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Betrachtungen und Untersuchungen von anderer Seite
Оглавление„Die sind sehr, mit ihren Worten können die einen niedermachen. (…) Und ich mach’s immer so, ein Ohr rein, dann geht’s bei mir einmal durch ‘n Magen und tritt auf der andern Seite wieder raus. Ich hab’ ‘ne Phase gehabt, da ging es da rein und hielt sich im Magen fest und jetzt kann ich damit umgehen.(…) Aber wenn ich zur ARGE muss und da was abliefern muss, das ist schon schwer.“
Zitat von einer allein erziehenden sog. Kundin aus: Respekt – Fehlanzeige? Erfahrungen von Leistungsberechtigten mit Jobcentern in Hamburg 2012, S. 8, Hrsg. Diakonisches Werk Hamburg, Fachbereich Migration und Existenzsicherung
Vor dem Hintergrund, dass sich die sozialen Beratungsstellen der Diakonie in den zurück liegenden Jahren gehäuft von Leistungsbeziehern aus dem Rechtskreis SGB II (Hartz IV) gegenübersahen, die sich über einen herabwürdigenden Umgang und über schlechte und falsche Beratung in den Jobcentern beklagten, beauftragte das Diakonische Werk Hamburg Sozialwissenschaftler/innen Leistungsberechtigte aus dem Rechtskreis SGB II zu problematischen Erfahrungen mit den Jobcentern zu befragen. Zudem wurden Expert/innen interviewt, die aufgrund ihrer Beratungstätigkeit mit der Verwaltungspraxis gegenüber Leistungsberechtigten konfrontiert sind. Mit dieser Untersuchung sollten die oft als „negativ“ beschriebenen Erfahrungen begrifflich genauer gefasst und kategorisiert werden (vgl. Respekt – Fehlanzeige? Erfahrungen von Leistungsberechtigten mit Jobcentern in Hamburg 2012, Hrsg. Diakonisches Werk Hamburg, Fachbereich Migration und Existenzsicherung).
Zur Einleitung dieser Studie heißt es: „…Mit einer ganz ähnlichen Thematik hat übrigens das Diakonische Werk der EKD 110 Beratungsstellen im ganzen Bundesgebiet befragt. Sowohl die Befragung des DW der EKD als auch die Hamburger Untersuchung kommen zu ganz ähnlichen Ergebnissen: Menschen im SGB-II-Bezug vermissen Respekt vor ihrer Person und ihrer Lebenssituation. Sie erfahren ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit und Bevormundung, sie vermissen bedarfsgerechte individuelle Hilfen. Viele fühlen sich wie Bürger/innen zweiter Klasse behandelt und nicht wie Kund/innen. (…) Aus Sicht der Diakonie sind Menschen in Armut und Arbeitslosigkeit den Behörden und dem Hartz IV-System ein Stück weit ausgeliefert und brauchen eine starke rechtliche Stellung, um selbstbestimmt ihre Chancen zu wahren. Sie brauchen darüber hinaus eine respektvolle und würdige Behandlung durch die Institutionen der Grundsicherung. Die Ergebnisse dieser kleinen Untersuchung belegen das nachdrücklich.“
Das Spektrum, der in dieser Studie interviewten ALG II-Bezieher/innen war möglichst breit angelegt, sie reichte vom jungen Erwachsenen bis zum älteren, allein stehenden Arbeitslosen und von der allein erziehenden Mutter bis zum Aufstocker, der von seiner Arbeit nicht leben kann. Ebenso breit angelegt war das Spektrum der interviewten Expertinnen und Experten, von der Sozialberatung bis hin zu Rechtsanwälten.
Neben dem Umgang mit den ALG-II-Beziehenden wird in der genannten Studie kurz auf die „entmutigende und abschreckende“ innenarchitektonische Gestaltung der Jobcenter eingegangen. So wird hierzu eine Expertin folgendermaßen zitiert: „Wenn man da rein kommt (i. d. Anmeldung des Jobcenters, d. V.), ist da schon ein mehrfaches Abschottungssystem. Man fühlt sich schon abgewiegelt, bevor man den ersten Mitarbeiter zu Gesicht bekommen hat“ (vgl. ebd. S. 5). Ferner wird geschildert wie die Vertreter/innen einer Beratungsstelle auf ein abwehrendes Verhalten der Mitarbeiter in den Jobcentern treffen, wenn sie nicht als solche erkannt werden. „Dann werden sie ebenso unwirsch gefragt: ‚Was wollen Sie denn Hier?’, oder damit konfrontiert, dass sich Mitarbeitende abrupt in ihr Büro zurückziehen, um jeglichen Fragen zu entgehen. ‚Man muss es selbst erleben’ “ (vgl. ebd. S. 5).
