Читать книгу Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter - Udo Rauchfleisch - Страница 11
1.5 Welchen Nutzen haben die Fragen nach dem »Warum« und die verwendeten Kategorisierungen?
ОглавлениеAuf die Gefahr hin, die Leser*innen völlig zu verwirren, möchte ich am Ende dieses Kapitels noch die Frage diskutieren, ob die Suche nach der Ätiologie der in diesem Kapitel beschriebenen Phänomene überhaupt einen Sinn hat. Wir sind in unserem Alltagsleben ebenso wie in unserem Wissenschaftsverständnis zwar daran gewöhnt, die Frage nach dem »Warum« zu stellen, sobald wir mit einem uns »fremd« anmutenden Phänomen konfrontiert sind. Nur bei den uns »selbstverständlich« erscheinenden Phänomenen tritt diese Suche nach dem »Warum« im Allgemeinen nicht auf.
Wie oben dargestellt, haben wir letztlich keine eindeutigen Befunde bezüglich der Ätiologie der Entwicklung der Geschlechtlichkeiten und der sexuellen Orientierungen. Nicht zuletzt deshalb drängt sich die Frage auf, ob es überhaupt Sinn macht, weiter nach dem »Warum?« und »Woher?« zu fragen. Binswanger (2016, S. 18) hat in seinem Artikel »(K)ein Grund zur Homosexualität. Ein Plädoyer zum Verzicht auf psychogenetische Erklärungsversuche von homosexuellen, heterosexuellen und anderen Orientierungen« vom »unstillbaren Bedürfnis« von uns Psychoanalytiker*innen gesprochen, mögliche Psychogenesen der verschiedenen Sexualorganisationen zu suchen. Anstelle dieser – nach seiner Ansicht vergeblichen – Suche schlägt er die »Totalabstinenz« vor.
Zu einem ähnlichen Schluss kommt Hutfless (2016) in ihrer in der gleichen Zeitschrift veröffentlichten Arbeit »Wider die Binarität – Psychoanalyse und Queer Theory«. Hutfless äußert Kritik an der binären Entgegensetzung von Homo- und Heterosexualität und meint, die Queer Theory könne Ansätze für eine nicht-pathologisierende Auseinandersetzung auch mit der Transgeschlechtlichkeit liefern, indem sie die sexuellen Orientierungen und die geschlechtlichen Identitäten als »dynamisch, instabil und prozesshaft« (Hutfless, 2016, S. 101) sieht: »Das Konzept ›queer’ stellt den Versuch dar, Sexualitäten und Geschlechter jenseits von fixen Identitätskategorien zu denken. Dieser Ansatz resultiert aus der Erkenntnis, dass das Identitätsdenken selbst wesentlicher Bestandteil jenes Prozesses ist, der Ausschlüsse, Abwertungen und Pathologisierungen produziert« (Hutfless, 2016, S. 101–102).
Eine solche Sicht stellt nicht nur ein Abrücken vom fruchtlosen, zu Pathologisierungen führenden Suchen nach den Ursachen der Geschlechtsentwicklung und der sexuellen Orientierungen dar, sondern würde auch eine enorme Befreiung aus der Enge der Heteronormativität und der binären Cisnormativität bedeuten. Es könnte uns dadurch ein direkterer, nicht von Pathologiekonzepten belasteter Zugang zu Menschen mit Transgeschlechtlichkeit gelingen und neue Dimensionen auch für unsere eigene Entwicklung öffnen (Rauchfleisch, 2016, 2019c).
Zweifellos hilft uns die Bildung von Kategorien, unsere Wahrnehmung zu strukturieren und gewisse Ordnungsprinzipien aufzustellen, die uns Orientierung bieten. Gleichwohl verbauen uns derartige Strukturen aber auch den unvoreingenommenen Zugang zu Menschen und Phänomenen, die uns fremd sind. Ich werde im Folgenden zwar die Kategorien der Geschlechtsentwicklung und der Orientierungen verwenden, wie wir sie in der gebräuchlichen Bezeichnung LGBTIQ* finden. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass wir die durch diese Kategorisierungen entstehende Enge immer wieder auch hinterfragen und aufbrechen müssen, um der Komplexität des menschlichen Lebens gerecht zu werden.