Читать книгу Der Zauberberg. Volume 1 - Томас Манн, Thomas Mann - Страница 14

Drittes Kapitel
Ein wort zuviel

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«Nein», sagte Joachim, «weit darf ich ja gar nicht gehen. Um die-se Zeit gehe ich immer ein bißchen hinunter, durchs Dorf und bis Platz, wenn ich Zeit habe. Man sieht Läden und Leute und kauft ein, was man braucht. Man liegt vor Tische noch eine Stunde, und dann liegt man wieder bis vier Uhr, sei ganz unbesorgt."

Sie gingen im Sonnenschein die Anfahrt hinab und über-schritten den Wasserlauf und das schmale Geleise, die Bergge-stalten der rechten Tallehne vor Augen: das "Kleine Schiahorn", die "Grünen Türme" und den "Dorfberg", die Joachim bei Na-men nannte. Dort drüben, in einiger Höhe, lag der ummauerte Friedhof von Davos-Dorf, – auf diesen ebenfalls wies Joachim mit seinem Stocke hin. Und sie gewannen die Hauptstraße, die, um ein Stockwerk über die Talsohle erhöht, die terrassierte Leh-ne entlang führte.

Von einem Dorf konnte übrigens nicht gut die Rede sein; je-denfalls war nichts davon als der Name übrig. Der Kurort hatte es aufgezehrt, indem er sich immerfort gegen den Taleingang hin ausdehnte, und der Teil der gesamten Siedelung, welcher "Dorf" hieß, ging unmerklich und ohne Unterschied in den als "Davos Platz" bezeichneten über. Hotels und Pensionen, alle mit gedeckten Veranden, Balkons und Liegehallen reichlich ver-sehen, auch kleine Privathäuser, in denen Zimmer zu vermieten waren, lagen zu beiden Seiten; hier und da kamen Neubauten; manchmal setzte auch die Bebauung aus, und die Straße ge-währte den Blick in die offenen Wiesengründe des Tals …

Hans Castorp, in seinem Verlangen nach dem gewohnten, geliebten Lebensreiz, hatte sich wieder eine Zigarre angezündet, und wahrscheinlich dank dem vorangegangenen Biere ver-mochte er zu seiner unaussprechlichen Genugtuung hier und da etwas von dem ersehnten Aroma zu verspüren: nur selten und schwach freilich, – es war eine gewisse nervöse Anstrengung nötig, um eine Ahnung des Vergnügens zu empfangen, und der abscheuliche Ledergeschmack herrschte bei weitem vor. Unfä-hig, sich in seine Ohnmacht zu finden, rang er eine Weile nach dem Genuß, der sich ihm entweder versagte oder nur spottend ahnungsweise von ferne zeigte, und warf die Zigarre endlich er-müdet und angewidert fort. Trotz seiner Benommenheit fühlte er die Höflichkeitsverpflichtung, Konversation zu machen, und suchte sich zu diesem Zwecke der ausgezeichneten Dinge zu erinnern, die er vorhin über die "Zeit" zu sagen gehabt hatte. Allein es erwies sich, daß er den ganzen "Komplex" ohne Rest vergessen hatte und über die Zeit auch nicht den geringsten Ge-danken mehr in seinem Kopfe beherbergte. Dafür begann er von körperlichen Angelegenheiten zu reden, und zwar etwas sonderbar.

"Wann mißt du dich denn wieder?" fragte er. "Nach dem Essen? Ja, das ist gut. Da ist der Organismus in voller Tätigkeit, da muß es sich zeigen. Daß Behrens von mir verlangte, ich sollte mich ebenfalls messen, das war doch wohl nur Spaß, höre mal, – Settembrini lachte ja aus vollem Halse darüber, es hätte doch abso-lut keinen Sinn. Ich habe ja auch nicht mal ein Thermometer."

"Nun", sagte Joachim, "das wäre das wenigste. Du brauchst dir nur eines zu kaufen. Hier sind überall Thermometer zu ha-ben, beinahe in jedem Laden."