In der Studie wurden drei Ebenen einer „schlechten“ und „unwürdigen“ Verwaltungspraxis in den Jobcentern unterschieden, wobei jedoch die Erfahrungen von ALG-II-Beziehenden und Experten mit Hamburger Jobcentern durch die Wechselwirkung zwischen diesen Ebenen und den sich daraus ergebenden „Dynamiken“ geprägt seien. Folgende Ebenen wurden unterschieden: 1. die Ebene der bürokratischen Abwicklung, 2. die sog. Interaktionsebene und 3. die Materiell-rechtliche: „Von Rechtsunsicherheit bis Rechtsbruch“.
Auf der Ebene der bürokratischen Abwicklung seien nach der Studie die ALG-II-Beziehenden grundsätzlich mit einer „Papierflut“ konfrontiert und hätten „Aktenordner voller Bescheide zu Hause“. Dies kann der Autor nur bestätigen, denn in kürzester Zeit häuft sich ein Vielfaches an Bescheiden und Dokumenten an, von dem, was sich in einem vergleichbaren Zeitraum während einer Arbeitslosigkeit unter der früheren Betreuung des Arbeitsamtes anhäufte. Als Schikane und Beschäftigungstherapie würden die ALG-II-Beziehenden es erleben, dass sämtliche Unterlagen „fünfmal“ eingereicht werden müssten, denn dadurch steige ihr Verwaltungsaufwand weiter und würde ihr kooperatives Bemühen und die aufgebrachte Zeit entwertet. Weiterhin heiß es: „Das Vertrauen in einen ordnungsgemäßen bürokratischen Ablauf wird auch durch die typische Erfahrung unterminiert, dass im Briefkasten des Jobcenters eingeworfene Unterlagen ihre Empfänger/innen im Haus nur selten erreichen, ‚dann sagen die, ham wir nicht gekriegt’. Das bedeutet für die ALG-II-Beziehenden, ‚sich einreihen, lieber ‘ne Stunde warten’, um die geforderten Unterlagen direkt am Empfang abgeben und sich die Entgegennahme quittieren lassen zu können. Teilweise wird aber auf diese zeitintensive ‚Sicherheitsmaßnahme‘ der ALG-II-Beziehenden am Empfang verärgert reagiert oder das Ausstellen einer Empfangsbestätigung sogar verweigert“ (vgl. ebd. S. 5). Lägen die erforderlichen Unterlagen vor erwiesen sich selbst bei dringenden Anliegen häufig lange Bearbeitungszeiten als eine weitere bürokratische Hürde. Dieses Verhalten der Sachbearbeitenden sei angesichts der prekären Lebenslage der ALG-II-Beziehenden unverständlich und erscheine rücksichtslos. Kritisiert wird ebenso die mangelnde „Zahlungsmoral“ der Jobcenter, durch die viele Kunden in existenzielle Bedrängnis geraten, und dass so zusätzlich Gefühle der Ohnmacht ausgelöst würden: „Denn während von den ALG-II-Beziehenden ständige Verfügbarkeit erwartet wird, sind ihre zuständigen Sachbearbeitenden für sie nur selten ansprechbar. Auf Termine müssen ALG-II-Beziehende lang warten und auch telefonisch sind die Sachbearbeitenden nur schlecht erreichbar.“ (vgl. ebd. S. 6).
Insgesamt wird das Verwaltungshandeln der Jobcenter in der Studie als willkürlich betrachtet, wobei diese Ansicht „von den Expert/innen durchgängig geteilt“ werden würde. Durch die Abschottungspraxis der Jobcenter werde ebenso die Arbeit der Experten „gravierend erschwert“, die sich um die Belange ihrer Klienten bzw. sog. Kunden kümmern müssen. So wird eine Expertin folgendermaßen zitiert: „Man kriegt eigentlich generell kaum direkte Antwort. Die direkte Kommunikation hat sich ziemlich verflüchtigt. Der Bescheid ist der Kommunikationsweg. Das Persönliche fehlt total.“ (vgl. ebd. S. 6).
