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Zweites Kapitel
Bei Tienappels und Von Hans Castorps sittlichem Befinden

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Zu seinem Schaden geschah es nicht, denn er kam zu Konsul Tienappel ins Haus, seinem bestellten Vormund, und hatte da nichts zu vermissen: in Hinsicht auf seine Person gewiß nicht, und ebensowenig, was die Betreuung seiner weiteren Interessen betraf, von denen er noch nichts wußte. Denn Konsul Tienappel, ein Onkel von Hansens seliger Mutter, verwaltete die Ca-storpsche Hinterlassenschaft, er brachte die Immobilien zum Verkauf, nahm auch die Liquidation der Firma Castorp und Sohn, Import und Export, in die Hand, und was er herausschlug, waren noch ungefähr vierhunderttausend Mark, Hans Castorps Erbe, das Konsul Tienappel in mündelsicheren Papieren anlegte, indem er, seiner verwandtschaftlichen Gefühle unbeschadet, an jedem Quartalsbeginn zwei Prozent Provision von den fälligen Zinsen für sich in Abzug brachte.

Das Tienappelsche Haus lag im Hintergrunde eines Gartens am Harvestehuder Weg und blickte auf eine Rasenfläche, in der auch nicht das kleinste Unkraut geduldet wurde, auf öffentliche Rosenanlagen und dann auf den Fluß. Der Konsul ging jeden Morgen, obgleich er ein schönes Fuhrwerk besaß, zu Fuß in sein Geschäft in der Altstadt, um doch ein bißchen Bewegung zu ha-ben, denn manchmal litt er an Blutstauungen im Kopfe, und kehrte um fünf Uhr abends auch so zurück, worauf bei Tienappels mit aller Kultur zu Mittag gegessen wurde. Er war ein ge-wichtiger Mann, in beste englische Stoffe gekleidet, mit wasser-blau vorquellenden Augen hinter der goldenen Brille, einer blühenden Nase, grauem Schifferbart und einem feurigen Bril-lanten an dem gedrungenen kleinen Finger seiner Linken. Seine Frau war längst tot. Er hatte zwei Söhne, Peter und James, von denen der eine bei der Marine und wenig zu Hause, der andere im väterlichen Weinhandel tätig und designierter Erbe der Firma war. Den Hausstand führte seit vielen Jahren Schalleen, eine Goldschmiedstochter aus Altona mit weißen Stärkrüschen um ihre walzenförmigen Handgelenke. Sie stand dafür ein, daß der Frühstücks – und Abendtisch reichlich mit kalter Küche, mit Krabben und Lachs, Aal, Gänsebrust und Tomato Catsup zum Roastbeef bestellt war; sie hatte ein wachsames Auge auf die Lohndiener, wenn Herrendiner bei Konsul Tienappel war, und sie war es auch, die bei dem kleinen Hans Castorp, so gut sie konnte, Mutterstelle vertrat.

Hans Castorp wuchs auf bei miserablem Wetter, in Wind und Wasserdunst, wuchs auf im gelben Gummimantel, wenn man so sagen darf, und fühlte sich im ganzen recht munter da-bei. Ein bißchen blutarm war er ja wohl von Anfang an, das sagte auch Dr. Heidekind und ließ ihm täglich zum dritten Frühstück, nach der Schule, ein gutes Glas Porter geben, – ein gehaltvolles Getränk, wie man weiß, dem Dr. Heidekind blut-bildende Wirkung zuschrieb und das jedenfalls Hans Castorps Lebensgeister auf eine ihm schätzenswerte Weise besänftigte, seiner Neigung, zu "dösen", wie sein Onkel Tienappel sich aus-drückte, nämlich mit schlaffem Munde und ohne einen festen Gedanken ins Leere zu träumen, wohltuend Vorschub leistete. Sonst aber war er gesund und richtig, ein brauchbarer Tennis-spieler und Ruderer, wenn er auch lieber, statt selber die Rie-men zu handhaben, an Sommerabenden bei Musik und einem guten Getränk auf der Terrasse des Uhlenhorster Fährhauses saß und die beleuchteten Boote betrachtete, zwischen denen Schwä-ne auf dem bunt spiegelnden Wasser dahinzogen; und wenn man ihn sprechen hörte: gelassen, verständig, ein bißchen hohl und eintönig, mit einem Anflug von Platt, ja, wenn man ihn auch nur ansah in seiner blonden Korrektheit, mit seinem gut geschnittenen, irgendwie altertümlich geprägten Kopf, in dem ein ererbter und unbewußter Dünkel sich in Gestalt einer ge-wissen trockenen Schläfrigkeit äußerte, so konnte kein Mensch bezweifeln, daß dieser Hans Castorp ein unverfälschtes und rechtschaffenes Erzeugnis hiesigen Bodens und glänzend an seinem Platze war, – er selbst hätte es, wenn er sich daraufhin auch nur geprüft hätte, nicht einen Augenblick lang bezweifelt.

