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Zweites Kapitel
Von der Taufschale und vom Großvater in zwiefacher Gestalt
ОглавлениеHans Castorp bewahrte an sein eigentliches, Elternhaus nur blasse Erinnerungen; er hatte Vater und Mutter kaum recht gekannt. Sie starben weg in der kurzen Frist zwischen seinem fünften und siebenten Lebensjahr, zuerst die Mutter, vollkommen über-raschend und in Erwartung ihrer Niederkunft, an einer Gefäß-verstopfung infolge von Nervenentzündung, einer Embolie, wie Dr. Heidekind es bezeichnete, die augenblicklich Herzläh-mung verursachte, – sie lachte eben, im Bette sitzend, es sah so aus, als ob sie vor Lachen umfiele, und dennoch tat sie es nur, weil sie tot war. Das war nicht leicht zu verstehen für Hans Hermann Castorp, den Vater, und da er sehr innig an seiner Frau gehangen hatte, auch seinerseits nicht der Stärkste war, so wußte er nicht darüber hinwegzukommen. Sein Geist war ver-stört und geschmälert seitdem; in seiner Benommenheit beging er geschäftliche Fehler, so daß die Firma Castorp & Sohn emp-findliche Verluste erlitt; im übernächsten Frühjahr holte er sich bei einer Speicherinspektion am windigen Hafen die Lungen-entzündung, und da sein erschüttertes Herz das hohe Fieber nicht aushielt, so starb er trotz aller Sorgfalt, die Dr. Heidekind an ihn wandte, binnen fünf Tagen und folgte seiner Frau unter ansehnlicher Beteiligung der Bürgerschaft ins Castorpsche Erb-begräbnis nach, das auf dem St.-Katharinen-Kirchhof sehr schön, mit Blick auf den Botanischen Garten, gelegen war.
Sein Vater, der Senator, überlebte ihn, wenn auch nur um ein . weniges, und die kurze Zeitspanne, bis er auch starb – übrigens gleichfalls an einer Lungenentzündung, und zwar unter großen Kämpfen und Qualen, denn zum Unterschiede von seinem Sohn war Hans Lorenz Castorp eine schwer zu fällende, im Le-ben zäh wurzelnde Natur – , diese Zeitspanne also, es waren nur anderthalb Jahre, verlebte der verwaiste Hans Castorp in seines Großvaters Hause, einem zu Anfang des abgelaufenen Jahrhun-derts auf schmalem Grundstück im Geschmack des nordischen Klassizismus erbauten, in einer trüben Wetterfarbe gestrichenen Haus an der Esplanade, mit Halbsäulen zu beiden Seiten der Eingangstür, in der Mitte des um fünf Stufen aufgetreppten Erdgeschosses, und zwei Obergeschossen außer der Beletage, wo die Fenster bis zu den Fußböden hinuntergezogen und mit gegossenen Eisengittern versehen waren.
Hier lagen ausschließlich Repräsentationsräume, eingerechnet das helle, mit Stuck verzierte Eßzimmer, dessen drei weinrot verhangene Fenster auf das rückwärtige Gärtchen blickten, und wo während der achtzehn Monate Großvater und Enkel alltäg-lich um vier Uhr allein miteinander zu Mittag aßen, bedient von dem alten Fiete mit den Ohrringen und silbernen Knöpfen am Frack, der zu diesem Frack eine ebensolche batistene Hals-binde trug, wie der Hausherr selbst, auch auf ganz ähnliche Art das rasierte Kinn darin barg, und den der Großvater duzte, in-dem er plattdeutsch mit ihm sprach; nicht scherzender Weise – er war ohne humoristischen Zug – , sondern in aller Sachlichkeit und weil er es überhaupt mit Leuten aus dem Volk, mit Spei-cherarbeitern, Postboten, Kutschern und Dienstboten so hielt. Hans Castorp hörte es gern, und sehr gern hörte er auch, wie Fiete antwortete, ebenfalls platt, indem er sich beim Servieren von links hinter seinem Herrn herumbeugte, um ihm in das rechte Ohr zu sprechen, auf dem der Senator bedeutend besser hörte als auf dem linken. Der Alte verstand und nickte und aß weiter, sehr aufrecht zwischen der hohen Mahagonilehne des Stuhles und dem Tisch, kaum über den Teller gebeugt, und der Enkel, ihm gegenüber, betrachtete still, mit tiefer und unbewußter Aufmerksamkeit, die knappen, gepflegten Bewegungen, mit denen die schönen, weißen, mageren alten Hände des Großvaters mit den gewölbten, spitz zulaufenden Nägeln und dem grünen Wappenring auf dem rechten Zeigefinger einen Bissen aus Fleisch, Gemüse und Kartoffeln auf der Gabelspitze anordneten und unter einem leichten Entgegenneigen des Kop-fes zum Munde führten. Hans Castorp sah auf seine eigenen, noch ungeschickten Hände und fühlte darin die Möglichkeit vorgebildet, späterhin ebenso wie der Großvater Messer und Gabel zu halten und zu bewegen.
