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Vorwort

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Ein Buch über die bi- und homosexuellen Orientierungen und die Transgeschlechtlichkeit bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mag für manche Leserinnen und Leser kein besonders dringliches Thema sein. Dreht sich in der Gegenwart in den Medien nicht schon enorm viel um die Sexualität mit ihren verschiedenen Spielarten? Bedeutet die Publikation eines Buches wie des vorliegenden in diesem Fall nicht lediglich, einem modischen Trend zu folgen?

Dies scheinen auf den ersten Blick berechtigte kritische Einwände zu sein. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass in den Medien zwar viel die Rede von sexuellen Orientierungen und von Geschlechtlichkeit ist. Diese Themen sind aber oft in reißerischer, eher oberflächlicher Form aufbereitet und betreffen nicht die tieferen emotionalen Schichten der Menschen, über die berichtet wird.

Hinzu kommt, dass das Thema Sexualität in der psychotherapeutischen Fachliteratur zwar im Rahmen von Darstellungen der menschlichen Entwicklung diskutiert wird. Es geht dabei aber fast ausschließlich um die heterosexuelle Orientierung und die für die Majorität der Gesellschaft geltende Cisidentität1, d. h. die Identität entspricht der nach der Geburt erfolgten Geschlechtszuweisung. Alle anderen sexuellen Orientierungen und Varianten der Geschlechtsentwicklung hingegen werden höchstens als »Abweichungen von der Norm« und damit häufig als »pathologisch« wahrgenommen und diskutiert.

Mit einer solchen verengten Sicht werden wir den verschiedenen Varianten der menschlichen Sexualität und Identität jedoch in keiner Weise gerecht. Es gilt vielmehr, die Fülle von Orientierungen und Identitäten wahrzunehmen und deren Bedeutung gerade im Hinblick auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu würdigen. Dazu gehört neben der heterosexuellen Orientierung und der Cisidentität auch die vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit den davon abweichenden Orientierungen und Identitäten.

Aus diesem Grund haben mich die Herausgeber*innen der Reihe »Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen« gebeten, das vorliegende Buch zu schreiben. Wir haben miteinander überlegt, ob auch das Thema »Regenbogenfamilien« in diesem Buch Platz fände. Gemeinsam haben wir aber beschlossen, dass dieses wichtige Thema nicht nur am Rande behandelt werden sollte, sondern ein eigenes Buchprojekt benötigt. Es passt auch letztlich nicht in den Kontext des vorliegenden Buches, da die in Regenbogenfamilien aufwachsenden Kinder ja mehrheitlich heterosexuell sind.

Das erste Kapitel ist der Frage gewidmet, wie die sexuellen Orientierungen und die Transgeschlechtlichkeit entstehen ( Kap. 1). Es wird sich – vielleicht zum Erstaunen etlicher Leser*innen – zeigen, dass wir auf diese Frage kaum Antworten haben. Umso wichtiger ist es aber, dass wir uns mit diesen Entwicklungsprozessen auseinandersetzen, wenn es um Kinder und Jugendliche geht.

Es ist bekannt, dass Heranwachsende, die vom Mainstream abweichen, sich selbst oft als »anders« als ihre Peers erleben. In welchen Lebensbereichen und in welchen Formen sich dieses »Anderssein« präsentiert, werde ich in Kapitel 2. diskutieren. Die theoretischen Ausführungen werden hier wie auch in den anderen Kapiteln durch kasuistische Beispiele veranschaulicht. Dabei habe ich aus Diskretionsgründen jeweils Elemente aus den Biografien und Lebensumständen verschiedener Kinder und Jugendlicher und ihrer Familien zu kasuistischen Beispielen zusammengefügt, so dass eine Identifikation bestimmter realer Personen nicht möglich ist ( Kap. 2).

Das »Anderssein« in Form der Abweichung hinsichtlich der sexuellen Orientierungen und der Identitäten vom Mainstream hat allerdings für die betreffenden Heranwachsenden und ihre Familien negative, mitunter sogar verhängnisvolle Folgen. Diesen Folgen ist das Kapitel 3. gewidmet ( Kap. 3).

Die heutige Welt ist, insbesondere für Kinder und Jugendliche, kaum noch vorstellbar ohne das Internet und die Social Media. Gerade für die Heranwachsenden, um die es in diesem Buch geht, spielt das Internet mit seinen Blogs und Foren eine wichtige Rolle. In Kapitel 4. werde ich aufzeigen, dass diese virtuelle Welt für sie Segen und Fluch zugleich ist ( Kap. 4).

Im Alltag treffen wir in Kindertagesstätten und Schulen, in den Familien und in den verschiedenen anderen Kontexten zwar zumeist mit psychisch gesunden Kindern und Jugendlichen mit homosexuellen Orientierungen und Transgeschlechtlichkeit zusammen. Die in therapeutischen Berufen Arbeitenden haben es jedoch häufig mit einem anderen Segment, nämlich mit Heranwachsenden mit psychischen Störungen der verschiedensten Art und Ätiologie zu tun. Die bei diesen Kindern und Jugendlichen einzusetzenden therapeutischen Interventionen werde ich in Kapitel 5. darstellen. Dabei werde ich die Voraussetzungen diskutieren, die für konstruktive therapeutische Interventionen bei ihnen notwendig sind, werde auf die Behandlung von Heranwachsenden mit psychischen Störungen im engeren Sinne eingehen und werde darstellen, wie wichtig es gerade bei diesen Heranwachsenden ist, ein breiteres Umfeld mit in die Behandlung und Begleitung einzubeziehen ( Kap. 5). Zu den therapeutischen Interventionen gehören schließlich auch die Suche und Aktivierung von Ressourcen und Resilienzfaktoren.

Die kindliche Entwicklung mündet in die Adoleszenz und das Erwachsenenleben. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob und wie es Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit von der Majorität abweichenden sexuellen Orientierungen und Identitäten gelingen kann, ein befriedigendes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Es geht dabei um Selbstakzeptanz und das, was auch als Gay- und Transpride, als Stolz auf die eigene Orientierung und Geschlechtlichkeit, bezeichnet wird ( Kap. 6).

Das vorliegende Buch richtet sich nicht nur an Fachleute aus therapeutischen und pädagogischen Berufen. Es möchte daneben auch Eltern, junge Erwachsene und generell Menschen erreichen, die sich mit den Fragen nach den sexuellen Orientierungen und nach dem Wesen der Geschlechtsentwicklung auseinandersetzen wollen. Vielleicht regt es auch zu fruchtbaren Diskussionen zwischen den Generationen an.

Basel, im Sommer 2020Udo Rauchfleisch

1 Ich werde in diesem Buch die Schreibweise Leser*innen, Therapeut*innen etc. verwenden, wobei das Sternchen als Platzhalter fungiert und übergreifend alle Geschlechter, auch die nicht-binären, bezeichnet. Außerdem verwende ich, entsprechend den aktuellen Gepflogenheiten, cis und trans als Adjektive, es sei denn, sie wären Teil eines Substantivs. Die Pluralformen von Identitäten und Orientierungen sollen darauf hinweisen, dass wir es innerhalb jeder Kategorie jeweils mit einem weiten Spektrum zu tun haben.

Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter

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