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Aktivierungsmaßnahme

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In der betreffenden Eingliederungsvereinbarung, in der meine Teilnahme an einer ganztägigen sog. Aktivierungsmaßnahme festgeschrieben wurde, hieß es u. a.: „Die Maßnahme soll Ihre berufliche Eingliederung durch die Heranführung an den Arbeitsmarkt unterstützen. Die Maßnahme geht vom 02.04.2012 bis 27.05.2012 und verlängert sich um Tage der Arbeitsunfähigkeit. Ziel der Maßnahme zur Aktivierung und Vermittlung mit intensiver Betreuung und Anwesenheitspflicht ist es, durch Aktivierung, Qualifizierung und Unterstützung Sie in Arbeit zu vermitteln.“

Diese sog. Aktivierungsmaßnahme wurde bei einem bundesweit bekannten Träger durchgeführt, der u. a. in den obersten beiden Etagen eines neunstöckigen Hochhauses ansässig ist, welches sich in einem öden Gewerbegebiet des Berliner Bezirks Neukölln befindet. Ich wurde in eine bunte, 15-köpfige Gruppe von Menschen unterschiedlichsten Alters und Qualifikationsniveaus gesteckt. Da fanden sich sehr junge und ungelernte Erwerbslose mit gestandenen und älteren Facharbeiter/innen und Akademiker/innen zusammen. Auffällig war, dass sich in dieser Gruppe eine ganze Reihe gescheite Köpfe befanden, auch unter den jungen Ungelernten, die aber wohl nie eine echte Chance bekommen hatten. Bei allem Negativen, was noch folgen wird, muss erwähnt werden, dass wir es in unserer Gruppe mit freundlichen und hilfsbereiten Dozenten bzw. Personal zu tun hatten, worin sich aber bereits alles Positive erschöpfte. Einer unserer Parallelkurse hatte da mit seiner Dozentin nicht so viel Glück, wie auch ich und andere aus unserer Gruppe bei einigen Gelegenheiten feststellen mussten. Der Dozent, der unsere Gruppe leitete, verkaufte neben seiner freiberuflichen Tätigkeit für den Träger ebenso freiberuflich Küchen um über die Runden zu kommen, wozu er sich wenigstens jeden zweiten Freitag von einem anderen Dozenten vertreten lassen musste. Überdies war von den Dozenten, welche die unterschiedlichsten beruflichen Biographien vorwiesen, wohl kaum jemand fest angestellt. Im Hinblick auf ihre jetzige Tätigkeit erschienen die Dozenten mit ihren oft so völlig andersartigen Berufserfahrungen und Kenntnissen als wenig geeignet.

Bei unserer ersten Aufgabe war unsere Selbsteinschätzung gefragt, wozu wir eine Reihe von Fragebögen ausfüllen sollten, die offensichtlich unsere Persönlichkeitsprofile erfassen wollten, u. a. mit Fragen wie: „Sind Sie ein Mensch, auf den man sich verlassen kann? Was meinen Sie, wie pünktlich sind Sie?, Wie schätzen Sie ihre Sorgfalt ein?“ Oder es wurde nach der Ausprägung diverser Attribute gefragt, wie: „sympathisch, vertrauenswürdig, leistungsorientiert, furchtsam, verantwortungsbewusst, konservativ“ usw. Die Ausprägung dieser Attribute sollte man auf einer siebenstufigen Skala von +3 (sehr ausgeprägt) über Null (neutral) bis -3 (gar nicht ausgeprägt) angeben. Fast allen Maßnahmeteilnehmern, wie auch mir, ging diese Schnüffelei entschieden zu weit, weshalb diese Befragungsaktion vorzeitig ihr Ende fand. Auf der anderen Seite war aber auch die Sinnhaftigkeit dieser nicht anonymen, stümperhaften Befragung sehr in Frage zu stellen, da davon ausgegangen werden musste, dass sich die Befragten wohl eher so positiv darstellen, wie sie gesehen werden wollten und damit tendenziell positiver erscheinen würden als sie es in Wirklichkeit sind. Denn es erscheint kaum vorstellbar, dass ein Mensch mit nur halbwegs gesundem Menschenverstand unter diesen Bedingungen zugeben würde z. B. zur Unpünktlichkeit zu neigen.