Eine andere Frage war, ob er je dazu gelangen würde, sein Kinn in einer solchen Binde zu bergen, wie sie die geräumige Öffnung des sonderbar geformten, mit den scharfen Spitzen die Wangen streifenden Halskragens des Großvaters ausfüllte. Denn dazu mußte man so alt sein wie dieser, und schon heute trug au-ßer ihm und seinem alten Fiete weit und breit niemand mehr solche Binden und Kragen. Das war schade, denn dem kleinen Hans Castorp gefiel es besonders wohl, wie der Großvater das Kinn in die hohe, schneeweiße Binde lehnte; noch in der Erin-nerung, als er erwachsen war, gefiel es ihm ausgezeichnet: es lag etwas darin, was er aus dem Grund seines Wesens billigte.
Wenn sie fertig gegessen und ihre Servietten zusammengelegt, gerollt und in die silbernen Ringe gesteckt hatten, ein Ge-schäft, mit dem Hans Castorp damals nicht leicht zu Rande kam, da die Servietten so groß waren wie kleine Tischtücher, so stand der Senator von dem Stuhle auf, den Fiete hinter ihm wegzog, und ging mit schlürfenden Schritten ins "Kabinett" hinüber, um sich seine Zigarre zu holen; und zuweilen folgte der Enkel ihm dorthin.
Dieses "Kabinett" war dadurch entstanden, daß man das Eß-zimmer dreifenstrig gemacht und durch die ganze Breite des Hauses gelegt hatte, weshalb nicht, wie sonst bei diesem Haus-typus, Raum für drei Salons, sondern nur für zwei übriggeblieben war, von denen jedoch der eine, senkrecht zum Eßsaal gele-gene, mit nur einem Fenster nach der Straße, unverhältnismäßig tief ausgefallen wäre. Darum hatte man etwa den vierten Teil seiner Länge von ihm abgesondert, eben das "Kabinett", einen schmalen Raum mit Oberlicht, dämmerig und nur mit wenigen Gegenständen ausgestattet: einer Etagere, auf der des Senators Zigarrenschrank stand, einem Spieltisch, dessen Schublade an-ziehende Dinge enthielt: Whistkarten, Spielmarken, kleine Markierbrettchen mit aufklappbaren Zähnchen, eine Schieferta-fel nebst Kreidegriffeln, papierne Zigarrenspitzen und anderes mehr; endlich mit einem Rokoko-Glasschrank aus Palisander-holz in der Ecke, hinter dessen Scheiben gelbseidene Vorhänge gespannt waren.
"Großpapa", konnte der kleine Hans Castorp im Kabinett wohl sagen, indem er sich auf die Zehenspitzen erhob und zu dem Ohr des Alten emporstrebte, "zeig' mir doch, bitte, die Taufschale!"
