Читать книгу Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter - Udo Rauchfleisch - Страница 9
1.3 Ein Modell der Geschlechtsentwicklung und der Entwicklung der sexuellen Orientierungen
ОглавлениеMit Ermann (Ermann, 2019) können wir die Geschlechtsentwicklung und die Ausbildung der sexuellen Orientierungen als einen stufenweisen Entwicklungsprozess verstehen. An seinem Ursprung steht die Protogeschlechtsidentität (Reiche, 1997) als eine schon von Geburt an bestehende »unbestimmte Ahnung der Geschlechtlichkeit« (Ermann, 2019, S. 15), eine Grundbereitschaft des Menschen, sich sexuell zu fühlen.
Im Grunde ist bei diesem Begriff der zweite Teil des Wortes, »Identität«, meines Erachtens überflüssig und in Anbetracht der oben diskutierten terminologischen Probleme irreführend. Es geht hierbei ja nicht um einen Identitätsanteil im psychologischen Sinne, sondern, wie Ermann (2019, S. 15) es beschreibt, um eine Grundbereitschaft des Menschen, sich sexuell zu fühlen und, so müssen wir wohl ergänzen: sexuell zu sein. Aus diesem Grunde erscheint es mir besser und zutreffender, von »Protogeschlechtlichkeit « zu sprechen.
Eine solche Sicht steht auch in weitgehender Übereinstimmung mit den oben zitierten neurowissenschaftlichen Ansätzen (vgl. Haupt, 2019). Ich werde im Folgenden deshalb diesen Begriff verwenden. Worauf die Protogeschlechtlichkeit beruht, ist nach Ermann (2019, S. 15) bis heute nicht sicher bekannt. Es kommen genetische, hormonelle und hirnorganische Determinanten in Betracht sowie unbekannte psychologische und soziale Einwirkungen, die bereits in die vorgeburtliche Zeit zurückreichen.
Auf der Grundlage der Protogeschlechtlichkeit baut sich im Verlauf der Entwicklung das auf, was wir mit Mertens (1992) als »Bausteine« der sexuellen Identität bezeichnen können. Es sei an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mit »Identität« hier eine Kerndimension der Persönlichkeit gemeint ist, die dem Individuum das Erleben von Kohärenz und Konsistenz vermittelt.
Eine zentrale Dimension dabei ist die sexuelle Kernidentität (core gender identity),
»das primordiale, bewusste und unbewusste Erleben (…), entweder ein Junge oder ein Mädchen bezüglich seines biologischen Geschlechts (im Englischen »sex« im Unterschied zu »gender«) zu sein. Sie entwickelt sich aufgrund des komplexen Zusammenwirkens von biologischen und psychischen Einflüssen ab der Geburt des Kindes, wenn die Eltern mit ihrer Geschlechtszuweisung zumeist geschlechtsrollenstereotyp auf ihre Kinder als Junge oder Mädchen reagieren, und ist gegen Ende des zweiten Lebensjahres als (relativ) konfliktfreie Gewissheit etabliert« (Mertens, 1992, S. 24).
Dieses Konzept von der sexuellen Kernidentität bedarf indes aus meiner Sicht einer Ergänzung: Die Formulierung, das Kind sei sich früh der Tatsache gewiss, ein Junge oder ein Mädchen zu sein, ist von der in unserer Gesellschaft herrschenden Vorstellung von der Binarität der Geschlechter geprägt. Tatsächlich jedoch müssen wir auch innerhalb der sexuellen Kernidentität sicher von einem größeren Spektrum von Varianten der Geschlechtsentwicklung ausgehen, z. B. genderqueer, agender, gender-fluid etc.
Im Hinblick auf die Entwicklung von Menschen mit einer Transgeschlechtlichkeit habe ich in meiner inzwischen 50-jährigen Beschäftigung mit diesem Thema und der Begutachtung, Therapie und Begleitung von trans Menschen diverse somatische und psychologische Theorien und Konzepte zur Ätiologie kommen und gehen sehen. Dabei hat sich keines von ihnen letztlich als gültiges Erklärungsmodell erwiesen (Literatur s. Rauchfleisch, 2016). Diese Hypothesen haben eher zur Stigmatisierung und Pathologisierung von trans Menschen geführt.
