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Im Konstrukt

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Bekanntlich hatte Morpheus im Hotel Lafayette behauptet, dass man niemandem erzählen könne, was die Matrix sei – man müsse sie selbst gesehen haben. Diese Formulierung mag nicht unbedingt wörtlich zu nehmen sein, doch sie bringt zum Ausdruck, wie schwierig es wäre, die Matrizianer rein argumentativ vom Täuschungscharakter ihrer Wahrnehmungen zu überzeugen. Solche gut gemeinten Argumente müssen mit Erfahrungen verbunden werden, und hierfür dient das sogenannte Konstruktprogramm – Neo soll es betreten, um zu lernen, was die Matrix ist. Ein analoges Verfahren wurde bereits im berühmten Platonschen Höhlengleichnis befürwortet: Gesetzt, dass jemand wie Morpheus einst der Matrix (= der Höhle) zu entkommen vermochte, das Licht und die Erscheinungen außerhalb derselben sah und nun zu jenen paralysierten Höhlenbewohnern zurückkehren würde, um ihnen die Wahrheit über ihr irregeleitetes Wirklichkeitsbild mitzuteilen, so bestünde deren Reaktion in blankem Unglauben, wenn nicht sogar in physischer Gewalt gegen den Wahrheitsbringer. Die bessere Methode besteht folglich darin, einen dieser Zweifler hinaus ans Licht zu geleiten, so dass er mit seinen eigenen Sinnen die Höhle und ihre trügerischen Schattenbilder zu begreifen lernt. Wenn der Zweifler erst einmal mit eigenen Augen sieht, wie das Sonnenlicht reale Körper anstrahlt und deren Schatten erzeugt, so wird ihm unweigerlich klar werden, dass er sein ganzes bisheriges Leben lang reale Körper mit deren Schattenbildern gleichsetzte und aus diesem fundamentalen Irrtum heraus sein unzutreffendes Realitätsver-ständnis entwickelte. Keine mündliche oder schriftliche Erklärung könnte vergleichbar stark und überzeugend wirken wie dieses eigene Erfahren der wahren Zusammenhänge.

Der Gang in das Konstruktprogramm dient also dazu, 1) die Matrix „von außen“ betrachten zu können (durch einen im Konstrukt stehenden Fernseher, s.u.) und 2) dabei zu lernen, wie ihre bislang als perfekt empfundene Sinnestäuschung zustandekommt. Ganz so, wie der Höhlenbewohner beim Verlassen des Ausganges von der Sonne geblendet wird, betritt Neo eine rein weiße Welt, in der er sich erstmal nur verblüfft umsehen und nach Orientierungspunkten suchen kann. Sein Begleiter Morpheus wird zu einem ersten solchen Objekt, dann ein altmodisches Fernsehgerät, ein Tischchen mit Fernbedienung und zwei verschlissene rote Sessel, die den Sesseln im Lafayette-Hotel entsprechen, in denen Neo und Morpheus beim red pill/blue pill-Ritual Platz genommen hatten.

Das „Nichts“, in dem Neo sich bewegt, wird also nur durch wenige Sinneseindrücke relativiert. Die Ausrichtung seiner Schuhsohlen verschafft ihm eine erste Grundorientierung: er scheint auf einem ebenen, nicht geneigten Boden zu gehen, auch wenn dieser unsichtbar ist. Das Gegenbild zu diesem „Nichts“ unter den Füßen sehen wir etwas später, als Morpheus das Hochladen des Sprungprogrammes befiehlt: von unten kommt ein Hochhausdach auf die in Großaufnahme gezeigten Schuhe der beiden Konstruktgänger zu, bis diese Dachfläche den unsichtbaren Boden des Konstrukts substituiert.