Als „sehr problematisch“ werden unverständliche Formulare angesehen, die selbst mit hohem Bildungsstand Schwierigkeiten bereiten würden, zumal bei Falschangaben Sperren und Sanktionen drohen würden. „Verschlüsselte Briefe“ mit „seitenlangen Rechtsfolgebelehrungen“ würden ein Angst besetztes Verhältnis zum Jobcenter herstellen. Da würde es als psychologischer Trick erscheinen, dass man Post vom Jobcenter immer nur zum Wochenende bekommt. Am Wochenende könne man sich erst mal schön aufregen, auch weil man nichts machen kann und hat sich bis zum Montag wieder etwas beruhigt, wird die Aussage einer Interviewpartnerin zusammengefasst. Ein anderer Interviewpartner wird folgendermaßen zitiert: „Man ist immer froh und selig, wenn man mal keine Post von der ARGE hat. (…) Es ist ja nie wie früher: Oh ein Brief vom Arbeitsamt, vielleicht krieg’ ich einen Job. Nein, es ist immer: Ach Gott, was kommt denn jetzt. (…) Es ist ein Verhältnis, als wenn man zu seinem Fürsten geht. (lacht) Dieser alte Spruch: Genieße deinen Fürsten, wenn du nicht gerufen wirst, trifft voll auf die ARGE zu.“ Auch dies kann der Autor nur bestätigen, dass Post vom Jobcenter ganz überwiegend zum Wochenende kommt, mit den oben beschrieben und wohl auch beabsichtigten Effekten. ARGE steht übrigens in dem voran gegangenem Zitat synonym für Jobcenter bzw. für die früheren kommunalen Arbeitsgemeinschaften.
Als Fazit ziehen die Autoren der Studie, dass die Ebene der bürokratischen Abwicklung nicht durch Entgegenkommen und Unterstützung geprägt sei, sondern durch den Aufbau von Barrieren und Verzögerungen bei gleichzeitiger Missachtung der krisenhaften Lebenssituation der ALG-II-Beziehenden.
Aber auch auf der sog. Interaktionsebene würde sich das per se asymmetrische Verhältnis zwischen Jobcentern und ALG-II-Beziehenden in problematischer Weise manifestieren, denn die Kunden könnten sich nicht grundsätzlich darauf verlassen, dass ihnen Respekt und Höflichkeit entgegengebracht würde. So würde von Experten das Fehlen von verbindlichen Regeln im Umgang mit ALG-II-Beziehenden kritisiert werden. Es gäbe auch positive Erfahrungen mit Jobcentermitarbeitern, jedoch gleiche die Situation im Jobcenter aufgrund der fehlenden Wahlfreiheit der Kunden einem Glücksspiel, an welches Gegenüber sie geraten. Aussagen von Kunden wie folgende werden als typisch angeführt: „Ich stand neulich am Tresen und sag’, ‚Schönen guten Tag, mein Name ist Ebert’. ‚Ja Ihren Namen brauchen Sie nicht sagen, was wollen Sie?’ So wird man zum Beispiel angemacht unten (! d. V.) am Tresen.“
Ein herabwürdigendes Verhalten, das von ALG-II-Beziehenden als unhöflich, frech oder pampig beschrieben wird, trete nicht erst in Folge von Konflikten auf, sondern könne von Anfang an die Interaktion mit den Mitarbeitern der Jobcenter prägen. So wird von typischen Erfahrungen berichtet, wonach Kunden nicht zugehört würde, Aussagen nicht ernst genommen würden, Erklärungsversuche einfach abgebrochen würden, Kunden geduzt würden, während des Sprechens kein Augenkontakt gehalten würde (das andere Extrem, d. V.) und über anwesende Kunden in der dritten Peron gesprochen werden würde. Zudem dominiere häufig das per se vorhandene Machtgefälle zwischen Kunden und Mitarbeitern die Interaktion derart massiv, dass Aushandlungsprozesse oft schon im Keim erstickt würden. Zum Abschluss einer sog. Eingliederungsvereinbarung wurde folgende Äußerung eines Arbeitsvermittlers angeführt: „Wenn Sie das nicht unterschreiben wollen, das macht gar nichts, dann erlassen wir das als Verwaltungsakt, nicht dass Sie denken, dass Sie uns so davon kommen.“ Hier würde dem Kunden ganz klar das Recht einer aktiven Mitsprache und Beteiligung abgesprochen werden, was der Autor indessen nicht wirklich anders sehen kann. Und die knappe Antwort, „Dann klagen Sie doch“, die ein Alleinerziehender Kunde angesichts drohender Wohnungslosigkeit von einer Sachbearbeiterin erhalten habe, zeige, dass auch in gravierenden Notlagen mitunter jegliche Kommunikation und Unterhandlung unterbunden würde (vgl. ebd. S. 7). Expert/innen und ALG-II-Beziehenden würden gleichermaßen kritisieren, dass in den Jobcentern ein zu geringes Verständnis vorhanden wäre, dass Bürger/innen einen Rechtsanspruch auf Existenzsicherung in einer Notlage hätten. In der Tat scheint dieses Verständnis häufig nicht (mehr) vorhanden zu sein. Nach Meinung des Autors ist hier aber nicht nur fehlendes Verständnis zu beklagen, sondern nicht selten auch die vorsätzliche Missachtung und Torpedierung der Notlagen und Rechte der Kundinnen und Kunden von maßgeblicher Seite her.
