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Zimmer 101: Neos Mansarde
ОглавлениеNach Trinitys gelungener Flucht zoomt die Kamera in einen Telefonhörer hinein und gleich im Anschluss aus einem Monitor heraus: es ist ein Computer in Neos Mansardenwohnung. Der Bildschirm ist eingeschaltet; über ihn scrollen Nachrichtenseiten in verschiedenen Sprachen. Berichtet wird von der Jagd auf einen gewissen Morpheus, der auch auf einem Foto zu sehen ist: ein kahlköpfiger, bullig wirkender Mann mit Sonnenbrille.
Wieder hat man es mit subtilen Anspielungen zu tun, die erst dann verständlich werden, wenn man den ganzen Film (beziehungsweise die Trilogie) kennt. Das Telefonat zwischen Trinity und Cypher verband Matrix und reale Welt (= das Operatordeck der Nebukadnezar). Später ermöglichte eine solche Festnetzleitung (= die Telefonzelle) Trinitys Flucht aus der Matrix. Die Leitung aus dem Hotel konnte Trinity hierfür nicht mehr benutzen, da diese von den Agenten schon durchtrennt worden war. Nur funktionale Festnetzleitungen bieten also einen Fluchtweg aus dem Matrix-Gefängnis. Da der oben genannte in-zoom in einen zerstörten Telefonhörer ging, kann der out-zoom nicht in die Realität führen. Folglich befinden wir uns beim out-zoom in Neos Zimmer hinein immer noch in der Matrix-Virtualität.
Wir sind aber bei einem ganz besonderen Matrizianer gelandet. Der out-zoom aus Neos Computerbildschirm erfolgte durch das Wort »search« hindurch, genauer gesagt durch die Schleife des Buchstabens »a«. Man kann dies als das Gegenstück zum zoom durch die Null verstehen, mit dem wir die illusionäre Matrixwelt gleichsam das erste Mal betraten. 0 und a sind wie Omega und Alpha. Von einem „Ende“ aus also wird ein neuer „Anfang“ gesucht. Darauf hatten uns, wie im obigen »Anruf aus der Matrix«-Kapitel beschrieben, auch schon die Zahlen 5 und 6 hingewiesen: Neo wird prüfend beobachtet, er soll der neue »Auserwählte« sein, der die Menschen aus ihrer Gefangenschaft im Matrix-System hinausführen könnte. Dummerweise wird er nicht nur von Personen gesucht, die auf ihn hoffen, sondern mittlerweile auch von den Agenten des Systems. Hier aber gibt es einen folgenreichen Unterschied: für Morpheus und seine Leute ist Neo der potenzielle Erlöser, für die Agenten hingegen ist er momentan nur eine von mehreren »Zielpersonen«. Die Agenten des Systems haben noch nicht verstanden, wie gefährlich Neo ihnen werden könnte, und im weiteren Verlauf der Trilogie lernt man sogar, dass sie von regelmäßig wiederkehrenden Matrix-Erlösern nichts wissen: diese brisante Information ist höchst wenigen Eingeweihten vorbehalten.
Tatsächlich wirkt Neo nicht gerade furchteinflößend. Er ist ein ganz normaler, junger Mann von unauffälligem Äußeren, der offenbar kein Bestreben verspürt, seinem angenehmen Erscheinungsbild durch Maßnahmen wie Tattoos oder Piercings eine „besondere“ Note zu verleihen. Ihn scheint weniger sein Körper (im Sinne des rein Äußerlichen) zu beschäftigen als vielmehr seine Existenz. Seeßlen (2003) breitet diese Sichtweise in beinahe obsessiver Manier aus: die des jungen Mannes, der noch nicht in der „Welt“ angekommen ist, weil er gute Gründe besitzt, das Ankommen zu verweigern.
Der sechsundzwanzig Jahre alte Neo (zur Altersangabe siehe Kapitel »Verhör und Verwanzung«) arbeitet als Programmierer in einer Softwarefirma, bürgerlich heißt er Thomas A. Anderson. Seine eigentliche, in Nächten und an Feiertagen gelebte Berufung jedoch ist die eines Hackers – „Neo“ ist sein Hackername. Unter diesem Alias geht er den Fragen nach, die ihn beschäftigen, genauer gesagt seit langem schon bedrängen: seinem „Unbehagen in der Kultur“ des späten 20. Jahrhunderts. Er ist im Berufsleben unglücklich und spürt, dass nicht nur in seinem Dasein, sondern in der gesamten Umwelt, wie sie ihn bisher geprägt hat oder zu prägen versuchte, etwas nicht stimmt. Dass er auf einem meisterlichen Hackerlevel steht, kann man daran ersehen, dass er bereits einige hochinteressante Hinweise aufgespürt hat. Doch seine Attitüde ist alles andere als selbstverliebt; ganz im Gegenteil spürt er nagende Unzufriedenheit mit sich und seinem bisherigen Kenntnisstand, so dass er seine Wahrheitssuche mit unverminderter Intensität vorantreibt.