Lawrence (2004, S.185) erliegt dem Reiz, das anfänglich leere Konstrukt in Anlehnung an Immanuel Kants Wahrnehmungstheorie darzustellen:

»Basically, the Construct is a program that loads the necessary preconditions for any perceptual experience whatsoever – that is, it loads the grids of time and space.«

Kantianisch inspiriert wäre dem aber die Frage entgegenzuhalten, warum etwas geladen werden muss, was im angeborenen Erkenntnisapparat ohnehin schon vorhanden sein soll. Der Anfang der Konstruktszene erinnert daher eher an einen polemischen Einwurf des Kantianers Schopenhauer (aus seiner Vorrede zu »Über den Willen in der Natur«, 1836):

»Holt mir einen Bauern vom Pfluge, macht ihm die Frage verständlich, und er wird euch sagen, daß, wenn alle Dinge am Himmel und auf der Erde verschwänden, der Raum doch stehn bliebe, und daß, wenn alle Veränderungen am Himmel und auf der Erde stockten, die Zeit doch fortliefe.«

Morpheus hält sich natürlich nicht mit solchen erkenntnistheoretischen Feinheiten auf. Stattdessen versucht er den erstaunten Neo davon zu überzeugen, dass beide sich tatsächlich gerade in einem Computerprogramm aufhalten, also in einem gänzlich virtuellen, „leeren“ Raum, der mit beliebigen Gegenständen beladbar ist: etwa Waffen und Kleidung. Morpheus nennt daher das Konstrukt auch »unser Ladeprogramm«. Im Moment sind mehrere solcher Gegenstände geladen: die erwähnte „TV-Ecke“ mit zwei Sesseln. Neo berührt eine der beiden Sitzgelegenheiten und muss feststellen, dass sie sich genau so anfühlt wie ihr abgewetztes Pendant im Lafayette. Doch sie ist nicht real, und genau darauf will Morpheus in seinen Erläuterungen hinaus: auch die Sessel im Lafayette waren nicht real. Das ganze Hotel war nicht real. Die Stadt und das darüber hinwegziehende Gewitter waren nicht real – die ganze Welt war es nicht. Gezielt verabreichte elektrische Impulse, die Neos Hirn Pseudo-Sinneseindrücke verabreichten, haben ihm sein Leben lang eine „Realität“ vorgetäuscht, ebenso wie Platons Höhlenbewohnern eine Realität aus interagierenden Schatten vorgegaukelt wurde.

Wenn Neos anfänglicher Eindruck eines „leeren“ Raumes durch den unsichtbaren, festen Untergrund, auf dem er und Morpheus stehen, sowie die dort platzierten Objekten aufgehoben wird, letztere jedoch einfach „hineinprogrammiert“ wurden, dann weiß Neo nun scheinbar alles, was er erfahren sollte: auch die Objekte der Matrixwelt waren samt und sonders programmiert. – Doch was ist mit den Subjekten der Matrixwelt? Um diese mit Hilfe des Konstrukts richtig einordnen zu können, stehen Neo gerade nur die eigene körperliche Erscheinung sowie jene von Morpheus als Maßstab zur Verfügung. Hier jedoch ist etwas Eigenartiges zu bemerken, worauf Morpheus ihn auch umgehend aufmerksam macht: Beide sehen anders aus als noch Sekunden vorher im Hovercraft; sie tragen andere Kleidung, haben keine Anschlüsse mehr am Körper, und Neo hat sogar die vormalige Frisur aus seiner Matrizianerzeit wieder.