Eine andere Art von Aktivität, die man wohl unter Verlegenheitsaktionismus zusammenfassen muss, betraf einige ganztägige Außenaktivitäten, bei denen uns auszufüllende Aufgabenblätter mit gegeben wurden. Einmal ging es darum aufzunehmen welche Arten von Geschäften sich wie häufig in einer bestimmten großen Neuköllner Geschäftsstraße befanden. Ein anderes Mal sollten wir in Gruppen ganze Neuköllner Gewerbegebiete nach freien Stellen durchkämmen, indem wir persönlich direkt bei den Betrieben vorsprechen sollten. Regelmäßig wurden die auf den Weg geschickten von den Pförtnern mit dem Hinweis auf fehlende offene Stellen abgewiesen, oder sie wurden allenfalls damit vertröstetet, besser eine sog. Initiativbewerbung schreiben zu sollen. Einige dieser Aufgaben durften auch mit Hilfe des Internets zuhause gelöst werden, da dies wegen technischer Probleme in der Bildungseinrichtung selbst häufig nicht möglich war (s. u.). Kennzeichen all dieser Aktivitäten war, das sie in keiner Weise auch nur im Ansatz auf die individuellen Belange, Fähigkeiten und die Situation der Maßnahmeteilnehmer eingingen, sowenig wie die ganze Maßnahme insgesamt. Einige der uns ausgehändigten Aufgabenbögen passten genau in das pauschalierte und unterstellte Klischee vom nur rumhängenden, rauchenden, trinkenden und überhaupt ungesund lebenden und infolge seiner individuellen Mankos nichts geregelt bekommenden Arbeitslosen bzw. Unterschichtmenschen, das man von interessierter Seite so gern in der Öffentlichkeit kolportiert, um daraus eine Legitimation zu ihrer Bevormundung und Abstrafung ableiten zu können. In den betreffenden Aufgabenblättern wurden wir u. a. nach unserer Auffassung von Gesundheit befragt und dazu aufgefordert uns in unserer Wohngegend nach Fitnesseinrichtungen und deren Preisen zu erkundigen. Siehe eine Auswahl der betreffenden Formulare auf den nächsten Seiten.

Abbildung B:


Abbildung C:


Hier wurde also tatsächlich so getan, als sei mangelnde Fitness eine relevante Ursache für Arbeitslosigkeit, womit auf ziemlich penetrante Weise die Privat- und Intimsphäre der Maßnahmeteilnehmer tangiert wurde. Abgesehen davon, dass diese Scheinlösungsansätze von den tatsächlichen Problemen des Arbeitsmarktes ablenken sollen, wurde nicht mit einem einzigen Wort darauf eingegangen, wie Erwerbslose mit ihrem geringen Einkommen ein Fitnessprogramm in einer entsprechenden Einrichtung finanzieren sollen. Und natürlich wurde auch nicht der Krankheiten verursachende Stress unter den heutigen Bedingungen der Erwerbslosigkeit thematisiert. Das war und ist Tabu, denn Stress mache man sich schließlich nur selbst, wie auch dies gern dem neoliberalen Mainstream entsprechend propagiert wird.

Mindestens ein Drittel der Zeit, die wir in dieser Maßnahme anwesend sein mussten, wurde mit ziemlich allgemeinem Palaver und Diskussionen über Gott und die Welt, mit dem Anschauen von mal gehaltvolleren und mal weniger gehaltvollen Videos, wie Actionfilmen, mit ausgiebigen sog. Frühstücksrunden, die sich häufig über mehr als einen halben Tag dahin zogen, oder mit Gesellschaftsspielen, wie z. B. dem Galgenspiel vertan, so wie es von unserem Dozenten angeregt wurde. Bei dem Galgenspiel, z. B., wurde unsere Gruppe in zwei Fraktionen aufgeteilt, die gegeneinander spielen sollten. Es ging darum, mit der Beantwortung von Fragen bzw. Rätseln ein Strichmännchen an einem Galgen hängend zu erzeugen – jede richtige Antwort ein Strich. Und so schlugen wir unsere Zeit noch mit einigen anderen ähnlichen Spielchen buchstäblich tot.