Die Atmosphäre der großen Meerstadt, diese feuchte Atmosphäre aus Weltkrämertum und Wohlleben, die seiner Väter Le-benslust gewesen war, er atmete sie mit tiefem Einverständnis, mit Selbstverständlichkeit und gutem Behagen. Die Ausdün-stungen von Wasser, Kohlen und Teer, die scharfen Gerüche ge-häufter Kolonialwaren in der Nase, sah er an den Hafenkais un-geheure Dampfdrehkrane die Ruhe, Intelligenz und Riesenkraft dienender Elefanten nachahmen, indem sie Tonnengewichte von Säcken, Ballen, Kisten, Fässern und Ballons aus den Bäu-chen ruhender Seeschiffe in Eisenbahnwagen und Schuppen löschten. Er sah die Kaufmannschaft in gelben Gummimänteln, wie er selbst einen trug, um Mittag zur Börse strömen, woselbst es scharf herging, seines Wissens, und jemand ganz leicht Ver-anlassung bekommen konnte, in aller Eile Einladungen zu ei-nem großen Diner zu verschicken, um seinen Kredit zu fristen. Er sah (und hier lag ja später sein besonderes Interessengebiet) das Gewimmel der Werften, sah die Mammutleiber gedockter Asien – und Afrikafahrer, turmhoch, Kiel und Propeller entblößt, von baumdicken Streben gestützt, in ihrer monströsen Unbehilflichkeit auf dem Trockenen, bedeckt mit zwerghaften Hee-ren scheuernder, hämmernder, tünchender Arbeiter; sah auf den überdachten Hellings, von rauchigem Nebel umsponnen, die Spantenskelette entstehender Schiffe ragen und Ingenieure, Konstruktionszeichnung und Lenztafel zur Hand, den Bauleuten ihre Weisungen geben, – vertraute Gesichte dies alles für Hans Castorp von Jugend auf und lauter Empfindungen gemütlich-heimatlicher Zugehörigkeit in ihm erweckend, Empfindungen, die ihren Höhepunkt etwa in jener Lebenslage fanden, wenn er Sonntag vormittags mit James Tienappel oder seinem Vetter Ziemßen – Joachim Ziemßen – im Alsterpavillon warme Rundstücke mit Rauchfleisch nebst einem Glase alten Portweins frühstückte, und sich danach, mit Hingebung an seiner Zigarre ziehend, im Stuhle zurücklehnte. Denn namentlich darin war er echt, daß er gerne gut lebte, ja, seines dünnblütig verfeinerten Äußern ungeachtet, innig und fest, wie ein schwelgerischer Säugling an der Mutterbrust, an des Lebens derben Genüssen hing.