Einen weiteren »Baustein« der sexuellen Identität stellen die Geschlechtsrollen dar (Geschlechtsrollen-Identität, gender role identity). Sie zeichnen sich durch ein höheres symbolisch-sprachliches Niveau aus und bilden das »Insgesamt der Erwartungen an das eigene Verhalten wie auch an das Verhalten des Interaktionspartners bezüglich des jeweiligen Geschlechts« (Mertens, 1992, S. 47). Es sind mehrheitlich Inhalte aus der frühen Sozialisation, die bewusstseinsfähig sind und vor allem von kulturspezifischen Vorschriften und Normen darüber bestimmt werden, was im Zusammenhang mit dem biologischen Geschlecht als »männlich« oder »weiblich« erwünscht oder unerwünscht ist.
Trotz mancher Veränderungen in den Geschlechtsrollen werden diese in unserer Gesellschaft nach wie vor zumeist dichotom gedacht. Bei einer differenzierten Betrachtung der Geschlechtsentwicklung müssen wir jedoch auch bezüglich der Geschlechtsrollen-Identität von einer Vielfalt an Varianten ausgehen.
Die dritte Komponente der sexuellen Identität ist die sexuelle Orientierung, die Geschlechtspartner*innen- Orientierung (sexual partner orientation), die sich auf das bevorzugte Geschlecht der Geschlechts- und Liebespartner*innen bezieht. Auch die Geschlechtspartner*innen-Orientierungen müssen wir, wie die sexuelle Kernidentität, über die allgemein übliche Dreiteilung (Hetero-, Bi- und Homosexualitäten) hinaus erweitern, indem wir diese drei Formen je als Kristallisationspunkte einer Vielzahl von Orientierungen betrachten und daneben auch pansexuelle, asexuelle, objektsexuelle, metrosexuelle und andere Varianten in unsere Betrachtung einbeziehen.
Die Geschlechtspartner*innen-Orientierung ist das Resultat einer Vielzahl von Einflüssen: Sie basiert auf der sexuellen Kernidentität, wird durch die verinnerlichten Geschlechtsrollen (zu denen unter anderem auch die verschiedenen Vorstellungen bezüglich Homo-, Bi- und Heterosexualitäten gehören) determiniert und wird geprägt durch die Erfahrungen, die das Kind mit den Eltern macht, sowie durch das Modell, das die Eltern ihm von ihrem Umgang miteinander als Frau und Mann bieten. Von großer Bedeutung sind schließlich auch die erotischen und sexuellen Fantasien, die in der späteren Kindheit und in der Adoleszenz dazu führen, dass die Jugendlichen deutlich ihre sexuelle Orientierung spüren und sich im Rahmen ihrer Identitätsentwicklung als hetero-, bi- oder homosexuell definieren.
Noch nicht beantwortet ist bei dieser Schilderung indes die Frage nach der spezifischen »Weichenstellung« (Morgenthaler, 1987), d. h. warum die Orientierung sich einmal in Richtung Heterosexualitäten, ein anderes Mal in Richtung Bisexualitäten und ein wiederum anderes Mal in Richtung Homosexualitäten entwickelt. Ausgehend von den psychoanalytischen Überlegungen Morgenthalers (1987) und Gissraus (1989, 1993) habe ich 1994 versucht, eine Theorie der Entwicklung homosexueller und bisexueller Menschen zu entwerfen. Obschon mich diese Überlegungen nie wirklich überzeugt haben – dafür spricht auch, dass ich dieses Kapitel in meinem erwähnten Buch über alle vier Auflagen hin nicht verändert habe –, sollen sie hier kurz resümiert werden, um zu zeigen, dass sie uns zwar einige interessante Hypothesen bieten, uns letztlich aber keine verbindliche Antwort auf die Frage nach den Ursachen der »Weichenstellungen« zu den verschiedenen sexuellen Orientierungen zu geben vermögen.