Nicht selten würden ALG-II-Beziehende eine Haltung zu spüren bekommen, die ihnen Faulheit und Arbeitsunwilligkeit unterstellen würde, und die einem stereotypen Bild aus medialen Diskursen ähneln würden, mit dem ALG-II-Beziehende über einen Kamm geschoren würden. Dies würde z. B. in der folgenden Äußerung einer Arbeitsvermittlerin gegenüber einem Kunden zum Ausdruck kommen: „Passen Sie auf, Sie kriegen jetzt so lange von uns Geld und es ist an der Zeit, der Gesellschaft auch was zurück zu geben.“ In solchen Äußerungen spiegele sich bereits ein übergriffiges Verwaltungshandeln wieder, bei dem ALG-II-Beziehende in einer Weise als ‚ganze Person’ „adressiert und bewertet“ würden, die angesichts ihrer berechtigten Rechtsansprüche eine ganz klare Grenzüberschreitung darstellen würde. Diese Form der „Distanzlosigkeit oder Übergriffigkeit“ könne als ein Ergebnis der Hartz-Reformen gesehen werden, mit denen die Eigenschaften des Kunden in den Vordergrund gerückt wurden, die es nun – anstelle struktureller Ursachen (z. B. fehlende Arbeitsplätze) – zu beheben gelte. Im Jobcenteralltag könne dies für ALG-II-Beziehende darauf hinaus laufen, mit respektlosen Äußerungen konfrontiert zu sein, die ihrer krisenhaften Situation in keiner Weise gerecht werden und somit die Kontakte zum Jobcenter zusätzlich erschweren würden (vgl. ebd. S. 8).
Neben abfälligen Äußerungen von Jobcentermitarbeitern über die äußere Erscheinung von Kunden, die in der o. g. Studie dokumentiert werden, werden auch handfeste Beleidigungen wie diese von einem Kunden zitiert: „Beleidigungen, die man manchmal so an den Kopp gehauen bekommt“, wie „ Mein Gott, Sie sind ne ganz schöne Nervensäge“ oder „Ach ihre Nummer, immer wenn ich Ihre Nummer sehe, Krieg’ ich nen Hals“ (vgl. ebd. S. 8).
Ferner zeige sich in den Interaktionen, dass oftmals keine Einzelfallbezogene Betreuung stattfände, die ganzheitlich an der individuellen Lebenssituation der ALG-II-Beziehenden ansetze. Vielmehr würden die Fachkräfte in den Jobcentern als „kleine Robotter“ erscheinen, die sich nicht für „deine Geschichte“ interessieren würden, wird eine junge Kundin zitiert. Dass auf die persönliche Situation und besonderen Problemlagen der Kunden in den Gesprächen zu wenig eingegangen würde, sondern diese nach mehr oder weniger dem selben Schema „abgearbeitet“ würden, zeige sich auch an den vorgefertigten Textbausteinen in vielen sog. Eingliederungsvereinbarungen. So wird von einem älteren Kunden beklagt: „Also gerade dieses Zwischenmenschliche, (…) ja der Umgang, sich mal hineinzudenken in den Menschen und bisschen zu spüren, (…) fehlt völlig. Das ist gerade bei Existenzsachen, ist das natürlich schlimm, ne.“
Insgesamt zeige sich, dass es ein zu geringes Verständnis für Grenzen gäbe, die in der Behandlung von ALG-II-Beziehenden selbstverständlich sein sollten. ALG-II-Beziehende bekämen zu häufig ein willkürliches und übergriffig-respektloses Verhalten zu spüren, mit dem ihnen eine Autonomie, die man Bürger/innen gemeinhin zuerkenne, tendenziell abgesprochen würde. Dazu das Zitat von einer allein erziehenden Kundin: „Die sind sehr, mit ihren Worten können die einen niedermachen. (…) Und ich mach’s immer so, ein Ohr rein, dann geht’s bei mir einmal durch ‘n Magen und tritt auf der andern Seite wieder raus. Ich hab’ ‘ne Phase gehabt, da ging es da rein und hielt sich im Magen fest und jetzt kann ich damit umgehen.(…) Aber wenn ich zur ARGE muss und da was abliefern muss, das ist schon schwer.“ (vgl. ebd. S. 8).