Bequem und nicht ohne Würde trug er auf seinen Schultern die hohe Zivilisation, welche die herrschende Oberschicht der handeltreibenden Stadtdemokratie ihren Kindern vererbt. Er war so gut gebadet wie ein Baby und ließ sich von jenem Schneider kleiden, der das Vertrauen der jungen Leute seiner Sphäre besaß. Der kleine, sorgfältig gezeichnete Wäscheschatz, den die englischen Züge, seines Schrankes bargen, ward von Schalleen aufs beste betreut; noch als Hans Castorp auswärts studierte, schickte er ihn regelmäßig zur Reinigung und Ausbes-serung nach Hause (denn seine Maxime war, daß man außer in Hamburg im Reiche nicht zu bügeln verstehe), und eine aufge-rauhte Manschette eines seiner hübschen farbigen Hemden hät-te ihn mit heftigem Unbehagen erfüllt. Seine Hände, obgleich nicht sonderlich aristokratisch in der Form, waren gepflegt und frisch von Haut, mit einem Kettenring aus Platin und dem großväterlichen Erbsiegelring geschmückt, und seine Zähne, die etwas weich waren und mehrfach Schaden gelitten hatten, mit Gold ergänzt.

Im Stehen und Gehen schob er den Unterleib etwas vor, was einen nicht eben strammen Eindruck machte; aber seine Hal-tung bei Tische war ausgezeichnet. Er wandte den aufrechten Oberkörper höflich dem Nachbarn zu, mit dem er plauderte (verständig und etwas platt), und seine Ellenbogen lagen leicht an, während er sein Stück Geflügel zerlegte oder geschickt mit dem dazu bestimmten Tafelgerät das rosige Fleisch aus einer Hummerschere zog. Sein erstes Bedürfnis nach beendeter Mahlzeit war die Fingerschale mit parfümiertem Wasser, das zweite die russische Zigarette, die unverzollt war, und die er unterderhand, auf dem Wege gemütlicher Durchstecherei be-zog. Sie ging der Zigarre voran, einer sehr schmackhaften Bremer Marke namens Maria Mancini, von der noch die Rede sein wird, und deren würzige Gifte sich so befriedigend mit denen des Kaffees vereinigten. Hans Castorp entzog seine Tabakvorrä-te den schädlichen Einflüssen der Dampfheizung, indem er sie im Keller aufbewahrte, wohin er jeden Morgen hinabstieg, um seinem Etui den Tagesbedarf einzuverleiben. Nur widerstre-bend hätte er Butter gegessen, die ihm in einem Stück und nicht vielmehr in Form geriefelter Kügelchen vorgesetzt worden wäre.

Man sieht, daß wir darauf denken, alles zu sagen, was für ihn einnehmen kann, aber wir beurteilen ihn ohne Überschwang und machen ihn weder besser noch schlechter, als er war. Hans Castorp war weder ein Genie noch ein Dummkopf, und wenn wir das Wort "mittelmäßig" zu seiner Kennzeichnung vermei-den, so geschieht es aus Gründen, die nicht mit seiner Intelli-genz und kaum etwas mit seiner schlichten Person überhaupt zu tun haben, nämlich aus Achtung vor seinem Schicksal, dem wir eine gewisse überpersönliche Bedeutung zuzuschreiben geneigt sind. Sein Kopf genügte den Anforderungen des Realgymna-siums, ohne sich überanstrengen zu müssen, – aber dies zu tun, wäre er auch ganz bestimmt unter keinen Umständen und um keines Gegenstandes willen geneigt gewesen: weniger aus Furcht, sich weh zu tun, als weil er unbedingt keinen Grund dazu sah oder, richtiger gesagt: keinen unbedingten Grund; und eben darum vielleicht mögen wir ihn nicht mittelmäßig nennen, weil er das Fehlen solcher Gründe auf irgendeine Weise empfand.