Die bereits im Vorangegangenen kurz erwähnte Dozentin aus dem Nachbarkurs ließ in ihrem standardisiert herablassenden Tonfall zur Einweisung in eine der o. g. Außenaktivitäten wissen, dass diese dazu gut wäre mal wieder unsere Gehirne in Gang zu bekommen, so als wären wir alle grundsätzlich phlegmatische Dummköpfe, die nichts sinnvolleres mit ihrer Zeit anzufangen wüssten. Die Teilnehmer eines, dieser Dozentin zugeteilten Kurses, soll sie pauschal als Sozialschmarotzer heruntergeputzt haben. Einer der Teilnehmer aus unserer Gruppe hatte einmal eine Unterredung mit dieser Dozentin, die ihm bei dem Versuch einen Sachverhalt darzulegen rüde ins Wort gefallen sein soll. Auf seine folgende Bitte ausreden zu dürfen soll die Dozentin wörtlich entgegnet haben: „Das hier ist mein Raum. Da haben Sie den Mund zu halten, wenn ich das sage…“, worauf der genannte Maßnahmeteilnehmer konsequent das Gespräch beendete und sich anschließend über die Frau beschwerte. Bei dieser Frau handelte es sich um eine von jenen grotesken Erscheinungen, die wohl nicht recht mit sich selbst im Reinen sind, und die leider viel zu häufig auf diesen Ebenen anzutreffen sind. So war auch ihr die Attitüde des kleinen, von Minderwertigkeitskomplexen geplagten, Gernegroß zueigen, der meint den Untergebenen dank seiner Position nun endlich auch einmal zeigen zu dürfen wo der Hammer hängt (vgl. Kap. 2.4.1). Diese kleine, zierliche Frau, augenscheinlich bereits über fünfzig, aber kein bisschen weise und mit einem überproportionalen Bierbauch, der von Storchenbeinen und Stöckelschuhen balanciert wurde, (ver)kleidete sich derb geschminkt in der Art einer Domina, stets mit Miniröckchen. Nicht, dass der Autor etwas gegen extravagante, individuelle Kleidung hätte, ganz im Gegenteil, aber in diesem Fall passte das in seiner beinahe unübertroffenen Geschmacklosigkeit so absolut gar nicht. So konnte die verbreitete Belustigung über diese wunderliche Erscheinung und in manchen Fällen ihre Bemitleidung oder aber auch ihre wiederum häufigere Verachtung, infolge ihres mangelndem Charmes und Taktgefühls, nicht sonderlich verwundern.

Ein anderes, großgeschriebenes Thema dieser Aktivierungsmaßnahme war das Bewerbungstraining bzw. die Massenproduktion von Bewerbungen. Dies war beileibe nicht das erste Bewerbungstraining, dass der Autor und die meisten der anderen Teilnehmer über sich ergehen lassen mussten. Mittlerweile wird wohl so ziemlich jede sog. berufliche Weiterbildung mit dieser Art von billigen Füllsegmenten, die sich Bewerbungstraining nennen, aufgeblasen. So sympathisch und nett unser Dozent war, so sehr muss ihn eines Tages doch der Teufel geritten haben bzw. muss er einen sog. Blackout gehabt haben, als er von uns verlangte sage und schreibe sechs Bewerbungen pro Tag schreiben zu sollen. Wie er auf diese Schnapsidee kam und wohin man diese Unzahl von Bewerbungen hätte schicken sollen wird wohl für ewig sein Geheimnis bleiben. Auch angesichts dessen, was uns eben dieser Dozent über Bewerbungstechniken vermittelte, wovon doch einiges als brauchbar erschien, erschien seine Forderung völlig unverständlich. Davon abgesehen wurde in jeder Eingliederungsvereinbarung mit dem Jobcenter von vorn herein fest geschrieben, wie viele Bewerbungen im Monat zu schreiben waren, so auch in meiner, in der fünf Bewerbungsbemühungen pro Monat festgeschrieben wurden, die ich zu leisten hatte.

Wer schon einmal Bewerbungen geschrieben hat, wird vielleicht wissen, dass es zu einer guten Bewerbung i. d. R. einen halben Tag und mehr brauchen kann, inklusive den Recherchen und was sonst noch dazu gehört. Und am nächsten Tag schaut man sich das ganze noch einmal an und entschließt sich möglicherweise zu Änderungen. Jedenfalls gab es in unserer Gruppe einen regelrechten Aufschrei der Entrüstung, über die Weisung unseres Dozenten, sechs Bewerbungen pro Tag schreiben zu sollen. Die Vorgesetzte des Dozenten wollte jedoch bemerkenswerter Weise nichts von einer Anweisung zu dieser Anzahl von Bewerbungen wissen und wunderte sich sogar in meinem Fall darüber, dass ich laut Eingliederungsvereinbarung mit dem Jobcenter mindestens fünf Bewerbungsbemühungen pro Monat auszufertigen hatte, womit diese Angelegenheit allseitig vom Tisch war.