Im Anschluss an Morgenthaler (1987) habe ich innerhalb der Entwicklung vom Kleinkind zum Erwachsenen drei wichtige Stationen unterschieden, die für die schwule und die heterosexuelle Orientierung von zentraler Bedeutung sind. Die erste Station liegt in der narzisstischen Entwicklung der frühen Kindheit und beinhaltet die Entstehung des Selbstbildes. Die zweite wichtige Weichenstellung erfolgt in der ödipalen Phase mit den in dieser Zeit typischen Auseinandersetzungen mit den wichtigsten Personen der Kindheit. Die dritte Station liegt in der Pubertät und reicht über die Adoleszenz bis ins Erwachsenenalter.
Die Aufgabe der frühen Kindheit ist die Ausbildung der oben beschriebenen Identität, in der sich die verschiedenen Facetten der Persönlichkeit zu einer Ganzheit zusammenfügen. Damit hängt eng eine zweite Aufgabe zusammen, nämlich die der Abgrenzung der eigenen Person von anderen Menschen, mit dem Ziel, Autonomie zu erlangen. Dabei geht es um die Fähigkeit, selbstständig entscheiden und handeln zu können.
Morgenthaler (1987) ist der Ansicht, dass je nach den lebensgeschichtlichen Erfahrungen, die das Kind in der Frühzeit seiner Entwicklung macht, entweder das Streben nach Autonomie oder das Bedürfnis, die Identität zu stärken, größer ist. Beide Entwicklungswege bewegen sich gleichermaßen im Bereich der psychischen Gesundheit. Es sind »normale«, die weitere Entwicklung stabilisierende Maßnahmen, mit deren Hilfe das Kind pathologische Entwicklungen zu vermeiden vermag.
Das Spezifische in der Entwicklung des schwulen Mannes sieht Morgenthaler in der Betonung des Bedürfnisses nach Autonomie. Wann immer im Erleben dieser Kinder und der späteren Erwachsenen Gefühle von Insuffizienz, Enttäuschungen und emotionalen Belastungen auftreten, »retten« und regulieren sie ihr innerseelisches Gleichgewicht durch ein verstärktes Streben nach Autonomie. Dies ist nach Morgenthaler in der frühen Kindheit eng gebunden an autoerotische Aktivitäten. Mit Hilfe der Autoerotik vermögen diese Kinder Störungen ihres seelischen Gleichgewichts und den in solchen Situationen drohenden Autonomieverlust zu verhindern. Die enge Beziehung zwischen Autoerotik und Autonomiestreben bleibt, so Morgenthaler, lebenslang erhalten und führt dazu, dass sich auch die sexuellen Interessen (Geschlechtspartner*innen-Orientierung) später verstärkt auf die eigene Person und auf Partner des gleichen Geschlechts richten.
Im Unterschied zu dieser Entwicklungslinie sind die heterosexuellen Männer Persönlichkeiten, die in ihrem Selbstbild dem Identitätsbewusstsein und dem Identitätsgefühl Priorität einräumen.
»Sie orientieren sich nach polaren Gegensatzpaaren, um genau zu spüren und zu wissen, wer sie sind. Auch Homosexuelle haben das Bedürfnis zu spüren und zu wissen, wer sie sind, doch erst in zweiter Linie. Ihr Identitätsbewusstsein kann unscharf begrenzt sein, ohne dass sie dadurch verunsichert werden. Auch Heterosexuelle besetzen ihre innere und äußere Autonomie, doch selten so weit, dass ihre Identität dadurch in Frage gestellt wird. Sie können sich gelassener in Abhängigkeit begeben, weil sie, in dieser Hinsicht, weniger konfliktanfällig sind als Homosexuelle« (Morgenthaler, 1987, S. 88–89).
Als charakteristische Entwicklungslinie der lesbischen Frau postuliert Gissrau, dass für diese Frauen eine sie prägende Erfahrung in der frühen Kindheit das Erleben des »erotischen Blicks ihrer Mutter« ist, »den sie als lustvolles affektives Interaktionsmuster internalisieren« (Gissrau, 1993, S. 317). Die Mütter von später lesbisch empfindenden Frauen können sich, gemäß Gissrau, in der präverbalen Entwicklungsphase ihrer Kinder den erotischen Genuss am Stillen, Wickeln, Baden, Einreiben gestatten, wodurch es frühzeitig zu einer erotischen Stimulierung der Töchter komme. Es sei aber auch denkbar, dass die Mütter durch ihre sie erotisch ansprechenden Babys entsprechend stimuliert worden seien. Auf jeden Fall ist nach Gissrau die erste Weichenstellung in Richtung der lesbischen Entwicklung »das Ausmaß an erotischer Anerkennung, das die Mutter in ihren Interaktionen während der ersten Lebensjahre zulassen kann« (Gissrau, 1993, S. 317).
