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Nur Fehler?

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„Hartz IV ist eine Zäsur in der Geschichte der Sozialgerichtsbarkeit. Doch ist der Klagerekord nicht nur Folge der Hartz IV-Gesetzgebung. Er ist Ausdruck wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen, die sich an unterschiedlichen Stellen des sozialen Gefüges in Deutschland niederschlagen. Wie ein Seismograph spürt das Sozialgericht die Erschütterungen im deutschen Sozialsystem. (…) In den steigenden Klagezahlen des Berliner Sozialgerichts spiegelt sich die sinkende Bedeutung der deutschen Sozialversicherung. Längst haben nicht mehr alle Erwerbstätigen ungehinderten Zugang zum beitragsfinanzierten Sozialsystem. Erhebliche Teile des Arbeitsmarktes werden bewusst an der Sozialversicherung vorbei organisiert.“

Aus der Ansprache der Präsidentin des Sozialgerichtes Berlin, Frau Sabine Schudoma, anlässlich der Jahrespressekonferenz vom 10.01.2013

Der Bescheid auf meinen Erstantrag für das Arbeitslosengeld II (ALG II) war fehlerhaft – zu meinen Lasten. Obwohl in dem betreffenden Antragsformular bezüglich meiner Kosten für Unterkunft und Heizung explizit nach der Art der Warmwasseraufbereitung gefragt wurde und ich dies korrekt beantwortete, indem ich die Frage danach ob die Warmwasseraufbereitung mit einem Durchlauferhitzer erfolgt mit ja beantwortete, wurde die Erstattung meiner tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung um eine sog. Energiepauschale von 9 Euro pro Monat gekürzt. Die Kürzung folgte der Argumentation: „Eine Trennung zwischen den Kosten für Unterkunft und Heizung einerseits und den Kosten für Strom und Warmwasser andererseits sei nicht möglich.“ Fragt sich dann also wofür in dem Antragsformular explizit nach der Art der Warmwasseraufbereitung gefragt wurde, so als würde von der Antwort eine Unterscheidung bzw. Entscheidung abhängen, was auch in der Tat so sein sollte. Offenbar hat man die Entscheidung in diesem Fall einfach vorweggenommen, sich also entschieden die Energiepauschale so oder so abzuziehen und die Antwort auf die gestellte Frage schlicht zu ignorieren. Nur ein Fehler?

Gegen den o. g. Bescheid legte ich umgehend Widerspruch ein, ohne dass sich in den kommenden Monaten irgendetwas regte. Damals noch nicht an die Praxis der neuen Jobcenter gewöhnt, regelmäßig Dokumente, Anträge und Widersprüche auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen sendete ich meinen Widerspruch per Einschreiben an das Jobcenter, ohne damals darauf zu achten, dass dies keinen rechtsgültigen Beweis für die Zustellung explizit dieses Widerspruchs darstellt. Mit dem entsprechenden Einlieferungsbeleg konnte ich lediglich nachweisen irgendetwas an das Jobcenter versandt zu haben, jedoch nicht, dass dies ein Widerspruch gegen einen bestimmten Bescheid war. Diesen Umstand machte sich das Jobcenter offenbar zunutze, behaupten zu können meinen Widerspruch nie erhalten zu haben.

