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Deep Image – Wahrheit via Monitor
ОглавлениеDer Effekt des residual self image ist sicherlich einer der rätselhaftesten, aber auch wichtigsten Aspekte, wenn es um die geistige Versklavung in der Matrix und deren Überwindung geht. So gesehen wirkt es wie ein gewollter Kommentar, wenn auf dem altertümlichen, im Konstrukt stehenden Fernsehgerät der Schriftzug Deep Image auszumachen ist. Doch es lassen sich noch mehr Bedeutungen ausmachen, da der gezeigte AWA Radiola Deep Image-Fernseher aus dem Jahr 1958 stammt. Damals wurden nicht nur integrierte Schaltkreise erfunden, welche gut zehn Jahre später eine Massenproduktion von Computern erlaubten, erstmals im Schrifttum nachweisbar ist auch die Begrifflichkeit einer technischen »Singularität«. John von Neumann (1903-1957), bekannt als genialer Mathematiker und „Vater der Informatik“, soll einen solchen Grenzpunkt der technischen Evolution, hinter dem alle Tätigkeiten des Menschen zurückbleiben (oder gar enden) müssten, vorausgesagt haben (Ulam 1958, S.5). Und auch ein cineastisches Zitat lässt sich vermuten: in They live (1988) versuchen Widerstandskämpfer, die „schlafende“ Menschheit mit Hilfe illegaler TV-Botschaften zu wecken; in einer von diesen ist von einer absichtsvollen Veränderung der Erdatmosphäre seit 1958 die Rede (letzteres entfiel in der deutschen Synchro).
Es passt also sehr gut, dass Neo über diesen virtuellen Vintage-Gegenstand zur Erkenntnis neuer „Basiswahrheiten“ geführt werden soll.32 Morpheus schaltet das Gerät ein und erläutert, dass die Welt, wie es sie einst zum Ende des 20.Jahrhunderts gab, nur noch in Form einer neurointeraktiven Simulation existiert: als »die Matrix«. Das erste Fernsehbild zeigt die Skyline einer modernen Großstadt. Dann schaltet Morpheus auf Großstadtszenen um, die jedoch allesamt modifiziert sind: wir sehen eine Menschenmenge, die sich in Zeitlupe bewegt, sodann Autos, wie sie im Zeitraffer gefilmt über eine Schnellstraße hinwegschießen. Die letzte Einstellung schließlich ist eine Flugaufnahme über die Dächer von Wolkenkratzern, aufgenommen mit einer Fisheye-Optik. Ziemlich offensichtlich handelt es sich um eine Hommage an den zivilisationskritischen Experimentalfilm Kooyanisqatsi (1983), der mit entsprechenden Verfremdungstechniken arbeitete. Das titelgebende Wort aus der Hopi-Sprache kann als „aus dem Gleichgewicht geratenes Leben“ übersetzt werden. Wie Morpheus gleich darauf zeigt, ist die Zivilisation nicht nur aus dem Gleichgewicht geraten, sondern gestürzt: Die Realaufnahme der Metropole, wie sie jetzt, zu diesem Zeitpunkt aussehen soll, zeigt komplett verfallene, ausgebombt und verbrannt wirkende Skylinereste unter einem wolkenverhangenen, grauschwarzen Himmel (Hurka 2004 S.256 spricht herrlich von »Beckett-Grau und Beckett-Gewölk«). Das Konstruktprogramm übernimmt diese Realbilder aus dem Fernseher, um Morpheus und Neo darin einzubetten – scheinbar sitzen sie am Fuß eines Abhanges, inmitten einer finsteren Geröllwüste. Morpheus kommentiert den Effekt mit den Worten: »Willkommen in der Wüste Wirklichkeit« – Baudrillards Simulacra and Simulation paraphrasierend.33
Neo erfährt, dass die Menschheit irgendwann zu Beginn des 21.Jahrhunderts in einen mörderischen Krieg mit den von ihr selbst geschaffenen Künstlichen Intelligenzen verwickelt wurde. Da man die KI-Systeme von Solarenergie abhängig glaubte, verdunkelte die Menschheit in einer letzten verzweifelten Anstrengung den Himmel, doch die Aktion verfehlte ihr Ziel. Die KIs übernahmen die Herrschaft auf der Erde, während die letzten Widerstand leistenden Menschen ins Erdinnere flüchteten. Der Großteil der besiegten Menschheit wurde von den KIs in einen komatösen Zustand versetzt, ihre Leiber dienen als bioelektrische Energiequelle, die – kombiniert mit einer fortschrittlichen Fusionstechnik34 – den Energiebedarf der Maschinen deckt. All diese in einem ständigen, technisch überwachten Schlaf existierenden Menschen kennen nur die virtuelle Matrixwelt, in der sie – soll heißen, ihre virtuellen Leiber, welche man Avatare nennen könnte – ein scheinbar autonomes Leben führen. Sie altern und sterben in ihren Kokons, und parallel auch in ihrem scheinrealen Matrixleben. Nach ihrem Tod werden sie zu Nährlösung für neue Generationen recycelt (was Seeßlen 2003, S.80 zu Recht an Soylent Green von 1973 erinnert): künstlich gezeugte Embryonen, deren Zentrale Nervensysteme von Anfang an mit den Datenströmen des Matrixprogrammes beschickt werden.