Bei Verwendung der Konzepte von Morgenthaler und Gissrau für die Erklärung der Entwicklung bisexueller Menschen müssen wir vermuten, dass diesen Kindern die Bedürfnisse nach Identität und Autonomie in gleicher Weise wichtig sind. Durch die in unserer Gesellschaft dominierenden Heterosexualitäten tritt im Erleben bisexueller Jugendlicher und junger Erwachsener im Allgemeinen zuerst die heterosexuelle Komponente ins Bewusstsein und erst später das gleichgeschlechtliche Begehren.
Obschon von anderen theoretischen Grundannahmen ausgehend, finden sich doch ähnliche, die bisherigen Ausführungen ergänzende Überlegungen bei einigen Autor*innen der Analytischen Psychologie von C. G. Jung. So hat Hopcke (1991) den Versuch unternommen, im Rahmen der Analytischen Psychologie ein Modell zum Verständnis lesbischer, schwuler, bisexueller und heterosexueller Entwicklungen zu formulieren. Hopcke sieht die sexuelle Entwicklung als Resultat eines je individuellen Zusammenwirkens der drei Archetypen der Anima, des Animus und des Androgynen.
Für Hopcke liegt das Spezifische der lesbischen und schwulen Entwicklung darin, dass es bei diesen Orientierungen um eine komplexe Interaktion der drei genannten archetypischen Konfigurationen geht, wobei dem Androgynen eine synthetisierende Funktion zukommt. Die lesbische und schwule Entwicklung stellen ein harmonisches (gesundes) Zusammenspiel dar, in dem Animus und Anima zusammen mit dem hermaphroditischen Selbst, der androgynen Ganzheit, in je individueller Weise durch die körperliche und emotionale Verbindung mit einer anderen Frau bzw. mit einem anderen Mann aktualisiert und gelebt werden.
Bei einer kritischen Auseinandersetzung mit den psychodynamischen Entwicklungstheorien, wie Gissrau, Morgenthaler und Hopcke sie formuliert haben, stellen sich zumindest zwei Fragen:
Zum einen bleibt in den skizzierten Konzepten die Frage unbeantwortet, warum im Sinne Morgenthalers die einen Kinder der Identität Priorität einräumen, während die anderen Kinder der Autonomie eine besondere Bedeutung beimessen. Es bleibt auch offen, wie die »Weichenstellungen« zustande kommen. Die gleiche Frage stellt sich beim Konzept von Hopcke, nämlich wie es zu dem spezifischen Zusammenspiel der drei archetypischen Konfigurationen kommt.
Vermutlich müssen wir hinsichtlich der Ätiologie der sexuellen Orientierungen der biologischen Dimension in Gestalt eines genetischen Faktors einen Einfluss beimessen. Wie groß dieser Einfluss ist und wie er genetisch zustande kommt, ist aber nach wie vor unbekannt. Eine neuere große genetische Studie zeigt (Price, 2018), dass das sexuelle Verhalten des Menschen ein höchst komplexes Phänomen ist und die in dieser Studie identifizierten Genvarianten nur einen Bruchteil, nämlich weniger als ein Prozent, des sexuellen Verhaltens erklären.
Zum anderen kann man sich fragen, ob die Betonung der Identität oder der Autonomie nicht Ursache, sondern Folge der vom Kind gespürten gleichgeschlechtlichen Orientierung ist. Gissrau deutet diese Möglichkeit an, wenn sie darauf hinweist, dass bei dem engen Ineinandergreifen des mütterlichen und des kindlichen Verhaltens denkbar ist, dass die erotische Stimulation möglicherweise nicht von den Müttern ausgegangen ist, sondern die Mütter durch ihre sie erotisch ansprechenden Babys entsprechend stimuliert worden seien und auf die Kinder reagiert hätten.