Nach rund fünf Monaten der Untätigkeit des Jobcenters Neukölln wandte ich mich an den DGB-Rechtsschutz um eine Untätigkeitsklage zu erheben, worauf das Jobcenter wie oben dargelegt zunächst behauptete nie einen Widerspruch, der einer Klage fristgerecht voran gehen muss, von mir erhalten zu haben. Zur Klageerhebung lag meinem Anwalt immerhin eine Kopie meines damaligen Widerspruches vor. Ferner forderte mein Anwalt das Jobcenter Neukölln anhand meines Einlieferungsbeleges auf darzulegen, welches Schreiben es zu diesem Zeitpunkt von mir erhalten hatte. Das konnte bzw. wollte das Jobcenter erwartungsgemäß nicht nachweisen, wodurch es aber immerhin in die Defensive gedrängt wurde. Der Dreistigkeiten jedoch immer noch nicht genug behauptete das Jobcenter in einem Schreiben an meinen Anwalt, welches dieser mir als Kopie zusandte, mich angeschrieben zu haben, mit der Bitte um die Zustellung einer Kopie meines Widerspruchs, worauf ich jedoch nicht reagiert hätte. Jedenfalls habe ich nie ein derartiges Schreiben zu Gesicht bekommen. Inzwischen musste ich erneut einen Antrag für das ALG II stellen, da der erste Bewilligungszeitraum bald abgelaufen war. Wieder war der folgende Bewilligungsbescheid im o. g. Sinne falsch und wieder legte ich Widerspruch ein, der Bezug auf meinen ersten nahm. Dieses Mal ging ich jedoch direkt mit dem Widerspruch zum Jobcenter und ließ mir den Eingang auf einer Kopie von diesem bestätigen, was wieder einmal ein eineinhalbstündiges Stehen in der Warteschlange kostete. Letztendlich musste das Jobcenter nachgeben und nahm Abstand von der Praxis, eine Energiepauschale von den Unterkunfts- und Heizkosten abzuziehen, womit die Klage abgewendet wurde. Ferner musste das Jobcenter die bis dahin abgezogenen Beträge erstatten. Von meinem ersten Widerspruch bis zum Einlenken des Jobcenters verging so fast ein Jahr.

Noch kurz bevor ich zuletzt genannten Widerspruch einlegte stellte ich einen Antrag auf Bewerbungskostenerstattung und gab diesen gegen eine Empfangsbestätigung mit den Kopien von meinen Bewerbungen direkt beim Jobcenter ab, mit der entsprechenden Warte- und Stehzeit versteht sich. Ich hatte also eine Eingangsbestätigung für o. g. Antrag, jedoch keine unmittelbare für die betreffenden Bewerbungskopien, die ich mit samt dem Antrag abgab. Prompt wurde mein Antrag mit der Begründung abgelehnt: „Die von Ihnen beantragten Bewerbungskosten wurden nicht durch Nachweise (Kopien von den Bewerbungen, d. V.) belegt. Sie sind somit ihrer Mitwirkungspflicht nach § 60 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch – Erstes Buch – (SGB I) nicht nachgekommen.“ Also nicht genug damit, dass man hier anscheinend Dokumente unterschlagen hatte, mit der entsprechenden Schädigung für den Antragsteller, man versuchte perfider Weise zusätzlich dem Antragsteller einen Strick aus seiner vermeintlich versäumten „Mitwirkung“ zu drehen. Im Übrigen: gesetzt den Fall ich hätte bei der Antragsabgabe im Jobcenter keine Kopien von den Bewerbungen abgegeben, hätte man mich darauf hinweisen müssen, um die Chance zu erhalten, die Bewerbungsnachweise nachreichen zu können und so in meinem ureigensten Interesse auf die Erstattung der Bewerbungskosten hinwirken zu können.

Gelinde gesagt ist diese Vorgehensweise der Jobcenter geeignet das Vertrauen in diesen Staat und seine Institutionen auf die nachhaltigste Weise restlos zu zerstören und man muss sich einmal vorstellen was das vor allem bei sehr jungen erwerbslosen und perspektivlosen Menschen anrichten kann, von denen man heute aber dafür umso mehr Aufrichtigkeit, Arbeitsamkeit und Mitwirkung einfordert. Wenn man so linkisch, mit so viel krimineller Energie, mit Psychoterror gegen die Menschen vorgeht, sie bis zur Weißglut reizt und quält, darf man sich nicht wundern auf diese Weise verstärkt Kriminelle heranzuzüchten oder wenn dann mal i. w. Sinne verbal und tätlich zurück getreten wird, so, dass es richtig weh tut und manchmal sogar tödlich endet. Schlechte Vorbilder erzeugen zumeist ebenso schlechte Nachahmer. So erstach im September 2012 ein 52 jähriger sog. Kunde eine Mitarbeiterin des Jobcenters in Neuss. Am 19. Mai 2011 wurde in einem Jobcenter in Frankfurt/Main eine Kundin von der Polizei erschossen, nachdem sie die gerufenen Beamten mit einem Messer bedroht haben soll. Hintergrund dieser Tragödie war eine Beschwerde der Kundin über nicht überwiesenes Arbeitslosengeld und ihre Bitte um eine Bargeldauszahlung, die ihr offensichtlich abschlägig beschieden wurde. Möglicherweise sind solche Fälle, von denen man früher nie etwas hörte und die unter den damals vergleichsweise weit humaneren Bedingungen des Arbeitsamtes wahrscheinlich nie, oder zumindest viel seltener vorkamen, heute nur die Spitze eines Eisberges. Denn der Autor selbst wurde Zeuge eines nicht unspektakulären Selbstmordes (zum gnädigen Glück nicht unmittelbar während seines Vollzugs) im Zusammenhang mit dem Jobcenter bzw. einer sog. Aktivierungsmaßnahme, der bemerkenswerter Weise nirgendwo in den Medien einen Widerhall fand und auf den ich im Folgenden noch einmal zurückkommen werde. Es scheint so, als scheue man in solchen Fällen von verantwortlicher Seite die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und verhängt möglicherweise sogar Nachrichtensperren, soweit dies die Situation erlaubt, sprich: solange die Öffentlichkeit bzw. Medien von einem Vorfall noch keinen Wind bekommen haben.

