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Heart o’ the City-Hotel
ОглавлениеDie nächtlichen Außenaufnahmen vom Heart o’ the City-Hotel lassen zunächst nicht klar erkennen, ob es überhaupt noch in Betrieb ist. Der Flur mit dem Zimmer, von dem aus Trinity soeben telefonierte, ist eindeutig stillgelegt, doch die großen Neonbuchstaben an der Fassade leuchten, und nicht nur der Eingangsbereich, sondern auch die untersten Stockwerke sind erhellt. Zudem funktioniert der Lift, mit dem einer der mittlerweile hinzugekommenen „Agenten“ (drei Anzugträger mit Sonnenbrillen und Ohrempfängern, die wohl nicht umsonst an die FBI-Agenten in Wargames erinnern) sowie weitere Polizisten in den dritten Stock vordringen, um der Gesuchten habhaft zu werden. Die Kamerafahrt entlang der Leuchtreklame endete an dem unbeleuchteten Schild hourly rates, welches man erst am Ende des Filmes noch einmal deutlich lesen kann: es handelt sich um ein Stundenetablissiment.
Das „reduzierte“ Hotel gleicht einer Fassade, hinter der ein Teil des eigentlichen Inhaltes entfernt wurde, um es auf einen neuen Zweck auszurichten. Diesem aussagekräftigen Bild begegnet man bald wieder: bei der ersten Szene in Neos Bude, als er Jean Baudrillards Essaysammlung Simulacra and Simulation hervorholt – auch diese ist letztendlich nur eine Hülle (natürlich mit einem grünen Einband, wie auch das Heart o’ the City-Leuchten grün ist). Dem Zuschauer, der The Matrix zum ersten Mal sieht, sind solche Hinweise auf Zweckentfremdung und Virtualität nicht verständlich, er muss die angebotenen Bilder für „die Realität“ halten. Dies ändert sich freilich mit Trinitys versuchter Verhaftung: innerhalb weniger Sekunden schaltet sie alle vier Polizisten aus, welche – unvorsichtigerweise – noch vor dem Eintreffen der Verstärkung in das Zimmer vorgedrungen waren. Hier wird zum ersten Mal das tricktechnische Mittel der bullet time angewandt, in der das normale menschliche Zeitmoment – gleichsam jenes der Polizisten – eingefroren ist,5 während Trinity in zeitlupenhafter Bewegung zu einem ersten, vernichtenden Kick ansetzt. Der paradoxen Trennung von Zeitebenen geht ein zweites filmisches Mittel einher, das bei der Premiere für Furore sorgte, nämlich die kreisende Kamera, wie sie einmal um Trinity und ihr erstes Opfer herumfährt, bevor sie den Tritt ausführt. Clover (2004, S.25) zeigt sich begeistert von dem damals neuen6 cineastischen Mittel und zieht Parallelen zu anderen künstlerischen Revolutionen: er sieht »something like Cubism, pictorially revealing all perspectives of a still life on a two-dimensional surface.« Der Kubismus-Vergleich ist schon deshalb witzig, da Trinity nach Ausknocken ihrer ersten beiden Gegner in einer Art Vertikalbipedie7 die Wand des Hotelzimmers hochläuft, scharf wendend seitlich an den Zimmerwänden weitersprintet und den nächsten Kontrahenten attackiert, während die Kugeln des vierten Polizisten ihr Ziel verfehlen. Die Sehgewohnheiten des Zuschauers werden also durch gleich drei Novitäten verwirrt: bullet time, kreisende Kamera und die „unmögliche“ Laufbewegung entlang der Hotelzimmerwände. Zeitliche Sukzession und räumliche Perspektiven erscheinen wie artifiziell getrennt und in neuer Form zusammengesetzt.
Trinitys „Wandläufer“-Attacke läuft wieder in Realzeit ab, ebenso wie die Ausschaltung ihrer letzten beiden, chancenlosen Gegner. Ihr finaler Kick über die eigene Schulter geschieht so blitzschnell, dass er für den Zuschauer kaum zu erkennen ist: dieser kann erst mit Verzögerung begreifen, was für eine unglaubliche Bewegung die »titanisch« (Hurka 2004) kämpfende Frau gerade ausgeführt hat.