Wir finden eine ähnliche Interaktion auch zwischen trans Kindern und ihren Eltern. In Fällen, in denen beispielsweise die Mütter das nicht-geschlechtsrollenkonforme Verhalten ihrer Kinder geduldet und unter Umständen sogar gefördert haben, ist ihnen immer wieder vorgeworfen worden, sie hätten ihre Kinder manipuliert. Die Realität ist nach meiner Erfahrung häufig umgekehrt: Diese Mütter haben früh gespürt, dass ihr Kind sich nicht dem ihm bei Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlte, und haben darauf – in einfühlsamer und entwicklungsfördernder Weise – mit einer Unterstützung hinsichtlich des vom Kind gewünschten Rollenverhaltens reagiert.
Obschon sich, wie dargestellt, mit Hilfe der psychoanalytischen Theorie die Frage nach der Ätiologie der Geschlechtsentwicklung und der sexuellen Orientierungen nicht in befriedigender Weise beantworten lässt, lassen sich mit den psychodynamischen Konzepten doch einige Aspekte herausarbeiten, die für den Umgang mit homo-, bi- und trans Kindern und für therapeutische Interventionen von Bedeutung sind.
Das erste Phänomen ist die von Isay (1990) erwähnte Enttäuschung des Kindes am gleichgeschlechtlichen Elternteil, an die wir in der Entwicklung von Menschen mit gleichgeschlechtlichen Orientierungen denken müssen. Der Autor hat in Psychotherapien beobachtet, dass die schwulen Patienten oft davon berichtet haben, dadurch enttäuscht, gekränkt und mitunter auch tief verletzt worden zu sein, dass sie vom gleichgeschlechtlichen Elternteil Ablehnung erfahren hätten. Dies ist dadurch erklärbar, dass der heterosexuelle Elternteil die erotischen Wünsche des Kindes im Allgemeinen nicht in der vom Kind erwarteten Form beantworten kann ( Kap. 5.3).
Dies scheint vor allem die Dynamik zwischen Vätern und schwulen Söhnen zu prägen. Die Ablehnung, die der Sohn von einem solchen Vater erfährt, erfolgt häufig indes nicht nur in Form eines Stumm-Bleibens im Hinblick auf die erotischen Wünsche des Sohnes. Oft kommt dazu noch die aktive Ablehnung des Vaters, weil der Sohn nicht die vom Vater gewünschten traditionellen männlichen Rollenbilder erfüllt. Wie Gissrau (1993) beschrieben hat, gelingt es Müttern häufig offenbar besser, auf die erotischen Wünsche ihrer Töchter angemessen zu reagieren. Nach meiner Erfahrung ist es aber auch in der Psychotherapie von lesbischen Frauen sinnvoll, darauf zu achten, ob es solche Enttäuschungen gibt, die in der Therapie zu bearbeiten sind.
Kinder mit einer Transgeschlechtlichkeit befinden sich im Hinblick auf ihre Enttäuschungen an den Eltern im Allgemeinen in einer nochmals schwierigeren Lage. Sie haben, vor allem in der zurückliegenden Zeit, selten Eltern, die auf ihre spezielle Situation eingehen können. Wenn überhaupt sind es mitunter die Mütter, die spüren, was in ihren Kindern vor sich geht, und darauf dem Kind entsprechend reagieren. Dies bringt ihnen aber, wie oben bereits erwähnt, oft den Vorwurf ein, sie würden das trans Kind aus persönlichen Motiven manipulieren, indem sie es in eine nicht-geschlechtsrollenkonforme Rolle drängten.
Ein anderes Problem betrifft die in Bezug auf lesbische und schwule Kinder in der Öffentlichkeit, zum Teil aber auch im Fachbereich bestehende Vorstellung, der schwule Sohn identifiziere sich mit der Mutter und die lesbische Tochter mit dem Vater. Der Annahme einer solchen auch als »negativer Ödipuskomplex« beschriebenen Konstellation liegt zugrunde, dass hier die sexuelle Kernidentität (das frühe Wissen darum, weiblich oder männlich zu sein) mit den Geschlechtsrollen verwechselt wird.