Und der Großvater, der ohnedies den Schoß seines langen und weichen Gehrocks vom Beinkleid zurückgerafft und sein Schlüsselbund aus der Tasche gezogen hatte, öffnete damit den Glasschrank, aus dessen Innerem es dem Knaben eigentümlich angenehm und merkwürdig entgegenduftete. Es waren allerlei außer Gebrauch befindliche und eben darum fesselnde Gegen-stände darin aufbewahrt: ein Paar geschweifte silberne Arm-leuchter, ein zerbrochenes Barometer mit figürlicher Holz-schnitzerei, ein Album mit Daguerreotypien, ein Likörkasten aus Zedernholz, ein kleiner Türke, hart anzufassen unter seinem buntseidenen Anzug, mit einem Uhrwerk im Leibe, das ihn dereinst befähigt hatte, über den Tisch zu laufen, nun aber schon lange den Dienst versagte, ein altertümliches Schiffsmodell und ganz zu unterst sogar eine Rattenfalle. Der Alte aber nahm von einem mittleren Fach eine stark angelaufene runde silberne Schale, die auf einem ebenfalls silbernen Teller stand, und wies beide Stücke dem Knaben vor, indem er sie voneinander nahm und unter schon oft gegebenen Erklärungen einzeln hin und her bewegte.
Becken und Teller gehörten ursprünglich nicht zueinander, wie man wohl sah, und wie sich der Kleine aufs neue belehren ließ; doch seien sie, sagte der Großvater, seit rund hundert Jah-ren, nämlich seit Anschaffung des Beckens, im Gebrauche verei-nigt. Die Schale war schön, von einfacher, edler Gestalt, ge-formt von dem strengen Geschmack der Frühzeit des letzten Jahrhunderts. Glatt und gediegen, ruhte sie auf rundem Fuße und war innen vergoldet; doch war das Gold von der Zeit schon zum gelblichen Schimmer verblichen. Als einziger Zierat lief ein erhabener Kranz von Rosen und zackigen Blättern um ihren oberen Rand. Den Teller angehend, so war sein weit hö-heres Alter ihm von der Innenseite abzulesen. "Sechzehnhun-dertundfünfzig" stand dort in verschnörkelten Ziffern, und allerlei krause Gravierungen umrahmten die Zahl, ausgeführt in der "modernen Manier" von damals, schwülstig-willkürlich, Wappen und Arabesken, die halb Stern und halb Blume waren. Auf der Rückseite aber fanden sich in wechselnder Schriftart die Namen der Häupter einpunktiert, die im Gange der Zeit des Stückes Inhaber gewesen: Es waren ihrer schon sieben, versehen mit der Jahreszahl der Erb-Übernahme, und der Alte in der Binde wies mit dem beringten Zeigefinger den Enkel auf jeden einzelnen hin. Der Name des Vaters war da, der des Großvaters selbst und der des Urgroßvaters, und dann verdoppelte, verdreifachte und vervierfachte sich die Vorsilbe "Ur" im Munde des Erklärers, und der Junge lauschte seitwärts geneigten Kopfes, mit nachdenklich oder auch gedankenlos-träumerisch sich fest-sehenden Augen und andächtig-schläfrigem Munde auf das Ur-Ur-Ur-Ur, – diesen dunklen Laut der Gruft und der Zeitver-schüttung, welche dennoch zugleich einen fromm gewahrten Zusammenhang zwischen der Gegenwart, seinem eigenen Le-ben und dem tief Versunkenen ausdrückte und ganz eigentüm-lich auf ihn einwirkte: nämlich so, wie es auf seinem Gesichte sich ausdrückte. Er meinte modrig-kühle Luft, die Luft der Ka-tharinenkirche oder der Michaeliskrypte zu atmen bei diesem Laut, den Anhauch von Orten zu spüren, an denen man, den Hut in der Hand, in eine gewisse, ehrerbietig vorwärts wiegen-de Gangart ohne Benutzung der Stiefelabsätze verfällt; auch die abgeschiedene, gefriedete Stille solcher hallender Orte glaubte er zu hören; geistliche Empfindungen mischten sich mit denen des Todes und der Geschichte beim Klang der dumpfen Silbe, und dies alles mutete den Knaben irgendwie wohltuend an, ja, es mochte wohl sein, daß er um des Lautes willen, um ihn zu hören und nachzusprechen, gebeten hatte, die Taufschale wieder einmal betrachten zu dürfen.
Dann stellte der Großvater das Gefäß auf den Teller zurück und ließ den Kleinen in die glatte, leicht goldige Höhlung se-hen, die aufschimmerte von dem einfallenden Oberlicht.