Im Bereich ihrer materiellen Rechtsansprüche seien ALG-II-Beziehende mit eklatanter Unzuverlässigkeit und großer Intransparenz konfrontiert, obwohl man annehmen könnte, dass dieser Bereich infolge seiner klaren gesetzlichen Regelung weniger Raum für Unsicherheiten zulassen würde und insofern determinierter wäre als etwa die Gesprächsführung der Jobcentermitarbeiter. Trotz der starken Pauschalierung der Leistungen seit Einführung des SGB II gäbe es immer noch zusätzliche Leistungen über die das Jobcenter aufklären müsste, dies aber in aller Regel nicht tue. Denn von Seiten der Bürger/innen und anderen Verwaltungsinstitutionen könne schließlich keine detaillierte Kenntnis der Gesetzeslage voraus gesetzt werden. Dazu wird ein Rechtsanwalt für Sozialrecht folgendermaßen zitiert: „Es ist schon Kalkül, durch Nicht-Information Kosten zu sparen“ (vgl. ebd. S. 9). Während in den Medien oft das Bild von den Leistungsbeziehenden beschworen würde, die den Sozialstaat missbrauchen würden, erleben die Kunden, dass ihnen u. a. durch fehlende Informationen von Seiten der Jobcenter Leistungen vorenthalten würden. Aber selbst bei der nachträglichen Korrektur von fehlerhaften Bescheiden könnten die Kunden keineswegs mit einem Eingeständnis von Fehlern oder gar mit einer Entschuldigung seitens der Jobcenter rechnen.
Ein weiteres Problem stelle die Nachprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit von Bescheiden dar, mit denen selbst Fachanwälte für Sozialrecht Schwierigkeiten hätten, die sie aus keinem anderen Rechtsfeld kennen würden. So würden gerade bei Änderungsbescheiden fast immer jegliche Begründungen oder Erläuterungen fehlen, welche Leistungen in welcher Weise auf oder angerechnet werden, und die ausgewiesenen Summen würden oft nicht einmal mit Angaben in Kontoauszügen übereinstimmen. Vermeintlich einfache Überprüfungen von Bescheiden gerieten so oft zu einem Ratespiel, bei dem sich der Eindruck einer „systematischen Verschleierungstaktik“ aufdrängen würde. Die diesbezüglichen langjährigen Erfahrungen einer Rechtsanwältin für Sozial- und Familienrecht werden folgendermaßen zitiert: „Also nicht mal die Behördendokumentation stimmt mit den Kontodaten meiner Mandanten überein, das kann nicht angehen. Ich weiß nicht, wie schafft man das überhaupt?! Das verstehe ich überhaupt nicht, das ist mir unbegreiflich, da muss man sich Mühe geben. Und deswegen auch die Vermutung, dass da regelrecht ein Konstrukt hinter steckt, man muss sich bemühen, das so zu verschleiern, dass am Ende nichts mehr passt!“ (vgl. ebd. S. 9).
Bei dem Versuch einen Sachverhalt zu klären würden Kunden wie auch Expert/innen auf eine sehr geringe Kooperationsbereitschaft der Jobcenter treffen. Häufig würden Kunden von den Sachbearbeitern abgewehrt werden oder nur mündliche Aus- und Zusagen bekommen, die jedoch keine Rechtssicherheit gäben. Äußerst kritisch würde z. B. von Anwält/innen gesehen werden, dass die Aktenherausgabe im Land Hamburg Ermessensentscheidung und die Akteneinsicht oftmals kompliziert sei, da ein Termin mit dem Jobcenter ausgemacht und die Aktenlage vor Ort eingeschätzt werden müsse, sofern keine einstweilige Verfügung vorläge. Dies wird als Strategie der Jobcenter angesehen, die anwaltliche Beratung aus dem Verfahren herauszuhalten. Kritisiert wird ferner, dass außergerichtliche Verfahren zu kurzfristigen Klärungen von den Jobcentern strikt unterbunden würden. Zusammen mit der Herabsetzung der Widerspruchsfrist von vier Jahren auf ein Jahr gerieten ALG-II-Beziehende unter Zeitdruck und in eine Spirale der Demoralisierung bzw. Einschüchterung. Angesichts häufiger finanzieller Existenznot sei es höchst problematisch, dass sowohl Widersprüche als auch eröffnete Gerichtsverfahren keine aufschiebende Wirkung hätten und dadurch auch rechtswidrige Bescheide ihre Gültigkeit behielten.