Im Rahmen des Bewerbungstrainings wurde uns u. a. ein Lehrvideo eines selbsternannten „Bewerbungsexperten“ vorgeführt, dessen z. g. T. doch recht weltfremde und abseitige Vorstellungen von Bewerbungstechniken regelmäßig für Belustigung sorgte. So regte der gute Mann in dem Video, im Falle einer Dame, die sich um eine Stelle bewerben wollte, u. a. dazu an, sich auch von hinten in einer Bewerbung abbilden zu lassen, weil dies etwas besonderes wäre, das auf positive Resonanz und erhöhte Aufmerksamkeit stoßen würde. Ansonsten befand dieser „Bewerbungsexperte“, man solle man selbst und natürlich bleiben aber zu jedweder Veränderung, Anpassung und Maskerade bereit sein. Wie man diesen Spagat bewältigen sollte blieb indessen sein Geheimnis.

Angesichts des allgemein katastrophalen Zustandes der EDV-Technik bei dem Bildungsträger hatte man jedoch bereits Mühe das gewöhnliche Pensum an Bewerbungen bewältigen zu können, abgesehen davon, dass man eigentlich nur zuhause die notwendige Ruhe zum Schreiben von Bewerbungen fand. Neben veralteten Betriebssystemen kam es laufend zu Fehlermeldungen und Systemabstürzen, die Software war von Rechner zu Rechner verschieden, es konnte nicht von allen Computern aus gedruckt werden, weil teilweise die erforderlichen Druckertreiber nicht installiert waren, Softwareupdates waren nicht auf dem neuesten Stand und konnten von normalen Benutzern nicht durchgeführt werden, da hierfür nicht die notwendigen Rechte vergeben wurden. Die Arbeit im Internet war nur sehr eingeschränkt oder gar nicht möglich, da zahlreiche (auch für die Stellensuche relevante) Web-Seiten über den zentralen Proxy-Server in Köln geblockt wurden und nicht zuletzt war auch die Versendung von Bewerbungen über das Internet wegen sog. Netzwerk-Zeitüberschreitungs-Fehlern nicht möglich, um nur die allerwichtigsten Probleme zu nennen. Und das war für eine Aktivierungsmaßnahme bzw. einen Bildungsträger, der sich auf die Fahnen schrieb, den Teilnehmern bei der Vermittlung in Stellen behilflich zu sein, gelinde gesagt ein bisschen sehr, sehr dünn. Offensichtlich wurde die EDV-Technik über Jahre nicht mehr gepflegt, noch hatte man sich anscheinend Gedanken darüber gemacht, wie sie von den Kursteilnehmern im Sinne der Maßnahme bzw. ihrer Verpflichtungen sinnvoll genutzt werden kann. Ebenso vernachlässigt wurde die Reinigung der Räume und der Toiletten, sodass letztere stanken, teilweise nicht funktionierten oder verstopft waren. Besonders brisant war der Zustand vieler Fenster, in diesem Bauwerk aus den sechziger oder siebziger Jahren. Wollte man eines dieser Fenster öffnen oder ankippen musste man aufpassen nicht erschlagen zu werden, so reparaturbedürftig waren sie.

Wichtig war für den Bildungsträger offensichtlich nur eines, nämlich das Geld vom Jobcenter, das man für ein Minimum an Einsatz für diese Pseudomaßnahme bzw. Alibifunktion einstreichen konnte. Und das Jobcenter schaute da lieber weg und konnte nun wieder einmal behaupten etwas für die Qualifizierung und Integration von Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt getan zu haben, neben dem gewünschten Nebeneffekt, dass die Teilnehmer dieser Maßnahme für mindestens zwei Monate aus der Arbeitslosenstatistik verschwanden. Für mindestens zwei Monate, denn wie eingangs angeführt verlängerte sich die Maßnahme entsprechend um Zeiten der Abwesenheit der Teilnehmer. Dies war möglich weil permanent Maßnahmen dieser Art liefen, in denen man Teilnehmer mit versäumter Anwesenheit unterbringen konnte. Bedenklich erscheint diese Praxis vor dem Hintergrund, dass auch Teilnehmer, die ernsthaft erkrankten und krankgeschrieben wurden, so weiterhin zur Teilnahme an solchen sinnlosen („nur“ für die Teilnehmer und die Gesellschaft!) und damit durchaus krank machen könnenden Maßnahmen gezwungen werden. Insofern werden u. a. auch hier verfassungsrechtliche Fragen bzw. die der Menschenrechte berührt.

Abgesehen von der wieder einmal verschwendeten Lebenszeit in dieser Billigmaßnahme, für die jeder Cent zu schade war, da er quasi aus dem Fenster bzw. in private Taschen geworfen wurde, war dies die bisher schlechteste, die der Autor je über sich ergehen lassen musste. Das, was hier an Verwertbarem rüber kam hätte man allenfalls an zwei Tagen abhandeln müssen, dazu hätte es keinesfalls zwei Monate gebraucht. Zudem wurde aus unserer Gruppe nicht ein einziger Teilnehmer in eine Stelle vermittelt, ebenso wenig wie in anderen Kursen, soweit es dem Autor bekannt wurde.