"Nun sind es bald acht Jahre", sagte er, "daß wir dich darüber hielten und daß das Wasser, mit dem du getauft wurdest, da hinein floß … Küster Lassen von St. Jacobi goß es unserem gu-ten Pastor Bugenhagen in die hohle Hand, und von da lief es über deinen Schopf hier in die Schale. Aber wir hatten es ge-wärmt, damit du nicht erschrecken und nicht weinen solltest, und das tatst du auch nicht, sondern im Gegenteil, du hattest vorher geschrien, so daß Bugenhagen es nicht leicht gehabt hatte mit seiner Rede, aber als das Wasser kam, da wurdest du still, und das war die Achtung vor dem heiligen Sakrament, wollen wir hoffen. Und vierundvierzig Jahre sind es in den nächsten Tagen, da war dein seliger Vater der Täufling, und von seinem Kopf floß das Wasser hier hinein. Das war hier im Haus, seinem Elternhaus, drüben im Saal, vor dem mittleren Fenster, und es war noch der alte Pastor Hesekiel, der ihn taufte, derselbe, den die Franzosen als jungen Menschen beinahe erschossen hätten, weil er gegen ihre Räubereien und Brandschatzungen gepredigt hatte, – der ist nun auch schon lange, lange bei Gott. Aber vor fünfundsiebzig Jahren, da war ich es selber, den sie tauften, auch da im Saal, und meinen Kopf hielten sie über die Schale hier, wie sie da auf dem Teller steht, und der Geistliche sprach dieselben Worte wie bei dir und deinem Vater, und ebenso floß das warme, klare Wasser von meinem Haar (es war nicht viel mehr damals, als ich jetzt auf dem Kopfe habe) da in das golde-ne Becken hinein."
Der Kleine blickte empor auf des Großvaters schmales Grei-senhaupt, das eben wieder über die Schale geneigt war, wie zu der längst verflossenen Stunde, von der er erzählte, und ein schon erprobtes Gefühl kam ihn an, die sonderbare, halb träu-merische, halb beängstigende Empfindung eines zugleich Zie-henden und Stehenden, eines wechselnden Bleibens, das Wie-derkehr und schwindelige Einerleiheit war, – eine Empfindung, die ihm von früheren Gelegenheiten her bekannt war, und von der wieder berührt zu werden er erwartet und gewünscht hatte: sie war es zum Teil, um derentwillen ihm die Vorzeigung des stehend wandernden Erbstücks angelegen gewesen war.
Prüfte der junge Mann sich später, so fand er, daß das Bild seines Altervaters sich ihm viel tiefer, deutlicher und bedeuten-der eingeprägt hatte als das seiner Eltern: was möglicherweise auf Sympathie und physischer Sonderverwandtschaft beruhte, denn der Enkel sah dem Großvater ähnlich, soweit eben ein ro-siger Milchbart einem gebleichten und starren Siebziger ähnlich sehen kann. Hauptsächlich aber war es doch wohl für den Alten bezeichnend, der ohne Frage die eigentliche Charakterfigur, die malerische Persönlichkeit in der Familie gewesen war.
Im öffentlichen Sinne gesprochen, so war die Zeit über Hans Lorenz Castorps Wesen und Willensmeinungen schon lange vor seinem Abscheiden hinweggegangen. Er war ein hochchristli-cher Herr gewesen, von der reformierten Gemeinde, streng her-kömmlich gesinnt, auf aristokratische Einengung des gesell-schaftlichen Kreises, in dem man regierungsfähig war, so hart-näckig bedacht, als lebte er im vierzehnten Jahrhundert, wo das Handwerkertum gegen den zähen Widerstand des altfreien Pa-triziertums sich Sitz und Stimme im städtischen Rat zu erobern begonnen hatte, und für das Neue zu schwer zu haben. Sein Wirken war in Jahrzehnte eines heftigen Aufschwungs und vielfältiger Umwälzungen gefallen, Jahrzehnte des Fortschritts in Gewaltmärschen, die an den öffentlichen Opfer – und Wage-mut beständig so hohe Anforderungen gestellt hatten. An ihm aber, dem alten Castorp, das wußte Gott, hatte es nicht gelegen, wenn der Geist der Neuzeit die weit bekannten, glänzenden Siege gefeiert hatte. Er hatte auf Vätersitte und alte Institutionen weit mehr gehalten als auf halsbrecherische Hafenerweiterun-gen und gottlose Großstadt-Alfanzereien, hatte gebremst und abgewiegelt, wo er nur konnte, und wäre es nach ihm gegangen, so sah es in der Verwaltung noch heutigentages so idyllisch-altfränkisch aus wie seinerzeit in seinem eigenen Kontor.