Resümierend heißt es, dass Fehler zu Lasten der ALG-II-Beziehenden keine Einzelfälle seien, sondern regelmäßig vorkämen. Daher könnten und sollten ALG-II-Beziehende noch viel häufiger klagen, um die gravierenden Defizite bei der Umsetzung geltenden Rechts offenkundig werden zu lassen. Hinsichtlich der Rechtssicherheit für ALG-II-Beziehende falle das Urteil der Expert/innen sehr negativ aus. Im Bezug auf Rechtsstreitigkeiten mit dem Jobcenter wurde eine Rechtsanwältin folgendermaßen zitiert: „Zum einen fehlt die Gesetzeskenntnis, in jedem Telefonat (mit dem Jobcenter, d. V.) wird sich nur bezogen auf die Fachanweisung, d. h. die Gesetzeskenntnis ist im Ansatz nicht da, dass merkt man auch an den Bescheiden. Wahrscheinlich finden auch keine Schulungen statt. Das Gesetz ist auch eines, das dazu verführt, Missbrauch zu unterstellen, Lügen zu unterstellen, das ist dem Gesetz auch immanent, anders als bei anderen Sozialgesetzen.“
Ein anderes großes Problemfeld, dem die Studie nachgeht, ist der Fall wenn ALG-II-Beziehende einer Erwerbstätigkeit nachgehen bzw. nachgehen wollen, die jedoch nicht zum Leben ausreicht, sodass sie weiterhin Transferleistungen beziehen müssen. Angesichts der immer wieder erhobenen Forderung von Seiten der Jobcenter die Hilfebedürftigkeit der Kunden möglichst mit allen Mitteln zu reduzieren, erscheine die häufig vorgebrachte Behauptung, nach der die Jobcenter die Aufnahme einer Beschäftigung behindern oder zumindest erschweren würde, zunächst überraschend. Tatsächlich könne aber gerade die Aufnahme einer Beschäftigung für ALG-II-Beziehende zu einem unerwarteten Risiko für ihre Existenzsicherung werden. So genannte „aufstockende Leistungen“ bedeuteten faktisch nicht selten gravierende Probleme. Dies gelte selbst für ALG-II-Beziehende, die neben ihrem Leistungsbezug „nur“ eine geringfügige Beschäftigung annehmen würden (vgl. ebd. S. 12). Indem z. B. bei sog. Minijobs von den Jobcentern gewissermaßen vorauseilend das maximale Einkommen von 400 Euro auf die Leistung angerechnet wird, gerieten diejenigen, die unter dieser Verdienstgrenze bleiben, unversehens in eine Notsituation, die erst durch ihren Wunsch nach Erwerbstätigkeit zustande kam. Zudem sollten Lohnabrechnungen zu dubiosen (weil viel zu frühen) Zeitpunkten eingereicht werden, sodass scheinbar permanent Versäumnisse bei den Nachweis- und Mitwirkungspflichten drohten (vgl. ebd. S. 12). Durch diese Art der Verwaltungspraxis würde eher der Eindruck vermittelt werden, dass sich Erwerbsarbeit im ALG-II-Bezug nicht lohne, man schaffe sich nur Probleme, wenn man unter diesen Bedingungen arbeiten gehen würde, und zwar unabhängig von der allgemeinen Erwerbsmotivation. Ebenso würden selbständig tätige Alg-II-Beziehende mit derartig komplexen bürokratischen Hürden konfrontiert werden, obwohl doch gerade diese Klientel dem propagierten arbeitsmarktpolitischen Ideal entsprechen würde. Diese müssten Einkünfte und Ausgaben nicht nur in den entsprechenden Formularen der Finanzämter, sondern ebenso in Unterlagen der Jobcenter erklären.