Vor allem aber in anderer Hinsicht wird mir diese sog. Aktivierungsmaßnahme leider unvergesslich in Erinnerung bleiben, durch den Suizid einer neuen Teilnehmerin, der bereits im Vorangegangenen kurz angesprochen wurde. Am Morgen des 10. April 2012, einen Tag nach Ostern, wurde uns eine neue Teilnehmerin vorgestellt, die direkt in der Sitzreihe hinter mir Platz nahm. Das war das Letzte was ich von dieser Frau, als sie noch lebte, wahrnahm. Es war noch am selben Tag, kurz vor der Mittagspause, als unser Dozent etwas bleich und aufgelöst zu uns herein trat und mitteilte, dass sich die neue Teilnehmerin von der 8. oder 9. Etage herabstürzte. Daraufhin wurden wir umgehend nachhause geschickt. Als wir hinunter auf die Straße kamen war bereits die Polizei da und hatte die Stelle, wo die Frau aufschlug, weiträumig abgesperrt. Mein Fahrrad, mit dem ich gekommen war, befand sich unmittelbar hinter der Absperrung, sodass ich einen in der Nähe stehenden Polizisten um Zutritt bitten musste, der mir auch gewährt wurde. Jedoch noch während ich mit dem Öffnen des Fahrradschlosses beschäftigt war wurde derselbe Beamte ziemlich unwirsch und forderte mich zur Eile auf, obwohl ich nicht die geringste Schaulust und Lust zum Verweilen verspürte. Aus irgendeinem Grund muss es dem Beamten ziemlich unangenehm gewesen sein, mich hinter die Absperrung gelassen zu haben. Vielleicht konnte die Normalität an diesem Ort aus bestimmten Gründen nicht schnell genug wieder hergestellt werden bzw. sollte die Öffentlichkeit wohl möglichst nichts von der Tragödie mitbekommen. Weitergehende Details zu dieser Straßenszene sollen an dieser Stelle nicht angeführt werden.

Wir rechneten fest damit in den nächsten Tagen von der Polizei vernommen zu werden, denn es hätte denkbarer Weise auch ein Gewaltverbrechen vorliegen können, aber eigenartigerweise geschah nichts dergleichen. Ein Suizid muss wohl doch zu offensichtlich vorgelegen haben. Dafür bekamen wir am Tag nach der Tragödie in der Bildungseinrichtung Besuch vom Jobcenter, von dem uns psychologische Betreuung angeboten wurde, sofern wir Probleme mit dieser Begebenheit hätten. Ich muss sagen, dass es einfach nur noch ekelhaft bis unerträglich war, sich das verlogene und geheuchelte Geseich dieses Jobcenterangestellten anhören zu müssen. Ohne die Hintergründe und die unglückliche Frau zu kennen, war schnell die Rede von einer angeblich psychisch Gestörten, die da aus dem Fenster sprang. So muss ich gestehen viel Mühe gehabt zu haben mich zurückzuhalten, wusste ich doch, dass noch so gute Argumente, die die Verantwortlichkeit der Arbeitsmarktpolitik und ihrer Erfüllungsgehilfen bzw. Lakaien für diese Tragödie belegen würden, kaltschnäuzig ignoriert werden würden und ich womöglich noch Probleme bekommen könnte, sollte ich an dieser Stelle aus der Deckung kommen und dies womöglich noch allein.

Eine Teilnehmerin aus unserer Gruppe machte sich indessen Vorwürfe, sich vielleicht nicht genügend um die Unglückliche gekümmert zu haben, denn die wäre ihr kurz vor dem Unglück weinend, mit einem Schreiben vom Jobcenter in der Hand, auf der Toilette begegnet. Wie bereits zuvor an anderer Stelle erwähnt, ist dieser Fall nach Recherchen aus unserer Gruppe nirgendwo in den Medien publik gemacht worden. Ferner ist mir zugetragen worden, dass dieser Fall noch nicht einmal in den einschlägigen Polizeiberichten vorgekommen sein soll. Dies wirft beklemmende Fragen auf. Ebenso drängt sich hierbei die Frage auf, wie viele ähnliche Tragödien im Umfeld von solchen Zwangsmaßnahmen und anderen Aktivitäten der Jobcenter nicht mehr bekannt werden bzw. geheim gehalten werden.

Der große Reformbetrug

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