Der Mensch lebt nicht nur sein persönliches Leben als Ein-zelwesen, sondern, bewußt oder unbewußt, auch das seiner Epoche und Zeitgenossenschaft, und sollte er die allgemeinen und unpersönlichen Grundlagen seiner Existenz auch als unbe-dingt gegeben und selbstverständlich betrachten und von dem Einfall, Kritik daran zu üben, so weit entfernt sein, wie der gute Hans Castorp es wirklich war, so ist doch sehr wohl möglich, daß er sein sittliches Wohlbefinden durch ihre Mängel vage be-einträchtigt fühlt. Dem einzelnen Menschen mögen mancherlei persönliche Ziele, Zwecke, Hoffnungen, Aussichten vor Augen schweben, aus denen er den Impuls zu hoher Anstrengung und Tätigkeit schöpft; wenn das Unpersönliche um ihn her, die Zeit selbst der Hoffnungen und Aussichten bei aller äußeren Regsamkeit im Grunde entbehrt, wenn sie sich ihm als hoffnungslos, aussichtslos und ratlos heimlich zu erkennen gibt und der bewußt oder unbewußt gestellten, aber doch irgendwie gestell-ten Frage nach einem letzten, mehr als persönlichen, unbeding-ten Sinn aller Anstrengung und Tätigkeit ein hohles Schweigen entgegensetzt, so wird gerade in Fällen redlicheren Menschen-tums eine gewisse lähmende Wirkung solches Sachverhalts fast unausbleiblich sein, die sich auf dem Wege über das Seelisch-Sittliche geradezu auf das physische und organische Teil des In-dividuums erstrecken mag. Zu bedeutender, das Maß des schlechthin Gebotenen überschreitender Leistung aufgelegt zu sein, ohne daß die Zeit auf die Frage Wozu? eine befriedigende Antwort wüßte, dazu gehört entweder eine sittliche Einsamkeit und Unmittelbarkeit, die selten vorkommt und heroischer Na-tur ist, oder eine sehr robuste Vitalität. Weder das eine noch das andere war Hans Castorps Fall, und so war er denn doch wohl mittelmäßig, wenn auch in einem recht ehrenwerten Sinn.

Wir haben hier nicht nur von des jungen Mannes innerem Verhalten während seiner Schulzeit, sondern auch von den dar-auffolgenden Jahren gesprochen, als er seinen bürgerlichen Be-ruf schon gewählt hatte. Was seine Laufbahn durch die Klassen betraf, so mußte er die eine und andere davon sogar repetieren. Im ganzen aber halfen seine Herkunft, die Urbanität seiner Sit-ten und schließlich auch eine hübsche, wenn auch leidenschafts-lose Begabung für Mathematik ihm vorwärts, und als er das Einjährigenzeugnis hatte, beschloß er, die Schule durchzuma-chen, – hauptsächlich, die Wahrheit zu sagen, weil damit ein ge-wohnter, vorläufiger und unentschiedener Zustand verlängert und Zeit zu der Überlegung gewonnen wurde, was denn Hans Castorp am liebsten werden wollte, denn das wußte er lange nicht recht, wußte es auch in der obersten Klasse noch nicht, und als es sich dann entschied (daß nämlich er sich entschieden hätte, wäre beinah schon zu viel gesagt), fühlte er wohl, daß er sich ebensogut anders hätte entscheiden können.

Aber so viel war ja richtig, daß er an Schiffen immer großes Vergnügen gehabt hatte. Als kleiner Junge hatte er die Blätter seiner Notizbücher mit Bleistiftzeichnungen von Fischkuttern, Gemüseewern und Fünfmastern gefüllt, und als er mit fünfzehn Jahren von einem bevorzugten Platze aus hatte zusehen dürfen, wie der neue Doppelschrauben-Postdampfer "Hansa" bei Blohm & Voß vom Stapel lief, da hatte er in Wasserfarben ein wohlgetroffenes und bis weit ins einzelne genaues Bildnis des schlanken Schiffes ausgeführt, das Konsul Tienappel in sein Pri-vatkontor gehängt hatte, und auf dem namentlich das transpa-rente Glasgrün der rollenden See so liebevoll und geschickt be-handelt war, daß irgend jemand zu Konsul Tienappel gesagt hatte, das sei Talent, und daraus könne ein guter Marinemaler werden, – eine Äußerung, die der Konsul seinem Pflegesohn ruhig wiedererzählen konnte, denn Hans Castorp lachte bloß gutmü-tig darüber und ließ sich auf Überspanntheiten und Hungerlei-derideen auch nicht einen Augenblick ein.