Ferner würde der Weg in die Erwerbstätigkeit „aber auch erheblich durch eine fehlende adäquate Förderung erschwert“ werden. So würde von Experten entschieden die stereotype Vorstellung zurückgewiesen werden, nach der es den sog. Kunden grundsätzlich an der Motivation mangeln würde, an Maßnahmen teilzunehmen, sodass angeblich „händeringend“ nach Teilnehmern für entsprechende „Qualifizierungen“ („“, d. V.) gesucht werden müsse. Fördern findet praktisch nicht statt, so laute vielmehr die Problemdiagnose (vgl. auch Kap. 5.3 und 5.3.1). So heißt es da weiter: „Maßnahmen werden häufig als Sanktionsinstrument missbraucht, Fordern dominiert und ‚überschattet‘ den Einsatz von Förderung, Beschäftigungsträger und private Vermittlungsdienstleister verdienen an oft qualitativ geringwertigen Maßnahmen für Erwerbslose, im Vordergrund steht bei den Jobcentern der Hinweis auf nur geringe finanzielle Mittel und zudem das grundsätzliche Desinteresse an der bisherigen Berufsbiographie, wie der folgende Dialog eines Interviewpartners mit seiner Arbeitsvermittlerin verdeutlicht: „‚Sie haben ja etwas mit Schrauben zu tun.‘‚Nee, nee nicht mit Schrauben, ich habe Industriearmaturen gebaut.‘ ‚Ach ja, das mit den Schrauben‘.“ (vgl. ebd. S. 12).
Die desinteressierte Verwaltungspraxis in den Jobcentern zeige sich ebenso an der Missachtung der Lebenssituation der Kunden, hinsichtlich Wohnen, Familie und Ausbildung. So würde die Vorgehensweise der Jobcenter eine Wohnungssuche unnötig verkomplizieren. Nach Berichten von Expert/innen würde in vielen Fällen die Übernahmen von Kosten zu lange unklar bleiben oder nur unzureichend erfolgen. So komme es nicht selten vor, dass bei erfolgreicher Suche einer Wohnung Mietverträge aufgrund von Verzögerungen bei der Bearbeitung im Jobcenter nicht zustande kämen oder dass die Miete nicht in voller Höhe übernommen würde und ALG-II-Beziehende Probleme mit ihren Vermietern bekommen würden, weil sie nicht rechtzeitig über Kürzungen informiert wurden. Insofern wäre es ein erstaunliches Ergebnis der Studie, dass auch die Verwaltungspraxis der Jobcenter Wohnungslosigkeit und die Unterbringung in Notunterkünften verursachen würde, was keine außergewöhnlichen Einzelfälle zu sein scheinen (vgl. ebd. S. 12). Es zeige sich bei den Jobcentern insgesamt eine Tendenz, die individuelle Lebenssituation wenig berücksichtigen zu wollen und auch im Bereich des Wohnens rein nach Aktenlage zu entscheiden. Eine Expertin hätte berichtet, dass eine solche Haltung angesichts von Umzugsproblemen auch ganz explizit von einer Sachbearbeiterin geäußert wurde: „Es ist schön, dass Sie die Perspektive der Leute einnehmen, aber die wollen wir hier gar nicht“. Dies bedeute in der Praxis, dass z. B. Bemühungen von Eltern, das soziale Umfeld (Schule usw.) für ihre Kinder im Falle eines Umzuges (z. B. nach einer Trennung) aufrechtzuerhalten, nicht selten scheitern (vgl. ebd. S. 13).
Jugendliche bzw. junge Erwachsene träfen bei den Jobcentern auf eine Institution, der die Phase der Entwicklung und Orientierung, für unter 25-Jährige weitgehend fremd sei. Nach den arbeitsmarktpolitischen Vorgaben solle diese Gruppe eine „härtere Gangart“ erfahren. Dies kann bis zur Verhängung einer 100-Prozent-Sanktion, also der totalen Aufhebung der ALG-II-Leistungen für Angehörige dieser Gruppe reichen. Mit dieser Betonung von Druck würden die ohnehin großen spezifischen Herausforderungen, denen junge Erwachsene gegenüberstünden, wie den eigenen Lebensweg noch finden zu müssen, oder teilweise große Probleme wie z. B. ein Rauswurf aus der elterlichen Wohnung oder erste Erfahrungen des Scheiterns (Abbruch der Schule oder Ausbildung), völlig missachtet werden. Während diese jungen Menschen eigentlich Unterstützung und das Gefühl bräuchten, mit ihren Schwierigkeiten, aber auch Plänen und Ideen für ihre Zukunft ernst genommen zu werden, würden sie tendenziell mit ihren Problemen allein gelassen und abgewehrt werden. Hinzu komme die fehlende Berücksichtigung und Förderung der eigenen Wünsche und Fähigkeiten hinsichtlich von Ausbildung und Beruf (vgl. auch Kap. 5.3 und 5.3.1). Dies sei ein sehr entscheidender („und verblüffender“) Sachverhalt, angesichts der öffentlichen Diskussion über die große Bedeutung von Bildung, in der es auch um die nachwachsende Generation gehe, und deshalb wäre eigentlich zu erwarten, dass es ein dringendes Anliegen der Jobcenter sei, junge Erwachsene mit Bildungsaspirationen zu unterstützen.