Als Folge dieser Anstrengungen ist Neo, musikhörend vor seiner Bildschirmfront sitzend, eingeschlafen (und bemerkt jenen »Morpheus« auf den Nachrichtenseiten nicht, dessen Name passenderweise dem Ovidschen Gott des Schlafes und der Träume entspricht). Auf seinem Kopfhörer läuft »Dissolved Girl« von Massive Attack:9 wenn man so will, ein Verweis auf die im Cyberraum (wie auch in Neos Sehnsüchten?) verteilte Trinity, die sich soeben anschickt, auf Neos Rechner „auszukristallisieren“ – und ihm etwas später, beim Aufeinandertreffen im Underground-Club, erstmals von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen wird (sofern man dies bei virtuellen Körpern sagen darf).
Neos Hauptbildschirm, über den die Nachrichtenseiten flimmerten, wird plötzlich schwarz. Sein Unterbewusstsein scheint auf diese Änderung in seinem Zimmer sofort zu reagieren, wie auf ein ungewohntes Geräusch – er blinzelt und erwacht. Passend dazu liest er die Worte »Wake up, Neo…« auf dem Monitor, gefolgt von »The Matrix has you…«. Wie sich später zeigen wird, ist Neo das Reizwort »Matrix« nicht unbekannt; es ist zu einem geheimnisumwitterten Schlüsselbegriff seiner nächtlichen Cyberraumreisen geworden.10 Wohl deshalb muss die ganze Szene etwas höchst Irreales für ihn haben, und der nächste Satz liest sich vollends kryptisch: »Follow the white rabbit…«. Instinktiv bedient der soeben Erwachte die Tastatur und versucht die Kontrolle über seinen Rechner zurückzuerlangen, doch dann koinzidiert die vierte auf dem Schirm erscheinende Botschaft »Knock, knock, Neo« mit einem Klopfen an seiner Zimmertür. Ein kurzer Blick Neos in diese Richtung und seine Frage, wer da sei (es ist sein Freund Choi und dessen Clique), genügt – als er wieder auf den Bildschirm schaut, zeigt dieser völlige Schwärze. – War alles nur ein Traum, oder eine Folge von Aufwachbildern?11
Der Begriff »Matrix« erscheint in dieser Szene zum ersten Mal – natürlich in grüner Schrift vor schwarzem Hintergrund –; er ist vielfach aufgeladen und für Neo bisher unentschlüsselbar. Eine der Auslegungen, wie die Interpreten des Filmes sie später dem Publikum präsentierten, dürfte aber recht nahe an den Bedeutungskomplex heranreichen, dem Neo bei seinen Elukubrationen auf der Spur ist (Faller 2004, S.1):
»(…) the idea of the Matrix closely parallels our internet, a worldwide network of computers. This network we call the World Wide Web depends on the interconnectivity of each computer to create the fabric of the virtual community. On one level the Matrix is a symbol for the internet and its intersection with pop culture. (…) Maybe the Matrix is first and foremost a cyber-symbol – a symbol of the way computers are changing our culture, and of what we hope and fear our culture might become.«
Als Neo die Zimmertür öffnet, erkennt der Zuschauer auf dieser die Nummer 101. Seeßlen (2003, S.70) verweist auf das entsprechende Zimmer der Ängste in Orwells 1984; dem obigen Zitat Fallers entsprechend scheint das Internet Neo in einen wahren Abgrund hineingezogen zu haben. Wie bald deutlich wird, haben diese Einblicke mit Morpheus zu tun; er ist derjenige, der Neo auf eine alptraumhafte Wirklichkeit vorbereitet – einen Alptraum, der über alles hinausgeht, was der junge Hacker sich vorstellen kann.
9 Witzig ist, dass die Wachowskis auch hier wieder (d.h. wie im Vorspann) ein Spiel mit den Zahlen 5 und 6 treiben: Bei einer kurzen – sicherlich nicht unabsichtlichen! – Kamerafahrt entlang Neos CD-Player sieht man, dass dieser gerade den Track Nr.5 spielt. Auf dem Mezzanine-Album von 1998, mit dem »Dissolved Girl« auf den Markt kam, ist dies aber Track Nr.6.
10 Entlehnt aus der im Vorkapitel schon erwähnten Trashvorlage Neuromancer von William Gibson (1984). Der erste Satz, in dem das Wort auftaucht, lautet in deutscher Fassung (Gibson 1987, S.12): »Alles Speed, das er nahm, alle Streifzüge in die Gassen und Winkel von Night City halfen nichts; immer noch sah er im Schlaf die Matrix, helle Gitter der Logik, die sich über der farblosen Leere entfalteten…«
11 Also eine Abfolge sogenannter hypnopomper Bilder, im Gegensatz zu hypnagogen Bildern (= Einschlafbilder).