So stellte der Alte, zu seinen Lebzeiten und nachher, sich dem bürgerlichen Auge dar, und wenn der kleine Hans Castorp auch nichts von Staatsangelegenheiten verstand, so machte sein still anschauendes Kinderauge im wesentlichen doch ganz die-selben Wahrnehmungen, – wortlose und also unkritische, viel-mehr nur lebensvolle Wahrnehmungen, die übrigens auch spä-ter, als bewußtes Erinnerungsbild, ihr wort – und zergliede-rungsfeindliches, schlechthin bejahendes Gepräge durchaus be-wahrten. Wie gesagt war da Sympathie im Spiele, jene ein Glied überspringende Nächstverbundenheit und Wesensverwandt-schaft, die nichts Seltenes ist. Kinder und Enkel schauen an, um zu bewundern, und sie bewundern, um zu lernen und auszubil-den, was erblicherweise in ihnen vorgebildet liegt.
Senator Castorp war hager und hochgewachsen. Die Jahre hatten ihm Rücken und Nacken gekrümmt, aber er suchte die Krümmung durch Gegendruck auszugleichen, wobei sein Mund, dessen Lippen nicht mehr von Zähnen gehalten wurden, sondern unmittelbar auf dem leeren Zahnfleisch ruhten (denn sein Gebiß legte er nur zum Essen an), sich auf würdigmühsa-me Art nach unten zog, und hierdurch eben, wie auch wohl als Mittel gegen eine beginnende Unfestigkeit des Kopfes, kam die ehrenstreng aufgerückte Haltung und Kinnstütze zustande, die dem kleinen Hans Castorp so zusagte.
Er liebte die Dose – es war eine längliche, mit Gold eingelegte Schildpattdose, die er handhabte, – und benutzte aus die-sem Grunde rote Taschentücher, deren Zipfel ihm aus der hinte-ren Tasche seines Gehrocks zu hängen pflegten. War das eine heitere Schwäche in seiner Erscheinung, so wirkte sie doch durchaus als Alterslizenz, als eine Nachlässigkeit, wie die Betagtheit sie sich entweder bewußt und jovialerweise gestattet oder in ehrwürdiger Unbewußtheit mit sich bringt; und jeden-falls blieb sie die einzige, die Hans Castorps kindlicher Scharf-blick je an des Großvaters Äußerem gewahrte. Für den Sieben-jährigen aber sowohl wie später in der Erinnerung des Herange-wachsenen war die alltägliche Erscheinung des Alten nicht seine eigentliche und wirkliche. In eigentlicher Wirklichkeit sah er noch anders, weit schöner und richtiger aus, als gewöhnlich, – nämlich so, wie er auf einem Gemälde, einem lebensgroßen Bildnis erschien, das früher im elterlichen Wohnzimmer gehan-gen hatte und dann zusammen mit dem kleinen Hans Castorp an die Esplanade übergesiedelt war, wo es seinen Platz über dem großen rotseidenen Sofa im Empfangszimmer erhalten hatte.