Etwas verwundert muss man mit anhören, dass Morpheus von sich behauptet, die riesigen Zuchtfelder, auf denen massenweise menschliche Embryonen aufgezogen werden, »mit eigenen Augen gesehen« zu haben. Der Fernseher zeigt die dazugehörigen Bilder, und als Zuschauer fragt man sich, wie Morpheus in diesen Machtbereich der Maschinen gelangen konnte (wie auch an die Energietürme, in deren unmittelbarer Nähe er den entkoppelten Neo ja rettete). In Matrix Revolutions jedoch wird uns dies direkt vorgeführt: zunächst hören wir, dass es noch nie jemandem gelungen sei, »näher als hundert Kilometer« an die Maschinenstadt heranzukommen. Wenig später erreichen Trinity und Neo an Bord der Logos den Außenbezirk der Maschinenstadt und haben tatsächlich Zeit, die Felder in Ruhe zu betrachten – es sind keine Wächter (»Squiddies«, s.u.) oder andere aggressiven Abwehreinheiten vorhanden. Ein Geheimnis soll aus den Zucht- und Brutanlagen offenbar nicht gemacht werden, da jeder Redpiller um diese weiß beziehungsweise während seiner Befreiung eine Ahnung davon bekommen hat, in welch ungeheuren Mengen Menschen künstlich gezeugt und in Brutkammern gehältert werden. Weder im Sinne einer Geheimniswahrung noch dem eines generellen Funktionsschutzes sind die Außenbereiche der Felder besonders abgesichert. Die Maschinen scheinen sich hier auf die menschliche Denkweise zu verlassen: kein Rebell würde in dieser Zone etwaige Angriffs- und Zerstörungspläne befürworten, da man dabei ja den Tod kleiner Menschenwesen in Kauf nehmen müsste. In hässlicher Militär- beziehungsweise Propagandasprache ausgedrückt: Die Embryonen fungieren als „menschliche Schutzschilde“, und indem sie diesen Zweck mit allerhöchster Effizienz erfüllen, können sich die Maschinen unnötigen Überwachungsaufwand sparen. Erst jemand, der unbeirrt über die Felder hinweg auf die eigentliche Maschinenstadt zufliegt, wird als Bedrohung wahrgenommen und von – in diesem Fall allerdings sehr massiven – Wächtereinheiten attackiert.
Letztgenannte Überlegungen wird Neo jedoch viel später erst anstellen können, denn für den Moment ist er viel zu schockiert von dem, was er gerade erfahren hat. Als Morpheus ihm seine finale Definition für die Matrix anbietet, nämlich »Kontrolle«, und dabei zeigt, in welchem Zustand die Matrizianer lebenslang verharren sollen (er hält die oben bereits erwähnte Duracell-Batterie in der Hand), erleidet Neo einen Nervenzusammenbruch und verlangt, aus dem Konstrukt entlassen zu werden.
32 Neo hat letztendlich drei Schlüsselerlebnisse dieser Art, in denen virtuelle Monitore eine vermittelnde Rolle spielen. Zuerst, als Trinity den Bildschirm seines Computers mit Botschaften beschickt, dann der von Morpheus bediente Deep Image-Fernseher im Konstrukt, und schließlich in Matrix Reloaded die Monitorwand im Raum des Architekten.
33 Baudrillard kehrt dort eine „Karte und Gebiet“-Fantasie von Jorge Louis Borges um: »Its the real, and not the map, whose vestiges subsist here and there, in the deserts which are no longer those of the Empire, but our own. The desert of the real itself.« (Hervorhebung im Original, zitiert nach Clover 2004, S.32 – zum Borges-Vorbild vgl. ferner Felluga 2003, S.72).
34 Dieser Punkt in Morpheus’ Erläuterungen wird von Kritikern wie Haldeman (2003) gerne übersehen. Die Aktionsströme, wie man sie von den Organen aller Tiere kennt, sind sehr gering und (ebenso wie die Körperwärme) sicherlich keine effiziente Energiequelle – aber wir wissen eben nichts über die hieran gekoppelte Fusionstechnik der KIs. Mehr hierzu im Kapitel »Zwischenbetrachtung I«.