Erstaunlich bis verblüffend ist dies aber auch vor dem Hintergrund der permanenten Propagierung eines angeblichen verbreiteten Fachkräftemangels in Deutschland (vgl. Kap. 3.5). Nach Aussagen von Experten wäre aber eine wirklich ernsthafte Unterstützung der jungen Leute durch die Jobcenter eher der „Einzelfall“. Vielmehr würden junge ALG-II-Beziehende nicht selten dazu gedrängt, ihren Wunsch einen Schulabschluss nachzuholen, zugunsten einer Beschäftigungsaufnahme aufzugeben. So wäre eine junge Frau, während sie ihre Mittlere Reife nachholte, regelmäßig zum Jobcenter eingeladen, und nach ihren Bewerbungsbemühungen gefragt worden, oder ein junger Mann mit Migrationshintergrund, der eigentlich seinen Hauptschulabschluss machen wollte, solle zu der Teilnahme an einem sog. „real life training“ gedrängt worden sein, bei dem es weitaus mehr um die Einübung von Disziplin als um eine wirkliche Verbesserung der Arbeitsmarktchancen ging. Ähnliche, höchst fragwürdige Fälle, in denen den Betreffenden quasi noch Knüppel zwischen die Beine geworfen werden, sind auch dem Autor aus seiner weiteren Umgebung bekannt. So wird in der Studie fort gefahren: „Mit dieser Praxis nehme man letztlich billigend in Kauf, dass U25-Jährige dauerhaft im Bereich der schlecht bezahlten „Mc-Jobs“ tätig sind und damit in ein Segment der prekären Beschäftigung ‚abgeschoben‘ werden, aus dem ihnen ein Aufstieg (gerade wenn ihnen formales Bildungskapital fehlt) nur noch schwer möglich ist.“ (vgl. ebd. S. 14).
Offenbar möchte man die jungen Menschen zusammenstauchen, nach dem Muster: Halt die Klappe, was du brauchst und möchtest interessiert uns einen Dreck. Wenn „wir“ Fachkräfte brauchen holen wir die lieber aus dem Ausland, das ist viel billiger und damit wettbewerbskonformer, für uns Global Player. Und wenn man die jungen Leute so gebrochen und um(v)erzogen hat wie man es braucht, dann brüllen die wie einst ihre so „wunderbar“ disziplinierten Groß- und Urgroßeltern aus geschwellter Brust: Hurra, hurra, wir halten durch bis zum Endsieg – für die Eroberung der Weltmärkte! „Schöne“ Aussichten.
Knigge für Unbemittelte
Ans deutsche Volk, von Ulm bis Kiel:
Ihr esst zu oft! Ihr esst zu viel!
Ans deutsche Volk, von Thorn bis Trier:
Ihr seid zu faul! Zu faul seid ihr!
Und wenn sie auch den Lohn entzögen!
Und wenn der Schlaf verboten wär!
Und wenn sie euch so sehr belögen,
dass sich des Reiches Balken bögen!
Seid höflich und sagt Dankesehr.
Die Hände an die Hosennaht!
Stellt Kinder her! Die Nacht dem Staat!
Euch liegt der Rohrstock tief im Blut.
Die Augen rechts! Euch geht’s zu gut.
Ihr sollt nicht denken, wenn ihr sprecht!
Gehirn ist nichts für kleine Leute.
Den Millionären geht es schlecht.
Ein neuer Krieg käm ihnen recht,
So macht den Ärmsten doch die Freude!
Ihr seid zu frech und zu begabt!
Seid taktvoll, wenn ihr Hunger habt!
Rasiert euch besser! Werdet zart!
Ihr seid kein Volk von Lebensart.
Und wenn sie euch noch tiefer stießen
und würfen Steine hinterher!
Und wenn Sie euch verhaften ließen
und würden nach euch Scheiben schießen!
Sterbt höflich und sagt Dankesehr.
Erich Kästner