Lutzka (2006, S.116ff.) sieht in dem kurzen, aber um so spektakuläreren Kampf in Zimmer 303 die typische Herangehensweise der Matrix-Regisseure vorgeführt: es werden – als angeblich postmodernes Standardverfahren – »high art codes« und »popular codes« miteinander verwoben (womit die unbekannten und bekannten Zeichen des Matrix-Codes symbolisch für die Filmkunst der Wachowskis stünden!). Die religiöse Konnotation des Hackernamens Trinity sowie die hierauf zu beziehende Zimmernummer 303 repräsentieren ersteres,8 während die Kampfszene den Anschluss an populäres Actionkino und Computerspiele herstellt (ebd. S.117):
»Trinitys virtual model is obviously Lara Croft. The film’s cultural references to contemporary computer games and to contemporary action movies resorting to kung fu aesthetics have contributed to the vast box-office success of The Matrix (…).«
Dem wäre hinzuzufügen, dass sich Leser von William Gibsons Vorbildtext Neuromancer an die kampftechnisch versierte, hochgefährliche Molly erinnert haben dürften, nachdem sie Trinity in diesen ersten Szenen des Films erstmals in Aktion erlebten. Gibsons (Trash)Romanfigur wird über Videospiel-Sehgewohnheiten auf die Kinoleinwand projiziert, und insbesondere die bullet time, der Clover (2004, S.25f.) die entscheidende, den Zuschauer „einsaugende“ Wirkung zuschreibt, macht die Mixtur der so verschiedenen Medien komplett:
»However, if the scene is frozen but the hero can move through it – if all the power and agency is vested in a singular figure with which we have identified – the circumstances resemble those of a videogame as extensively as a movie can, and still be a movie. For the duration, we have the masterful relation to time already enjoyed by every videogamer. Inevitably, then, the featured bullet-time sequences of The Matrix echo the most popular combat formats of videogames: martial arts and the shooter.«
Im Vorgriff auf das Ende des Filmes ist festzustellen, dass das Zimmer 303 jenes ist, in dem Neos Transformation zum Auserwählten stattfinden wird (genauer gesagt im Flur direkt vor dieser Zimmertür). Dadurch ist bereits angedeutet, dass Trinity die für diesen Transformationsprozess entscheidende Figur darstellt. Vorerst jedoch erlebt sie der irritierte Zuschauer als Kämpferin, die eben noch übermenschlich schnell und tödlich agierte, nur um gleich darauf voller Angst zu fliehen, als ein Agent und weitere Polizisten aus dem Lift aussteigen und auf sie zu laufen. Die anschließende Verfolgungsjagd über Hausdächer – inszeniert als unübersehbare Hommage an Hitchcocks Vertigo (1958) – sorgt für weitere Überraschungen: Trinity zeigt einen gewaltigen Sprung von einem Dach auf das nächste, doch der Agent lässt sich nicht abschütteln, er zieht nach. Die Polizisten hingegen bleiben konsterniert stehen angesichts der „unmöglichen“ Aktionen, die sie gerade mit ansehen mussten. Ihre „Wirklichkeit“ scheint also die der Zuschauer zu sein, während Trinity und der Agent die Regeln der Alltagsrealität brechen können.
Das Ende der Verfolgungsjagd setzt allen gezeigten Unmöglichkeiten die Krone auf, denn Trinity flüchtet in eine anrufbare Telefonzelle, in der es gerade klingelt. Agent Smith – unübersehbar der Chef jener drei Agenten, die kurz nach der Polizei am Heart o’ the City-Hotel eintrafen – überrollt dieses „nutzlose“ Versteck mit einem Truck, doch Trinity, die zuvor noch den Hörer abnehmen und ans Ohr halten konnte, ist verschwunden. All diese Abläufe wird der ahnungslose Zuschauer erst einordnen können, sobald er im weiteren Handlungsverlauf über die Trennung von Matrixwelt und Realität dazulernt. Im Falle der Telefone bedeutet dies: Die Rebellen bevorzugen solche in lost places, wie z.B. in alten Hotels oder in einem aufgegebenen Laden für Fernsehreparaturen. Ob es wirklich vergessene, nicht abgemeldete Anschlüsse sind, wird nicht gesagt, wahrscheinlicher ist wohl, dass zumindest einige der genutzten Apparate nachträglich an diesen vor Beobachtung gut geschützten Orten installiert wurden. Im Katz und Maus-Spiel mit den Agenten sind solche „besonderen“ Leitungen, die z.B. durch die Sendefelder von Handys nicht ersetzbar sind, der größte Trumpf der Rebellen (zur genaueren Ausdeutung Festnetz versus Handy siehe das Kapitel Zwischenbetrachtung I weiter unten). Allerdings nutzen sie auch weniger verborgene Anschlüsse, wie eben öffentliche Telefonzellen – so wie Trinity am Ende der ersten Verfolgungssequenz des Filmes. Warum Trinity aufgespürt wurde und fliehen musste, wird erst später klar: Es war ihr eigener Mitkämpfer Cypher, der sie an die Agenten verriet, um sich bei diesen für weitere Aufgaben zu empfehlen.
5 Die eigentlich namensgebenden bullet time-Szenen, also solche, in denen sich in abgefeuerter Munition das verlangsamte Zeitmoment manifestiert, kommen später. Genial fortgesetzt wird das Motiv, wenn in der letzten von ihnen – nämlich bei Neos Transformation – die Bewegungen der durch den Matrixraum ziehenden Kugeln gänzlich zum Stillstand kommen.
6 Um genau zu sein, ist nicht die kreisende Kamera neu zu nennen, sondern ihr hohes Tempo – man vergleiche die gemächlich ihre Bahn ziehende Vorgängerin in der Kuss-Szene aus Vertigo (1958). Zu Beginn von The Matrix finden sich mehrere Verweise auf diesen (spät etablierten!) Kritikerliebling; es ist, als ob sich zwei Jahrhundertfilme die Hand reichen würden.
7 Ein im anderen Sinne vom Verhaltensforscher Adriaan Kortlandt (1918-2009) eingeführter Begriff.
8 Wobei man der 303 noch andere Bedeutungen hinzufügen kann, etwa die in der Eingangsszene stattfindende Kommunikation von Trinity=3 mit Cypher=0 (Yeffeth 2003, S.243). Wie später klar wird, handelte es sich um ein Gespräch zwischen Gut und Böse, zwischen einem „Engel“ und einem „Teufel“.