Was bringt einen Menschen dazu sich selbst oder anderen im Affekt tödliche Gewalt anzutun? Da muss i. d. R. schon Einiges zusammenkommen, viel Wut, viel Frust, viel Demütigung, da muss viel kochen; das passiert nicht einfach aus irgendeiner Laune heraus, sowenig man den Betreffenden grundsätzlich immer gern psychische Labilität unterstellen sollte, damit bloß nicht grundsätzlich etwas in Frage gestellt werden muss. Angesichts der z. T. recht derben Provokationen bis hin zu Beleidigungen, denen die sog. Kunden sehr häufig ausgesetzt sind, klingen die Verlautbarungen aus dem Dunstkreis der Agentur für Arbeit nach o. g. Gewaltvorgängen, man wolle die Mitarbeiter nun verstärkt in Deeskalationsstrategien schulen, wie der blanke Hohn, wie eine erneute Provokation. Die beste Prävention gegen Gewalt, ob verbaler oder tätlicher Art, wäre mit den Menschen anständig umzugehen und ihnen das Gefühl zu geben ihnen wirklich helfen zu wollen und nicht ihnen Fallen zu stellen, sie von oben herab zu behandeln. Davon sind wir jedoch Lichtjahre entfernt, wie sich auch im Folgenden noch zeigen wird. Selbst mit Abitur, einem Hochschulabschluss und einem soliden Selbstbewusstsein ist die oft herabwürdigende Art vieler Mitarbeiter in den Jobcentern, die sich des enormen Machtgefälles zu ihren Gunsten bewusst sind, manchmal kaum zu ertragen, auch wenn man weiß, dass diese häufig nur Schafe sind, die den propagierten Mainstream unhinterfragt nachblöken und nun endlich auch mal den Wolf spielen dürfen. Manche Menschen handeln vielleicht gewalttätig, weil sie schlicht am Ende sind, weil sie angesichts des Zynismus, der Kälte, der Verlogenheit und der nicht selten himmelschreienden Ungerechtigkeit, die ihnen in den Jobcentern entgegen schlägt, geradezu von Fassungslosigkeit geschüttelt werden, weil sich in diesen quälenden, demütigenden Momenten ihr Atem durch die würgende Ohnmacht so beschleunigt, dass sie von der Urangst vor dem Ersticken gepeinigt werden, womit sie von Sinnen nur noch blindlings um sich schlagen können, weil ihnen der Fluchtweg versperrt wurde, denn sie haben verfügbar zu sein. Dann hat man den Menschen schon sehr viel bis alles genommen, ihre Würde, ihre Freiheit und ihre Existenz bedroht, auch die geistige.