"Viel hast du nicht", sagte sein Onkel Tienappel manchmal zu ihm. "Mein Geld bekommen im wesentlichen mal James und Peter, das heißt, es bleibt im Geschäft, und Peter bezieht seine Rente. Was dir gehört, liegt ja ganz gut und trägt dir was Sicheres. Aber von Zinsen zu leben, dabei ist heutzutage kein Spaß mehr, wenn man nicht wenigstens fünfmal so viel hat, wie du, und wenn du was vorstellen willst hier in der Stadt und leben, wie du's gewohnt bist, dann mußt du ordentlich zuverdie-nen, das merk' dir lieber, min Söhn."

Hans Castorp merkte es sich und sah sich nach einem Berufe um, mit dem er vor sich selbst und den Leuten bestehen könnte. Und als er einmal gewählt hatte – es geschah auf Anregung des alten Wilms, in Firma Tunder & Wilms, der nämlich am sonn-abendlichen Whisttisch zu Konsul Tienappel sagte, Hans Castorp solle doch Schiffbau studieren, das sei eine Idee, und bei ihm eintreten, dann wolle er wohl auf den Jungen ein Auge ha-ben – , da dachte er sehr hoch von seinem Beruf und fand, daß er zwar ein verdammt komplizierter und anstrengender, dafür aber auch ein ausgezeichneter, wichtiger und großartiger Beruf sei und für seine friedliche Person jedenfalls bei weitem dem seines Vetters Ziemßen vorzuziehen, Stiefschwestersohns seiner seligen Mutter, der durchaus Offizier werden wollte. Dabei war Joachim Ziemßen nicht mal ganz fest auf der Brust, aber eben darum mochte ein Freiluft-Beruf, bei dem von geistiger Arbeit und Anspannung kaum ernstlich die Rede sein konnte, denn wohl das Richtige für ihn sein, wie Hans Castorp mit leichter Geringschätzung urteilte. Denn vor der Arbeit hatte er den al-lergrößten Respekt, obwohl ihn persönlich die Arbeit ja leicht ermüdete.

Wir kommen hier auf unsere Andeutungen von früher zu-rück, die nämlich auf die Vermutung zielten, daß Beeinträchtigungen des persönlichen Lebens durch die Zeit geradezu den physischen Organismus des Menschen zu beeinflussen ver-möchten. Wie hätte Hans Castorp die Arbeit nicht achten sol-len? Es wäre unnatürlich gewesen. Wie alles lag, mußte sie ihm als das unbedingt Achtungswerteste gelten, es gab im Grunde nichts Achtenswertes außer ihr, sie war das Prinzip, vor dem man bestand oder nicht bestand, das Absolutum der Zeit, sie be-antwortete sozusagen sich selbst. Seine Achtung vor ihr war also religiöser und, so viel er wußte, unzweifelhafter Natur. Aber eine andere Frage war, ob er sie liebte; denn das konnte er nicht, so sehr er sie achtete, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie ihm nicht bekam. Angestrengte Arbeit zerrte an seinen Ner-ven, sie erschöpfte ihn bald, und ganz offen gab er zu, daß er ei-gentlich viel mehr die freie Zeit liebe, die unbeschwerte, an der nicht die Bleigewichte der Mühsal hingen, die Zeit, die offen vor einem gelegen hätte, nicht abgeteilt von zähneknirschend zu überwindenden Hindernissen. Dieser Widerstreit in seinem Verhältnis zur Arbeit bedurfte genau genommen der Auflösung. War es möglicherweise so, daß sein Körper sowohl wie sein Geist – zuerst der Geist und durch ihn auch der Körper – zur Arbeit freudiger und nachhaltiger willig gewesen wäre, wenn er im Grunde seiner Seele, dort, wo er selbst nicht Bescheid wußte, an die Arbeit als unbedingten Wert und sich selbst beantwortendes Prinzip zu glauben und sich dabei zu beruhigen ver-mocht hätte? Es wird damit wieder die Frage seiner Mittelmä-ßigkeit oder Mehrals-Mittelmäßigkeit aufgeworfen, die wir nicht bündig beantworten wollen. Denn wir betrachten uns nicht als Hans Castorps Lobredner und lassen der Vermutung Raum, daß die Arbeit in seinem Leben einfach dem Genuß von Maria Mancini etwas im Wege war. Zum militärischen Dienst wurde er seinerseits nicht herangezogen. Seine innere Natur widerstrebte dem und wußte es zu verhindern. Auch mochte wohl sein, daß Stabsarzt Dr. Eber-ding, der am Harvestehuder Weg verkehrte, von Konsul Tien-appel gesprächsweise gehört hatte, daß der junge Castorp in der Nötigung sich zu bewaffnen eine empfindliche Störung seiner soeben auswärts begonnenen Studien erblicken würde.

