp stützte einen Arm auf die breite, glatte Fläche der Seitenlehne, blinzelte und ruhte, ohne "Ocean steamships" zu seiner Unterhaltung in Anspruch zu nehmen. Durch die Bögen der Loggia gesehen, wirkte die harte und kar-ge, aber hell besonnte Landschaft draußen gemäldeartig und wie eingerahmt. Hans Castorp betrachtete sie gedankenvoll. Plötz-lich fiel ihm etwas ein, und er sagte laut in die Stille:

"Es war ja eine Zwergin, die uns beim ersten Frühstück be-diente."

"Pst", machte Joachim. "Leise doch. Ja, eine Zwergin. Und?"

"Nichts. Wir. hatten uns noch gar nicht darüber ausgesprochen."

Und dann träumte er weiter. Es war schon zehn Uhr gewesen, als er sich niedergelegt hatte. Eine Stunde verging. Es war eine gewöhnliche Stunde, nicht lang, nicht kurz. Als sie verflos-sen war, tönte ein Gong durch Haus und Garten, erst fern, dann näher, dann wieder fern.

"Frühstück", sagte Joachim, und man hörte, daß er aufstand.

Auch Hans Castorp beendete für diesmal die Liegekur und ging ins Zimmer, um sich ein wenig zurechtzumachen. Die Vet-tern trafen sich auf dem Korridor und gingen hinunter. Hans Castorp sagte:

"Nun, es lag sich ja ausgezeichnet. Was sind denn das für Stühle? Wenn es die hier zu kaufen gibt, dann nehme ich mir einen mit nach Hamburg, man liegt ja darauf wie im Himmel. Oder meinst du, daß Behrens sie eigens nach seinen Angaben hat anfertigen lassen?"

Joachim wußte es nicht. Sie legten ab und betraten zum zweiten Male den Speisesaal, wo die Mahlzeit schon wieder in vollem Gange war.

Es schimmerte weiß im Saale vor lauter Milch: an jedem Platz stand ein großes Glas, wohl ein halber Liter voll.

"Nein", sagte Hans Castorp, als er wieder an seinem Tischende zwischen der Nähterin und der Engländerin Platz genom-men und ergeben seine Serviette entfaltet hatte, obgleich er noch so schwer belastet vom ersten Frühstück war. "Nein", sagte er, "Gott steh mir bei, Milch kann ich überhaupt nicht trinken und am wenigsten jetzt. Ist nicht vielleicht Porter da?" Und er wandte sich zuerst höflich und zart an die Zwergin mit dieser Frage. Leider war keiner da. Aber sie versprach, Kulmbacher Hier zu bringen und brachte es auch. Es war dick, schwarz, braunschaumig und ersetzte den Porter aufs beste. Hans Castorp trank durstig davon aus einem hohen Halbliterglase. Er aß kal-ten Aufschnitt dazu auf Röstbrot. Wieder war Haferbrei aufge-stellt und wieder viel Butter und Obst. Er ließ wenigstens seine Augen darauf ruhen, da er nicht fähig war, sich davon zuzufüh-ren. Auch betrachtete er die Gästeschaft, – die Massen begannen sich für ihn zu teilen; Einzelpersonen traten hervor.

Sein eigener Tisch war komplett, bis auf den oberen Platz ihm gegenüber, welcher, wie er sich belehren ließ, der Doktor-platz war. Denn die Ärzte, wenn ihre Zeit es irgend erlaubte, beteiligten sich an den gemeinsamen Mahlzeiten und wechsel-ten dabei die Tische: an einem jeden war zu oberst ein solcher Doktorplatz freigehalten. Jetzt war keiner von beiden anwe-send; man sagte, sie seien bei einer Operation. Wieder kam der junge Mann mit dem Schnurrbart herein, senkte einmal das Kinn auf die Brust und setzte sich mit sorgenvoll-verschlossener Miene. Wieder saß die Hellblonde, Magere an ihrem Platze und löffelte Yoghurt, als ob dies ihre einzige Speise wäre. Ne-ben ihr saß diesmal eine kleine, muntere alte Dame, die in rus-sischer Zunge auf den stillen jungen Mann einredete, der sie sorgenvoll anblickte und nicht anders als mit Kopfnicken ant-wortete, wobei er jenes Gesicht machte, als habe er etwas Schlechtschmeckendes im Munde. Ihm gegenüber, an der ande-ren Seite der alten Dame, war ein weiteres junges Mädchen pla-ziert, – hübsch war sie, von blühender Gesichtsfarbe und hoher Brust, mit kastanienbraunem, angenehm wellig geordnetem Haar, runden braunen, kindlichen Augen und einem kleinen Rubin an ihrer schönen Hand. Sie lachte viel und sprach eben-falls Russisch, nur Russisch. Sie hieß Marusja, wie Hans Castorp hörte. Ferner bemerkte er beiläufig, daß Joachim mit strengem Ausdruck die Augen niederschlug, wenn sie lachte und sprach.