Es zeigte Hans Lorenz Castorp in seiner Amtstracht als Rats-herrn der Stadt – dieser ernsten, ja frommen Bürgertracht eines verschollenen Jahrhunderts, die ein zugleich gravitätisches und verwegenes Gemeinwesen durch die Zeiten mitgeführt und in pomphaftem Gebrauch erhalten hatte, um zeremoniellerweise die Vergangenheit zur Gegenwart, die Gegenwart zur Vergan-genheit zu machen und den steten Zusammenhang der Dinge, die ehrwürdige Sicherheit ihrer Handlungsunterschrift zu be-kunden. Senator Castorp stand da in ganzer Figur, auf rötlich gepflastertem Boden, in einer Pfeiler – und Spitzbogen-Perspektive. Er stand, das Kinn gesenkt, den Mund nach unten gezogen, die blauen, sinnig blickenden Augen mit den Tränensäcken dar-unter ins Weite gerichtet, in dem schwarzen und mehr als knielangen, talarartigen Überrock, der, vorne offen, am Rande und Saume eine breite Pelzverbrämung zeigte. Aus weiten, hochgepufften und bordierten Oberärmeln kamen engere Unterärmel von schlichtem Tuch hervor, und Spitzenmanschetten bedeckten die Hände bis zu den Knöcheln. Die schlanken Greisenbeine staken in schwarzseidenen Strümpfen, die Füße in Schuhen mit silbernen Schnallen. Um den Hals aber lag ihm die breite, ge-stärkte und vielfach gefaltete Tellerkrause, vorn niedergedrückt und an den Seiten aufwärts geschwungen, unter welcher hervor tum Überfluß noch ein gefaltetes Batistjabot auf die Weste hing. Unter dem Arme trug er den altertümlichen Hut mit brei-irr Krempe, dessen Kopf sich nach oben verjüngte.
Es war ein vortreffliches Bild, von nahmhafter Künstlerhand geschaffen, mit gutem Geschmack in dem altmeisterlichen Stile gehalten, den der Gegenstand nahelegte, und in dem Beschauer allerlei spanisch-niederländisch-spätmittelal-terliche Vorstellun-gen weckend. Der kleine Hans Castorp hatte es oft betrachtet, nicht mit Kunstverstand natürlich, aber doch mit einem gewis-sen allgemeineren und sogar eindringlichen Verstande; und ob-gleich er den Großvater so, wie die Leinwand ihn darstellte, in Person nur ein einziges Mal, bei einer feierlichen Auffahrt am Rathaus, und auch da nur flüchtig gesehen hatte, konnte er, wie wir sagten, nicht umhin, diese seine bildhafte Erscheinung als seine eigentliche und wirkliche zu empfinden und in dem Großvater des Alltags sozusagen einen Interims-Großvater, ei-nen behelfsweise und nur unvollkommen angepaßten zu erblik-ken. Denn das Abweichende und Wunderliche in dieser seiner Alltagserscheinung beruhte offenbar auf solcher unvollkomme-nen, vielleicht etwas ungeschickten Anpassung, es waren nicht ganz zu tilgende Reste und Andeutungen seiner reinen und wahren Gestalt. So waren die Vatermörder, die hohe weiße Binde altmodisch; aber unmöglich war diese Bezeichnung an-wendbar auf das bewunderungswürdige Kleidungsstück, wovon jene nur die Interimsandeutung bildeten, nämlich auf die spani-sche Krause. Und ebenso verhielt es sich mit dem unüblich ge-schweiften Zylinder, den der Großvater auf der Straße trug, und dem in höherer Wirklichkeit der breitkrempige Filzhut des Ge-mäldes entsprach; mit dem langen und faltigen Gehrock, als dessen Urbild und Eigentlichkeit dem kleinen Hans Castorp der bordierte, pelzverbrämte Talar erschien.
So war er denn auch im Herzen einverstanden, daß der Großvater in seiner Richtigkeit und Vollkommenheit prangte, als es eines Tages hieß, Abschied von ihm zu nehmen. Das war im Saale, demselben Saal, wo sie so oft am Eßtisch einander ge-genübergesessen; in seiner Mitte lag Hans Lorenz Castorp nun auf der von Kränzen umstellten und umlagerten Bahre im sil-berbeschlagenen Sarge. Er hatte die Lungenentzündung durch-gekämpft, hatte zäh und lange gekämpft, obgleich er doch, wie es schien, im gegenwärtigen Leben nur anpassungsweise zu Hause gewesen war, und lag nun, man wußte nicht recht ob siegreich oder überwunden, auf jeden Fall mit streng befriede-tem Ausdruck und stark verändert und spitznäsig vom Kampfe auf seinem Paradebett, den Unterkörper von einer Decke ver-hüllt, auf welcher ein Palmzweig lag, den Kopf vom seidenen Kissen hochgestützt, so daß das Kinn aufs schönste in der vor-deren Einbuchtung der Ehrenkrause ruhte; und zwischen die halb von den Spitzenmanschetten bedeckten Hände, deren Finger bei künstlich-natürlicher Anordnung Kälte und Unbelebt-heit nicht verhehlten, hatte man ihm ein Elfenbeinkreuz ge-steckt, auf das er mit gesenkten Lidern unverwandt niederzu-bücken schien.