Sein Kopf, der langsam und gelassen arbeitete, zumal Hans Castorp die beruhigende Gewohnheit des Porterfrühstücks auch auswärts beibehielt, füllte sich mit analytischer Geometrie, Dif-ferentialrechnung, Mechanik, Projektionslehre und Graphosta-tik, er berechnete geladenes und ungeladenes Deplacement, Sta-bilität, Trimmverlagerung und Metazentrum, wenn es ihm zu-weilen auch sauer wurde. Seine technischen Zeichnungen, diese Spanten-, Wasserlinien – und Längsrisse, waren nicht ganz so gut, wie seine malerische Darstellung der "Hansa" auf hoher See, aber wo es galt, die geistige Anschaulichkeit durch die sinnliche zu unterstützen, Schatten zu tuschen und Querschnitte in munteren Materialfarben anzulegen, tat Hans Castorp es an Geschicklichkeit den meisten zuvor.

Wenn er in den Ferien nach Hause kam, sehr sauber, sehr gut angezogen, mit einem kleinen rotblonden Schnurrbart in seinem schläfrigen jungen Patriziergesicht und offenbar auf dem Wege zu ansehnlichen Lebensstellungen, so sahen die Leute, die sich mit kommunalen Dingen befaßten, auch mit Familien – und Personalverhältnissen gut Bescheid wußten – und das tun die meisten in einem sich selbst regierenden Stadtstaat – , so sahen seine Mitbürger ihn prüfend an, indem sie sich fragten, in wel-che öffentliche Rolle der junge Castorp wohl einmal hinein-wachsen werde. Er hatte ja Überlieferungen, sein Name war alt und gut, und eines Tages, das konnte beinahe nicht fehlen, würde man mit seiner Person als mit einem politischen Faktor zu rechnen haben. Er würde dann in der Bürgerschaft oder dem Bürgerausschuß sitzen und Gesetze machen, würde im Ehren-amt an den Sorgen der Souveränität teilnehmen, einer Verwal-tungsabteilung der Finanzdeputation vielleicht oder der für das Bauwesen angehören, und seine Stimme würde gehört und mit-gezählt werden. Man konnte neugierig sein, wie er wohl einmal Partei bekennen würde, der junge Castorp. Äußerlichkeiten mochten täuschen, aber eigentlich sah er ganz so aus, wie man nicht aussah, wenn die Demokraten auf einen rechnen konnten, und die Ähnlichkeit mit dem Großvater war unverkennbar. Vielleicht würde er ihm nacharten, ein Hemmschuh werden, ein konservatives Element? Das war wohl möglich – und ebenso-wohl auch das Gegenteil. Denn schließlich war er ja Ingenieur, ein angehender Schiffsbaumeister, ein Mann des Weltverkehrs und der Technik. Da konnte es sein, daß Hans Castorp unter die Radikalen ging, ein Draufgänger wurde, ein profaner Zerstörer alter Gebäude und landschaftlicher Schönheiten, ungebunden wie ein Jude und pietätlos wie ein Amerikaner, geneigt, den rücksichtslosen Bruch mit würdig Überliefertem einer bedächti-gen Ausbildung natürlicher Lebensbedingungen vorzuziehen und den Staat in wagehalsige Experimente zu stürzen, – das war auch denkbar. Würde er es im Blute haben, daß Ihre Wohlweis-heiten, vor denen der Doppelposten am Rathaus präsentierte, al-les am besten wüßten, oder würde er die Opposition in der Bürgerschaft zu unterstützen gestimmt sein? In seinen blauen Augen unter den rötlich blonden Brauen war keine Antwort auf solche Fragen mitbürgerlicher Neugier zu lesen, und er wußte auch wohl noch gar keine, Hans Castorp, dies unbeschriebene Blatt.