"Aber wozu denn! Nein, die Liegekur, die lasse ich mir ge-fallen, die will ich wohl mitmachen, aber das Messen wäre zu-viel für einen Hospitanten, das überlasse ich denn doch lieber euch hier oben. Wenn ich nur wüßte", fuhr Hans Castorp fort, indem er beide Hände zum Herzen führte wie ein Verliebter, "warum ich die ganze Zeit solches Herzklopfen habe, – es ist so beunruhigend, ich denke schon länger darüber nach. Siehst du, man hat Herzklopfen, wenn einem eine ganz besondere Freude bevorsteht oder wenn man sich ängstigt, kurz, bei Gemütsbe-wegungen, nicht? Aber wenn einem das Herz nun ganz von sel-ber klopft, grundlos und sinnlos und sozusagen auf eigene Hand, das finde ich geradezu unheimlich, versteh mich recht, es ist ja so, als ob der Körper seine eigenen Wege ginge und keinen Zusammenhang mit der Seele mehr hätte, gewissermaßen wie ein toter Körper, der ja auch nicht wirklich tot ist – das gibt es gar nicht – , sondern sogar ein sehr lebhaftes Leben führt, nämlich auf eigene Hand: es wachsen ihm noch die Haare und Nägel, und auch sonst soll physikalisch und chemisch, wie ich mir habe sagen lassen, ein überaus munterer Betrieb darin herr-schen …"

"Was sind denn das für Ausdrücke", sagte Joachim besonnen verweisend. "Ein munterer Betrieb!" Und vielleicht rächte er sich damit ein wenig für den Verweis, den er heute früh wegen des "Schellenbaums" erhalten.

"Aber es ist doch so! Es ist ein sehr munterer Betrieb! Warum nimmst du denn Anstoß daran?" fragte Hans Castorp. "Übri-gens erwähnte ich das nur nebenbei. Ich wollte nichts weiter sagen als: es ist unheimlich und quälend, wenn der Körper auf eigene Hand und ohne Zusammenhang mit der Seele lebt und sich wichtig macht, wie bei solchem unmotivierten Herzklopfen. Man sucht förmlich nach einem Sinn dafür, einer Gemüts-bewegung, die dazu gehört, einem Gefühl der Freude oder der Angst, wodurch es sozusagen gerechtfertigt würde, – so geht es wenigstens mir, ich kann nur von mir reden."

"Ja, ja", sagte Joachim seufzend, "es ist wohl so ähnlich, wie wenn man Fieber hat – dabei herrscht auch ein besonders 'mun-terer Betrieb' im Körper, um deinen Ausdruck zu gebrauchen, und da mag es schon sein, daß man sich unwillkürlich nach einer Gemütsbewegung umsieht, wie du sagst, wodurch der Beeb einen halbwegs vernünftigen Sinn bekommt … Aber wir reden so unangenehmes Zeug", sagte er mit bebender Stimme Und brach ab; worauf Hans Castorp nur mit den Achseln zuckte, Und zwar ganz so, wie er es gestern abend zuerst bei Joachim gesehen hatte.

Sie gingen eine Weile schweigend. Dann fragte Joachim:

"Nun, wie gefallen dir denn die Leute hier? Ich meine die an unserem Tisch?"

Hans Castorp machte ein gleichgültig musterndes Gesicht.

"Gott", sagte er, "sie scheinen mir nicht sehr interessant. An den anderen Tischen sitzen, glaube ich, interessantere, aber das kommt einem vielleicht nur so vor. Frau Stöhr sollte sich das Haar waschen lassen, es ist so fett. Und diese Mazurka da, oder wie sie. heißt, kommt mir etwas albern vor. Immer muß sie sich das Taschentuch in den Mund stopfen vor lauter Ki-chern."

Joachim lachte laut über die Namensverdrehung.

"'Mazurka' ist ausgezeichnet!" rief er. "Marusja heißt sie, wenn du erlaubst, – das ist soviel wie Marie. Ja, sie ist wirklich zu ausgelassen", sagte er. "Und dabei hätte sie allen Grund, ge-setzter zu sein, denn sie ist gar nicht wenig krank."

"Das sollte man nicht denken", sagte Hans Castorp. "Sie ist so gut im Stand. Gerade für brustkrank sollte man sie nicht hal-ten." Und er versuchte mit dem Vetter einen flotten Blick zu tauschen, fand aber, daß Joachims sonnverbranntes Gesicht eine fleckige Färbung zeigte, wie sonnverbrannte Gesichter sie an-nehmen, wenn das Blut daraus weicht, und daß sein Mund sich auf ganz eigentümliche Weise verzerrt hatte, – zu einem Aus-druck, der dem jungen Hans Castorp einen unbestimmten Schrecken einflößte und ihn veranlaßte, sofort den Gegenstand zu wechseln und sich nach anderen Personen zu erkundigen, wobei er Marusja und Joachims Gesichtsausdruck rasch zu ver-gessen suchte, was ihm auch völlig gelang.

