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1.4 Fazit

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Wie meine Ausführungen zeigen, bleibt die Frage nach der Ätiologie der sexuellen Orientierungen letztlich offen. Dies gilt für die Bi- und Homosexualitäten ebenso wie für die Heterosexualitäten. Dabei betrachte ich die drei genannten Orientierungen nicht als qualitativ distinkte Kategorien, sondern lediglich als Kristallisationskerne, Eckpunkte auf einem Kontinuum mit fließenden Übergängen.

Das Gleiche gilt nach meiner Erfahrung auch für die Cis- und die Transgeschlechtlichkeiten. Bei den Menschen mit einer Cisgeschlechtlichkeit entspricht das innere Bild der betreffenden Person ihre Identität, dem (biologischen) Geschlecht, dem sie nach der Geburt zugewiesen worden sind. Bei Menschen mit einer Transgeschlechtlichkeit hingegen entspricht das innere Bild, das sie von sich haben, ihre Identität, nicht ihrem (biologischen) Geschlecht, dem sie nach der Geburt zugewiesen worden sind.

Ein Teil der trans Personen fühlt sich – im Sinne der binären Auffassung der Geschlechter – dem »anderen« Geschlecht zugehörig. Ein keineswegs geringer Teil von Menschen mit Transgeschlechtlichkeit hat jedoch eine nicht-binäre Identität (»genderqueer«). Diese Personen können sich keinem der beiden dichotom gedachten Geschlechter, Mann oder Frau zuordnen, sondern empfinden sich »dazwischen«. Dies kann eine stabile Identität sein. Sie kann aber auch gender-fluid sein, d. h. zwischen dem weiblichen und dem männlichen Pol fluktuieren.

Was die Ätiologie der Entwicklung der Geschlechtlichkeit wie auch der Geschlechtspartner*innen-Orientierungen angeht, müssen wir zugeben, dass wir letztlich nicht wissen, wie es zu diesen Entwicklungen kommt. Wir müssen, wie oben dargestellt, davon ausgehen, dass genetische, hormonelle und hirnorganische Determinanten sowie unbekannte psychologische und soziale Einwirkungen bereits von vorgeburtlicher Zeit an eine Rolle spielen. Insofern lautet die Antwort auf die im Titel dieses Kapitels gestellte Frage nach der Entstehung der sexuellen Orientierungen und der Trans- und Cisgeschlechtlichkeiten im Rahmen der Geschlechtsentwicklung: Wir besitzen diesbezüglich keine verlässlichen Informationen.

Dies mag ein enttäuschendes Fazit sein. Zugleich scheint es mir aber auch wichtig, diese Tatsache und die sich daraus ergebenden Konsequenzen ernst zu nehmen, wenn es um die Geschlechtsentwicklung mit ihren verschiedenen Varianten und die sexuellen Orientierungen geht. So kann uns diese Einsicht beispielsweise davor schützen, in unzulässiger Weise eine Entwicklung, für die wir keine plausible Erklärung haben und für die keine evidenzbasierten Studien vorliegen, als etwas Pathologisches zu bezeichnen. In diesem Fall müssten wir nämlich auch die Cisgeschlechtlichkeiten und die heterosexuellen Orientierungen, deren Ätiologie wir nicht kennen, als pathologische Entwicklungen betrachten.

Obschon uns die psychodynamischen Konzepte keine Klärung bei Ätiologiefragen bringen, können sie indes hilfreich bei der Beschreibung des Entwicklungsweges sein, den homo-, bi- und trans Kinder und Jugendliche zurückzulegen haben, um sich ihrer Identität und ihrer sexuellen Ausrichtung bewusst zu werden und sie schließlich anderen Menschen mitzuteilen. Ich habe dies am Beispiel eines Phasenmodells für Menschen mit Transgeschlechtlichkeit dargestellt.

Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter

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