Hans Castorp hatte den Großvater zu Anfang von dessen letzter Krankheit wohl mehrmals, gegen das Ende hin aber nicht mehr gesehen. Mit dem Anblick des Kampfes, der auch zu seinem Hauptteile nächtlicherweile vor sich gegangen war, hatte man ihn gänzlich verschont, nur mittelbar, durch die beklom-mene Atmosphäre des Hauses, die roten Augen des alten Fiete, das An – und Wegfahren der Doktoren, war er davon berührt worden; das Ergebnis aber, vor das er sich im Saale gestellt fand, ließ sich dahin zusammenfassen, daß der Großvater der Interimsanpassung nun feierlich überhoben und in seine eigentliche und angemessene Gestalt endgültig eingekehrt war, – ein billigenswertes Ergebnis, wenn auch der alte Fiete weinte und ununterbrochen den Kopf schüttelte, und wenn auch Hans Castorp selber weinte, wie er beim Anblick seiner unvermittelt ge-storbenen Mutter und seines bald darauf ebenfalls still und fremd daliegenden Vaters geweint hatte.
Denn es war ja nun schon das drittemal binnen so kurzer Zeit und bei so jungen Jahren, daß der Tod auf den Geist und die Sinne – namentlich auch auf die Sinne – des kleinen Hans Castorp wirkte; neu war ihm der Anblick und Eindruck nicht mehr, sondern bereits recht wohl vertraut, und wie er schon die beiden ersten Male sich durchaus gesetzt und verläßlich, keines-wegs nervenschwach, wenn auch mit natürlicher Betrübnis da-gegen verhalten hatte, so auch jetzt, und in noch höherem Grade. Unkundig der praktischen Bedeutung der Ereignisse für sein Leben oder auch kindlich gleichgültig dagegen, in dem Vertrau-en, daß die Welt schon so oder so für ihn sorgen werde, hatte er an den Särgen eine gewisse ebenfalls kindliche Kühle und sach-liche Aufmerksamkeit an den Tag gelegt, welche beim dritten-mal durch das Gefühl und den Ausdruck erfahrener Kenner-schaft noch eine besondere, altkluge Abschattung erhielt, – häu-figer Tränen der Erschütterung und der Ansteckung durch ande-re als einer selbstverständlichen Rückwirkung nicht weiter zu gedenken. In den drei oder vier Monaten, seit sein Vater gestorben war, hatte er den Tod vergessen, nun erinnerte er sich, und alle Eindrücke von damals stellten sich genau, gleichzeitig und durchdringend in ihrer unvergleichbaren Eigentümlichkeit wie-der her.
Aufgelöst und in Worte gefaßt, hätten sie sich ungefähr fol-gendermaßen ausgenommen. Es hatte mit dem Tode eine from-me, sinnige und traurig schöne, das heißt geistliche Bewandtnis und zugleich eine ganz andere, geradezu gegenteilige, sehr kör-perliche, sehr materielle, die man weder als schön, noch als sin-nig, noch als fromm, noch auch nur als traurig eigentlich an-sprechen konnte. Die feierlich-geistliche Bewandtnis drückte sich aus in der pomphaften Aufbahrung der Leiche, der Blu-menpracht und den Palmenwedeln, die bekanntlich den himm-lischen Frieden bedeuteten; ferner und noch deutlicher in dem Kreuz zwischen den gestorbenen Fingern des ehemaligen Groß-vaters, dem segnenden Heiland von Thorwaldsen, der zu Häup-ten des Sarges stand, und in den zu beiden Seiten aufragenden Kandelabern, die bei dieser Gelegenheit ebenfalls einen kirchli-chen Charakter angenommen hatten. Alle diese Anstalten hatten ihren genaueren und guten Sinn offenbar in dem Gedanken, daß der Großvater nun auf immer zu seiner eigentlichen und wahren Gestalt eingegangen war. Außerdem aber hatten sie, wie der kleine Hans Castorp wohl bemerkte, wenn auch nicht mit Worten sich eingestand, allesamt, im besonderen aber die Men-ge der Blumen und unter diesen wieder besonders die vielfach vertretenen Tuberosen, noch einen weiteren Sinn und nüchter-nen Zweck, nämlich den, die andere, weder schöne, noch eigentlich traurige, sondern eher fast unanständige, niedrig kör-perliche Bewandtnis, die es mit dem Tode hatte, zu beschöni-gen, in Vergessenheit zu bringen oder nicht zum Bewußtsein kommen zu lassen.