Settembrini erschien durch den Seiteneingang und schritt schnurrbartkräuselnd zu seinem Platze, der am Ende des Tisches gelegen war, der schräg vor demjenigen Hans Castorps stand. Seine Tischgenossen brachen in schallendes Lachen aus, als er sich niedersetzte; wahrscheinlich hatte er eine Bosheit gesagt. Auch die Mitglieder des "Vereins Halbe Lunge" erkannte Hans Castorp wieder. Hermine Kleefeld schob mit dummen Augen zu ihrem Tische dort drüben vor der einen Verandatür und be-grüßte den wulstlippigen Jüngling, der vorhin so unschicklich seine Jacke emporgerafft hatte. Die elfenbeinfarbene Levi saß neben der fetten und leberfleckigen Iltis unter Unbekannten an dem querstehenden Tische rechts von Hans Castorp.

"Da sind deine Nachbarn", sagte Joachim leise zu seinem Vetter, indem er sich vorneigte … Das Paar ging dicht an Hans Castorp vorbei zu dem letzten Tisch rechts, dem "Schlechten Russentisch" also, wo schon eine Familie mit einem häßlichen Knaben große Haufen Porridge verschlang. Der Mann war schmächtig gebaut und hatte graue und hohle Wangen. Er trug eine braune Lederjoppe und an den Füßen plumpe Filzstiefel mit Spangenverschluß. Seine Ehefrau, ebenfalls klein und zier-lich, in wippendem Federhut, trippelte auf winzigen, hochge-stöckelten Juchtenstiefelchen; eine unsaubere Boa aus Vogel-federn lag um ihren Hals. Hans Castorp betrachtete die beiden mit einer Rücksichtslosigkeit, die ihm sonst fremd war und die er selbst als brutal empfand; doch war es eben das Brutale daran, das ihm plötzlich ein gewisses Vergnügen verursachte. Seine Augen waren zugleich stumpf und zudringlich. Als in demsel-ben Augenblick die Glastür zur Linken zufiel, schmetternd und klirrend, wie beim ersten Frühstück, zuckte er nicht zusammen wie heute früh, sondern schnitt nur eine träge Grimasse; und als er den Kopf nach jener Seite wenden wollte, fand er, daß ihm dies allzu schwer falle und daß es die Mühe nicht lohne. So kam es, daß er auch diesmal nicht zu der Feststellung gelangte, wer mit der Tür denn so liederlich umgehe.

Die Sache war die, daß das Frühstücksbier, sonst nur von mä-ßig benebelnder Wirkung auf seine Natur, den jungen Mann heute vollständig betäubte und lähmte, – es zeitigte Folgen, als hätte er einen Schlag vor die Stirn bekommen. Seine Lider waren wie Blei so schwer, die Zunge gehorchte dem einfachen Gedanken nicht recht, als er aus Artigkeit mit der Engländerin zu plaudern versuchte; auch nur die Richtung des Blicks zu ver-ändern, erforderte große Selbstüberwindung, und hinzu kam, daß der abscheuliche Gesichtsbrand den gestrigen Grad nun wieder vollauf erreicht hatte: seine Wangen schienen ihm ge-dunsen vor Hitze, er atmete schwer, sein Herz pochte wie ein umwickelter Hammer, und wenn er unter all dem nicht sonder-lich litt, so war es deshalb, weil sein Kopf sich in einem Zustand befand, als habe er zwei oder drei Atemzüge von Chloroform getan. Daß Dr. Krokowski doch nun beim Frühstück erschien und an seiner Tafel, ihm gegenüber, Platz nahm, bemerkte er nur traumweise, obgleich der Doktor ihn wiederholentlich scharf ins Auge faßte, während er mit den Damen zu seiner Rechten russisch konversierte, – wobei die jungen Mädchen, näm-lich die blühende Marusja sowohl wie auch die magere Yoghurt-esserin, unterwürfig und schamhaft die Augen vor ihm nieder-schlugen. Übrigens hielt Hans Castorp sich redlich, wie sich von selbst versteht, schwieg, da seine Zunge sich widerspenstig zeigte, lieber still und handhabte Messer und Gabel sogar mit besonderem Anstand. Als sein Vetter ihm zunickte und sich erhob, stand er ebenfalls auf, verneigte sich blind gegen die Tischgenos-sen und ging bestimmten Schrittes hinter Joachim hinaus. "Wann ist denn wieder Liegekur?" fragte er, als sie das Haus verließen. "Das ist das Beste hier, soviel ich sehe. Ich wollte, ich läge schon wieder auf meinem vorzüglichen Stuhl. Gehen wir weit spazieren?"

Der Zauberberg. Volume 1

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