Es mag sein, dass der schwule Mann manche Interessen hat, die sich sonst oft bei Frauen finden, und es mag sein, dass die lesbische Frau sich in der Kleidung und im Verhalten oft ähnlich wie ein Mann verhält. Dies ist jedoch Ausdruck der – bewusst gewählten – Rollen und hat nichts mit der sexuellen Kernidentität zu tun. Keine lesbische oder bisexuelle Frau zweifelt an ihrer Weiblichkeit, und kein schwuler oder bisexueller Mann zweifelt an seiner Männlichkeit.
Hilfreich können die psychodynamischen Konzepte auch sein, wenn es darum geht, sich ein Bild von der Entwicklung von Menschen mit einer Transgeschlechtlichkeit zu machen. Hier geht es nicht um die Suche nach ätiologischen Faktoren, sondern um eine Beschreibung des Weges, den trans Kinder, Jugendliche und Erwachsene durchlaufen, bis sie sich ihrer Situation bewusst geworden sind, sie akzeptiert haben und eine für sie akzeptable Lösung gefunden haben.
Ausgehend von einem von Güldenring (2009) entworfenen Phasenmodell der trans Entwicklung habe ich (Rauchfleisch, 2017) die Spezifika des Weges aufgezeigt, den Menschen mit einer Transgeschlechtlichkeit von früher Kindheit über die Jugendzeit bis ins Erwachsenenalter durchlaufen. Da die Beachtung dieser Spezifika für Beratung, Begleitung und Therapie von trans Menschen wichtig ist, seien diese Phasen hier kurz skizziert.
• Die erste Phase betrifft die innere Wahrnehmung des trans Erlebens. In der frühen Kindheit ist dieses Erleben für die Kinder weitgehend konfliktlos und erscheint ihnen gleichsam selbstverständlich. Je älter sie jedoch werden und je stärker damit der Einfluss der sie umgebenden Cisnormativität wird, desto mehr wird dieses Erleben für sie zu einem Problem. Dies kann zu Konflikten mit und zum Rückzug von der Umgebung führen und kann von Gefühlen von Angst, Scham und Selbstwertzweifeln begleitet sein.
• Die Folge ist in der zweiten Phase die Ablehnung des eigenen Körpers und dadurch bedingt ein Anstieg des Leidensdrucks der trans Person. Diese Zeit ist von Einsamkeit und von immer wieder neuen Versuchen geprägt, Kompromisse zwischen der eigenen Identität und den cisnormativen Ansprüchen der Umgebung einzugehen.
• In der dritten Phase kommt es zur Offenbarung der Transgeschlechtlichkeit nach außen. Je nach den Reaktionen der Umgebung kann es dabei zu diversen sozialen Konflikten und Kränkungen kommen. Diese Phase erfordert von den trans Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen große Ich-Stärke, gute soziale Kompetenzen und konstruktive Konfliktlösungsstrategien.
• In der vierten Phase stehen die juristischen, medizinischen und psychologischen Prozesse im Mittelpunkt. Hier geht es um psychologische und somatische Abklärungen und Beantragungen von verschiedenen Bewilligungen für allfällige körperliche Angleichungen und für juristische Schritte. In dieser Phase spüren trans Menschen in besonders quälender Weise, in welchem extremen Maß sie fremdbestimmt sind, da sie für jeden Schritt im Verlauf ihrer Transition Gutachten benötigen.
• Die fünfte Phase stellt die körperliche Angleichung mittels hormoneller Behandlung (bei jüngeren Kindern in Form einer Pubertätsblockade, später Behandlung mit gegengeschlechtlichen Hormonen) und operativer Maßnahmen dar.
• Die sechste Phase kann man als Phase der Integration und Stabilisierung bezeichnen. Sie beinhaltet das Angekommensein in einem Zustand der größtmöglichen Harmonie von innen und außen.
Wie dieses hier dargestellte Phasenmodell zeigt, ist der vor Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer Transgeschlechtlichkeit liegende Weg schwierig und weist etliche Gefahrenmomente auf. Diese Besonderheiten in der Entwicklung und die dabei möglichen Gefahren müssen in Therapien und Begleitungen von trans Menschen beachtet werden. Dabei gilt es auch, darauf zu achten, wo und in welchem Ausmaß die betreffende Person Traumatisierungen erlitten hat und welche Folgen diese Verletzungen haben.