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Zerfließender Spiegel und zerreißender Kokon: Neos Abkoppelung

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Morpheus führt Neo in den Nebenraum, wo alle Vorbereitungen zur Abkoppelung getroffen wurden. Seine Erklärungen, etwa dass die rote Pille Teil eines Tracerprogrammes sei – wie ja auch die biomorphe Wanze in seinem Körper ein Programm war – kann Neo natürlich nicht verstehen (und auch der Zuschauer nicht: Lloyd 2003 S.108 erklärt, dass man es zur Ortung von Neos „Kokon“ benötigt). Wieder ist es Trinity, die sich demonstrativ um den zu Befreienden kümmert und ihm Elektroden anlegt, welche für die weitere Prozedur nötig sind. Neo scheint hier zum ersten Mal Dankbarkeit für ihre Zuwendung zu empfinden und fragt seine Helferin, ob sie all dies auch erlebt hätte, was sie kurz bejaht.

Das Gegengewicht zu Trinitys „distanzierter Zuwendung“ bildet Cypher, der eine Frage Neos mit »buckle your seatbelt Dorothy, because Kansas is going bye-bye« beantwortet, also einer Stelle aus dem Wizard of Oz. In der deutschen Synchro wurde sie, da das Zitat dem hiesigen Kinopublikum nichts sagen dürfte, mit »hier wird es gleich sehr ungemütlich werden« übersetzt. Was Cypher wirklich damit meint, hat er Trinity beim Telefonat zu Beginn des Filmes ja ganz offen mitgeteilt: er erwartet, dass die Abkoppelungsprozedur Neo umbringen wird.

Inzwischen verhält Neo sich wie jemand, der zum ersten Mal eine bewusstseinsverändernde Droge eingenommen hat – er versucht, sich zu entspannen, und wartet auf das Einsetzen der Wirkung. Schon bald merkt er, dass sich in seiner Umgebung etwas verändert – er blickt in einen alten, mittelgroßen Spiegel, der Sprünge aufweist. Durch diese Beschädigung ist Neos Gesicht mehrfach reflektiert, doch das Bild verändert sich: der Spiegel scheint zu zerfließen, die Sprünge verschwinden, so dass die Mehrfachspiegelung aufgehoben wird (für Schuchardt 2003, S.7 ein Symbol für die Findung des wahren Selbst). Als der verwunderte Neo den Arm ausstreckt und die Spiegelfläche berührt, ist es, als ob er eine Flüssigkeit touchiert – um seine im Spiegelglas verschwindenden Fingerspitzen bilden sich konzentrische Ringe (ein Through the looking glass-Moment). Diese „Spiegelflüssigkeit“ jedoch verhält sich anders als Wasser; sie ist schwerer, zäh-elastisch, und beginnt über Neos Hand zu kriechen. Abermals handelt es sich um eine Hommage, nämlich an Cocteaus Orphée von 1950, in der eine vergleichbare Spiegelszene mit Hilfe eines Quecksilberbeckens gedreht wurde.

Nicht nur Neos Verwirrung, sondern auch die des Zuschauers ist komplett, als der verflüssigte Spiegel Neos Arm hinaufkriecht, seinen Hals erreicht und sich seinen Lippen nähert. Zwar hat Morpheus versucht, Neo anzudeuten, dass er in einer Art Traumwelt lebe, doch in der konkreten Situation kann der Angesprochene dies nicht mehr verarbeiten (und der Betrachter ebensowenig). Die Spiegelschicht stürzt über seine Lippen in sein Körperinneres, während Neo einen bizarr verzerrten, panikartigen Schrei ausstößt – begleitet von einer Kamerafahrt durch seine Luftröhre, die den zoom durch die röhrenartig ausgezogene Null zu Beginn des Filmes fortsetzt (und auch später noch mit allerlei dynamischen Tunnel- und Höhleneinstellungen ergänzt wird). Dann findet er sich in einem länglichen, halbdurchsichtigen Kokon wieder, in dem er in einer Art „Amnionflüssigkeit“ schwimmt.

Wie bereits festgehalten, war Neo der geheimnisvolle Matrixbegriff schon länger bekannt. Sollte er eine etymologische Entschlüsselung versucht haben, so entnahm er den Wörterbüchern sicherlich, dass sich »Matrix« u.a. vom lateinischen mater herleitet. Diesen Aspekt darf Neo jetzt unmittelbar kennenlernen, denn er ist nackt, wie ein Embryo im Mutterleib.28 Als er die weiche Hülle des Kokons durchstößt und sich aus seiner liegendschwebenden Position heraus aufsetzt, muss er voller Entsetzen registrieren, dass um ihn herum, an den Außenwänden gigantischer, turmartiger Konstruktionen, unzählige solcher Kokon-Behältnisse angebracht sind, in denen sich jeweils ein einzelner, regungsloser menschlicher Körper in einer Flüssigkeitsfüllung befindet.