Als er die Reise antrat, auf der wir ihn betrafen, stand er im dreiundzwanzigsten Lebensjahr. Damals hatte er vier Semester Studienzeit am Danziger Polytechnikum hinter sich und vier weitere, die er auf den Technischen Hochschulen von Braunschweig und Karlsruhe verbracht hatte, war kürzlich ohne Glanz und Orchestertusch, aber mit gutem Anstande aus der ersten Hauptprüfung gestiegen und schickte sich an, bei Tunder & Wilms als Ingenieur-Volontär einzutreten, um auf der Werft seine praktische Ausbildung zu empfangen. An diesem Punkt nahm sein Weg nun erst einmal folgende Wendung.

Zur Hauptprüfung hatte er scharf und anhaltend arbeiten müssen und sah, als er heimkam, denn doch noch matter aus, als es zu seinem Typus paßte. Dr. Heidekind schalt, so oft er ihn sah, und forderte Luftveränderung, das heißt: eine gründliche. Mit Norderney oder Wyk auf Föhr, sagte er, sei es dieses Mal nicht getan, und wenn man ihn frage, so gehörte Hans Castorp, bevor er auf die Werft gehe, für ein paar Wochen ins Hochge-birge.

Das sei ganz gut, sagte Konsul Tienappel zu seinem Neffen und Pflegesohn, aber dann trennten sich diesen Sommer ihre Wege, denn ihn, Konsul Tienappel, bekämen ins Hochgebirge keine vier Pferde. Das sei nichts für ihn, er brauche einen ver-nünftigen Luftdruck, sonst kriege er Zufälle. Ins Hochgebirge solle Hans Castorp nur freundlichst alleine reisen. Er solle doch Joachim Ziemßen besuchen.

Das war ein natürlicher Vorschlag. Joachim Ziemßen nämlich war krank, – nicht krank wie Hans Castorp, sondern auf wirk-lich mißliche Weise krank, es war sogar ein großer Schrecken gewesen. Schon immer hatte er zu Katarrh und Fieber geneigt, und eines Tages war richtig auch roter Auswurf dagewesen, und Hals über Kopf hatte Joachim nach Davos gehen müssen, zu seinem größten Leidwesen und Kummer, denn eben stand er am Ziel seiner Wünsche. Ein paar Semester lang hatte er nach dem Willen der Seinen Jurisprudenz studiert, aber aus unwider-stehlichem Drange hatte er umgesattelt und sich als Fahnenjun-ker gemeldet und war auch schon angenommen. Und nun saß er seit über fünf Monaten im Internationalen Sanatorium Berghof" (dirigierender Arzt: Hofrat Dr. Behrens) und lang-weilte sich halb zu Tode, wie er auf Postkarten schrieb. Wenn also Hans Castorp denn schon eine Kleinigkeit für sich tun wollte, bevor er bei Tunder & Wilms seinen Posten antrat, so lag nichts näher, als daß er auch dort hinauf fuhr, um seinem ar-men Cousin Gesellschaft zu leisten, – für beide Teile war es das Angenehmste.

Es war hoher Sommer geworden, als er sich zu der Reise ent-schloß. Die letzten Juli-Tage waren schon da. Er fuhr auf drei Wochen.

Der Zauberberg. Volume 1

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