Mit dieser Bewandtnis hing es zusammen, daß der tote Großvater so fremd, ja eigentlich nicht als der Großvater, sondern als eine lebensgroße, wächserne Puppe erschien, die der Tod statt seiner Person eingeschoben hatte, und mit der nun all dieser fromme und ehrenvolle Aufwand getrieben wurde. Der da lag, oder richtiger: was da lag, war also nicht der Großvater selbst, sondern eine Hülle, – die, wie Hans Castorp wußte, nicht aus Wachs bestand, sondern aus ihrem eigenen Stoff; nur aus Stoff: das eben war das Unanständige und kaum auch Traurige, traurig so wenig, wie Dinge traurig sind, die mit dem Körper zu tun haben und nur mit diesem. Der kleine Hans Castorp be-trachtete den wachsgelben, glatten und käsig-festen Stoff, aus dem die lebensgroße Todesfigur bestand, das Gesicht und die Hände des ehemaligen Großvaters. Eben ließ eine Fliege sich auf die unbewegliche Stirne nieder und begann, ihren Rüssel auf und ab zu bewegen. Der alte Fiete verscheuchte sie vorsich-tig, indem er sich hütete, die Stirn dabei zu berühren, und mit einer ehrbaren Verfinsterung seiner Miene, so, als dürfe und wolle er von dem, was er da tat, nichts wissen, – einem Aus-druck von Sittsamkeit, der sich offenbar auf die Tatsache bezog, daß der Großvater nur noch Körper und nichts weiter mehr war; allein nach schweifendem Auffluge nahm die Fliege auf den Fingern des Großvaters, in der Nähe des Elfenbeinkreuzes, kurz aufsitzend wieder Platz. Während aber dies geschah, glaub-te Hans Castorp deutlicher als bisher jene von früher her ver-haute leise, aber so ganz eigentümlich zähe Ausdünstung zu verspüren, die ihn beschämenderweise an einen mit einem lästi-gen Übel behafteten und darum allerseits gemiedenen Schulka-meraden erinnerte, und die zu übertäuben der Duft der Tuberosen unter der Hand bestimmt war, ohne es bei aller schönen Üppigkeit und Strenge imstande zu sein.
Er stand wiederholt an der Leiche: einmal allein mit dem allen Fiete, das zweitemal zusammen mit seinem Großonkel Tienappel, dem Weinhändler, und den beiden Onkeln James und Peter, und dann noch ein drittes Mal, als eine Gruppe von sonntäglich gekleideten Hafenarbeitern einige Augenblicke am offenen Sarge stand, um sich von dem ehemaligen Chef des Hauses Castorp und Sohn zu verabschieden. Dann kam das Be-gräbnis, bei dem der Saal voller Leute war und Pastor Bugenha-gen von der Michaeliskirche, derselbe, der Hans Castorp getauft hatte, angetan mit der spanischen Halskrause, die Gedächtnis-rede hielt und sich nachher in der Droschke, der ersten gleich hinter dem Leichenwagen, der dann eine lange, lange Reihe folgte, sehr freundlich mit dem kleinen Hans Castorp unter-hielt, – und dann war auch dieser Lebensabschnitt zu Ende, und Hans Castorp wechselte gleich darauf Haus und Umgebung, zum zweitenmal tat er das ja bereits in seinem jungen Leben.