Die Engländerin mit dem Hagebuttentee hieß Miß Robinson. Die Nähterin war keine Nähterin, sondern Lehrerin an ei-ner staatlichen höheren Töchterschule in Königsberg, und dies war der Grund, weshalb sie sich so richtig ausdrückte. Sie hieß Fräulein Engelhart. Was die muntere alte Dame betraf, so wußte Joachim selber nicht, wie sie hieß, wie lange er auch schon hier oben war. Jedenfalls war sie die Großtante des Yoghurt essen-den jungen Mädchens, mit dem sie beständig im Sanatorium lebte. Aber am kränksten von denen am Tisch war Dr. Blumen-kohl, Leo Blumenkohl aus Odessa, – mit dem Schnurrbart und der sorgenvoll verschlossenen Miene. Schon ganze Jahre war er hier oben …

Es war jetzt städtisches Trottoir, auf dem sie gingen, – die Hauptstraße eines internationalen Treffpunktes, das sah man wohl. Flanierende Kurgäste begegneten ihnen, junge Leute zu-meist, Kavaliere in Sportanzügen und ohne Hut, Damen, eben-falls ohne Hut und in weißen Röcken. Man hörte Russisch und Englisch sprechen. Läden mit schmucken Schaufenstern reihten sich rechts und links, und Hans Castorp, dessen Neu-gier heftig mit seiner glühenden Müdigkeit kämpfte, zwang seine Augen, zu sehen, und verweilte lange vor einem Herren-modegeschäft, um festzustellen, daß die Auslage durchaus auf der Höhe sei.

Dann kam eine Rotunde mit gedeckter Galerie, in der eine Kapelle konzertierte. Hier war das Kurhaus. Auf mehreren Ten-nisplätzen waren Partien im Gange. Langbeinige, rasierte Jüng-linge in scharf gebügelten Flanellhosen, auf Gummisohlen und mit entblößten Unterarmen spielten gebräunten und weißge-kleideten Mädchen gegenüber, die anlaufend sich in der Sonne steil emporreckten, um den kreideweißen Ball hoch aus der Luft zu schlagen. Wie Mehlstaub lag es über den gepflegten Sportfel-dern. Die Vettern setzten sich auf eine freie Bank, um dem Spiele zuzusehen und es zu kritisieren.

"Du spielst hier wohl nicht?" fragte Hans Castorp.

"Ich darf ja nicht", antwortete Joachim. "Wir müssen liegen, immer liegen … Settembrini sagt immer, wir lebten horizontal, wir seien Horizontale, sagt er, das ist so ein fauler Witz von ihm. – Es sind Gesunde, die da spielen, oder sie tun es verbote-nerweise. Übrigens spielen sie ja nicht sehr ernsthaft, – mehr des Kostüms wegen … Und was das Verbotensein betrifft, da gibt es noch mehr Verbotenes, was hier gespielt wird, Poker, verstehst du, und in dem und jenem Hotel auch petits chevaux, hei uns steht Ausweisung darauf, es soll das Allerschädlichste sein. Aber manche laufen noch nach der Abendkontrolle hinun-ter und pointieren. Der Prinz, von dem Behrens seinen Titel hat, soll es auch immer getan haben."

Hans Castorp hörte das kaum. Der Mund stand ihm offen, denn er konnte nicht recht durch die Nase atmen, ohne daß er übrigens Schnupfen gehabt hätte. Sein Herz hämmerte in fal-schem Takte zu der Musik, was er dumpf als quälend empfand. Und in diesem Gefühl von Unordnung und Widerstreit begann er einzuschlafen, als Joachim zum Heimgehen mahnte.

Sie legten den Weg fast schweigend zurück. Hans Castorp stolperte sogar ein paarmal auf der ebenen Straße und lächelte wehmütig darüber, indem er den Kopf schüttelte. Der Hinken-de fuhr sie im Lift in ihr Stockwerk. Sie trennten sich vor Nummer vierunddreißig mit einem kurzen "Auf Wiedersehen". Hans Castorp steuerte durch sein Zimmer auf den Balkon hin-aus, wo er sich, wie er ging und stand, auf den Liegestuhl fallen ließ und, ohne die einmal eingenommene Lage zu verbessern, in einen schweren, von dem raschen Schlag seines Herzens peinlich belebten Halbschlummer sank.

Der Zauberberg. Volume 1

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