Morpheus spricht von einem »residual self image«, einem Restbild, einer »mental projection of your digital self«. Dieses Restbild – ein Hirnforscher würde vielleicht von einer Körperrepräsentation sprechen – wird offensichtlich in Code umgesetzt, da es ja von einem im Konstruktprogramm anwesenden Beobachter wie Morpheus wahrgenommen werden kann. Der tiefere Wert dieser Information dürfte sich Neo erst sehr viel später erschließen, sprich dann, wenn er wieder grübelnd in seiner Kabine sitzt. Ihm dürfte klar werden, dass er in der Matrix jederzeit in der Lage war, eigene Willenshandlungen zu begehen: also etwa einen Fernseher einzuschalten, sich das Programm anzuschauen, über dessen Inhalt nachzudenken und den Apparat wieder auszustellen – oder auch, das Gerät durch Hinausschleudern aus dem Fenster unbrauchbar zu machen. Über das Interface in seinem Gehirn werden diese seine Willensakte in die Matrixwelt geleitet; er kann mit den dort versammelten virtuellen Gegenständen interagieren und sie sogar zerstören, sofern es den bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten entspricht. Eine ganz zentrale Frage – und zwar genau die, die zur Thematik des Auserwählten führt! – ist dann aber, ob „unerwünschte“ Willenshandlungen oder Wünsche, deren Realisierung die Scheinphysik der Matrix aufdecken würden, von diesem Interface sicher abgefangen werden können. Das „Restbild“ im Konstrukt könnte man ja als Wunschbild aus den Tiefen der menschlichen Psyche interpretieren, etwa so, wie man sich auch in einen Traum hineinprojiziert (und Morpheus spricht wohl nicht umsonst wie ein Psychologe von einer »Projektion«). Im Konstruktprogramm werden solche wunschmäßigen Selbstbilder erstmals bewusst erfahrbar; Neo erscheint so, wie er „sein will“, wie er sich selbst gerne sieht. In der Matrix hingegen muss einem Großteil solcher Regungen vorprogrammierter Widerstand entgegengesetzt werden, was bereits ein Faktor dafür sein könnte, dass manche Matrizianer so etwas wie externe Unterdrückung verspüren und ihre Umgebung auch nach langer Gewöhnung nicht annehmen wollen. Der Auserwählte (von dem Neo hier natürlich noch nichts weiß) ist dann jemand, der einen Schritt weiter zu gehen vermag: er kann die Unterdrückung unerlaubter »mentaler Projektionen« gänzlich überwinden und der Matrix seinen Willen aufzwingen.

In diesem Zusammenhang kann Clover (2004, S.64f.) so gelesen werden, dass der geheimnisvolle Effekt des residual self image, wie er im Konstruktprogramm „ungefiltert“ zur Wirkung kommt, zu einem gewissen Teil von allen Rebellen in die Matrix hineingetragen wird (also nicht nur vom späteren Auserwählten). Hat ein Redpiller erst einmal gelernt, wie die Matrix ihn einst manipulierte, und zudem den Effekt des persönlichen, stabilen Restbildes im Konstrukt erfahren, so kann er einen Teil dieser neu erlebten, aus seinem tiefsten Inneren gespeisten Autonomie aufrechterhalten, wenn er in die Matrix zurückkehrt. Der von Clover (ebd.) ausgemachte Indikator sind die mit fetischistisch anmutender Liebe (und als Herausforderungsgeste gegenüber den Agenten?) getragenen Sonnenbrillen der Rebellen – genauer gesagt, dass diese bei Kämpfen und anderen starken Krafteinwirkungen erstaunlich stabil sitzen (bestes Beispiel ist der »Burly Brawl« in Reloaded, in dem Neo trotz etlicher gegnerischer Treffer bis zum Ende stylish sonnenbebrillt bleibt). In den Sonnenbrillen, aber auch ihrer sonstigen Kleidung durchdringen sich Matrix-Code und Matrix-Bewusstsein der Redpiller. In diese oberste Schicht über ihrem virtuellen Körper setzt sich ihre „entkoppelte“ Körperlichkeit fort und zeigt eine dementsprechende Widerständigkeit gegen die Gesetze der Matrix. Der autonome Kern, den jeder Matrizianer tief in seinem Innersten besitzt und ihn zu Zweifel und Rebellion befähigt, ist nach dem Befreiungserlebnis also ausgeweitet, umfasst den ganzen Körper und auch jene „uneinheitliche“ oberflächennahe Zone, in der Körperliches mit Nicht-Körperlichem zusammentrifft respektive sich durchdringt (Bewusstseinsforscher sprechen von einem peripersonalen Raum). Die Sonnenbrillen sind hierbei natürlich als das Kleidungsstück mit dem stärksten Symbolgehalt zu verstehen (Clover 2004, S.65):

»They’re certainly not optical devices; who would need such a thing in the Matrix, which is itself a huge optical device? Their very unnecessariness underscores the symbolic gesture: each set of lenses is a stylised version of the mediating screen that tints the world without itself appearing.«

Matrix-Liebe

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