Lloyd (2003, S.105) zieht aus der Tatsache, dass Neo in diesem Moment – den ersten bewussten Sekunden in seinem realen Leib – optische Informationen verarbeiten kann, Rückschlüsse über die Übertragungswege der Matrixdaten, welche bislang sein Nervensystem stimulierten:

»The fact that he can see and hear proves that the visual and auditory cortices of his brain are working. This wouldn’t be possible if the Matrix had put its sensory data into the deeper centers of his brain. For then his sensory cortex would have been bypassed: it would never have received any stimulation, and would have wasted away.«

Viel Zeit, seine ersten optischen Eindrücke in der Realität zu verarbeiten hat Neo jedoch nicht, da von oben etwas auf ihn zu kommt. Der Top-Shot in dieser Szene nimmt dieselbe „Deckenperspektive“ auf, aus der wir den schlafenden Neo vor seinen Monitoren gesehen haben. Die Nachricht »the Matrix has you«, welche auf seinem Bildschirm erschien, kann Neo auch jetzt, kurz nach seinem Erwachen im Kokon, nicht verständlich sein. Sie könnte ihm aber ein wenig dabei helfen, den über ihn hereinbrechenden Schrecken psychisch zu überstehen. Morpheus hatte versprochen, ihm zu zeigen, was die Matrix ist, aber ihm gleichzeitig angedeutet, dass es nicht angenehm sein würde. Für den Moment manifestiert sich diese Ankündigung in dem insektoiden Überwachungsroboter, der – wie eine aufgeschreckte Arbeiterin in einem Ameisenstaat – zur schadhaften Stelle hinabgeeilt ist und Neo mit einem Greifarm am Hals packt, dessen Aussehen und Bewegungsweise an die Fangmaske einer Libellenlarve erinnern. Die Anschlüsse an Neos Körper springen ab, und auch der Roboter lässt ihn sofort wieder los: Neo ist „unbrauchbar“ geworden und von der Matrix entkoppelt. Er wird zusammen mit seinem pseudouterinen Flüssigkeitskissen abgesogen (Fontana 2003 S.182 weist darauf hin, dass hier ein optisches und akustisches „Echo“ zur Fensterputzszene vorliegt) und rutscht eine lange Röhre hinab29 in ein Gewässer, welches die riesigen Kokontürme umfliesst. In diesem abwasserartigen Strom – inter faeces urinamque nascimur – wäre sein Tod durch Ertrinken besiegelt, würde sich von oben nicht erneut ein Greifarm auf ihn herabsenken, der Neo herauszieht und im Rumpf eines großen Fahrzeuges verschwinden lässt.

28 Biowissenschaftlich hat der Terminus „Matrix“ stets mit Einbettung zu tun. So scheiden etwa spezielle Zellen eine Extrazelluläre Matrix ab (übliches Kürzel: ECM) und betten sich zuweilen selbst in diesen faserigen „Verbundwerkstoff“ ein. In Deutschland wurde sogar eine Evolutionstheorie entwickelt, deren Argumentation ganz entscheidend auf den Eigenschaften der tiertypischen ECM fußt: sie wird als eine Art Konstante im Evolutionsgeschehen betrachtet; alle evolutionären Abwandlungen sind an dieses unverzichtbare Bauelement gekoppelt. Auch die Wahrnehmung unserer Umwelt wird auf Grundlage dieser „Matrixtheorie“ (ihre Entwickler sprachen präziser von Gallertoid-Hydroskelett-Theorie) erklärt, wobei es zu unüberbrückbaren Differenzen mit der – viel populäreren – „Evolutionären Erkenntnistheorie“ kommt (vgl. Edlinger et al. 1989).

29 Die Geburtskanalsymbolik ist evident. Vorangegangene und spätere Bilder des Filmes replizieren die Ästhetik H. R. Gigers, in dessen Werk nicht selten die künstlerische Dauer-Verarbeitung eines Geburtstraumas vermutet wird. Beginnend mit der Kokon-Szene jedenfalls ist die psychoanalytische Bedeutungsebene des Filmes installiert, welche bis zum Ende der Trilogie (Neos Gang in die Maschinenstadt) durchgehalten wird.

Matrix-Liebe

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