Wir alle machen mal Fehler und es können immer mal Dinge und Dokumente verloren gehen, aber nicht in dieser ausufernden, alltäglichen Häufigkeit und Menge, wie dies in den Jobcentern der Fall ist, das widerspricht jeglicher statistisch zu erwartenden Häufigkeit (s. nächstes Kap.). So versuchte man mir in den folgenden Jahren bei etwa jedem zweiten bis dritten ähnlichen Vorgang und Antrag zu unterstellen, ich hätte es versäumt entsprechende Unterlagen beizubringen, womit ich dann wiederum angeblich nicht meinen Mitwirkungspflichten nachgekommen wäre. Erfahrungen, die ebenso regelmäßig von anderen und bundesweit gemacht werden. Z. B. schätzungsweise etwa jede zweite bis dritte Krankschreibung, die nicht direkt am Schalter gegen eine Eingangsbestätigung abgegeben wird, verschwindet irgendwo im Universum, was ebenso von Ärzten bestätigt wird, die dann wiederholt eine Bescheinigung ausstellen müssen. Aufgrund meiner Erfahrungen war ich später jedoch immer auf solche Fälle vorbereitet und hatte entsprechende Nachweise in der Hinterhand, so auch im zuletzt geschilderten Fall. Ich hatte noch weitere Kopien von meinen Bewerbungen und ging damit noch einmal zum Jobcenter. Zu meinem großen Glück wurde ich zu dem Sachbearbeiter, der meinen Antrag auf Bewerbungskostenerstattung ablehnte vorgelassen, nachdem ich dem zugänglichen Empfangsmitarbeiter die Sachlage schilderte. Diese Praxis ist aber völlig unüblich und dürfte, wenn überhaupt, nur noch sehr selten vorkommen. Entsprechend verdattert war der Sachbearbeiter, ein junger Mann, als ich zu ihm hinein trat und ihn zur Rede stellte. Ich gab ihm zu verstehen, dass ich auch eine Anzeige wegen Unterschlagung in Erwägung ziehen würde, was offenbar Eindruck machte, händigte ihm die Kopien aus und verlangte eine schriftliche Bestätigung für den Erhalt der Bewerbungen, wobei sich herausstellte, dass der junge Mann erhebliche Probleme im Umgang mit seinem Computer hatte und mich hinaus bitten wollte um unbeobachtet die Bestätigung schreiben zu können. Zunächst wollte mir der junge Mann nur eine handgeschriebene Bestätigung geben, was ich jedoch aus verständlichen Gründen ablehnte. Einige Tage später hatte ich den entsprechenden Bewilligungsbescheid im Briefkasten. Anzumerken ist an dieser Stelle allerdings, dass solche Unterschlagungen i. d. R. nur sehr schwer wenn überhaupt nachzuweisen sind, wodurch sie wohl auch umso häufiger auftreten.

So weit so gut und doch so schlecht, wenn man sich vergegenwärtigt mit welch einem nervenaufreibenden Aufwand man hier permanent um jeden Zentimeter Boden, um sein Recht kämpfen muss. Zu manchen Zeiten, und für manche sog. Kunden gar über längere Zeiträume hinweg, gerät das häufig zu einem Vollzeitjob, sich nur mit der Verwaltung des Jobcenters, mit einer vielköpfigen Hydra herum schlagen zu müssen, abgesehen von den Sorgengetriebenen und schlaflosen Nächten, die einen mürbe machen. Viele Menschen sind nicht so wehrhaft, nicht so kundig, wissen sich oft nicht zu helfen oder merken sehr häufig nicht einmal, dass ihnen Rechte vorenthalten werden, was bei der absichtlich kompliziert gehaltenen Amtssprache in Anträgen und Bescheiden nicht verwunderlich ist, oder aber sie lassen sich einschüchtern und wagen es nicht ihre Rechte wahrzunehmen. Und dann sind da noch die, die man so mürbe gemacht hat, denen der letzte Rest an Mut und Lebensfreude abhanden gekommen ist, weshalb sie sich kraftlos geworden nur noch treiben lassen können. Insofern muss durchaus von einer sehr hohen Dunkelziffer unrichtiger und z. T. regelrecht absurder Bescheide und Entscheidungen der Jobcenter zulasten der zu betreuenden ausgegangen werden (s. u.).

Im Folgenden sollen in Kürze noch einige weitere Beispiele die fragwürdige Praxis der Jobcenter illustrieren. Am 19.12.2006 unterzeichnete ich einen Arbeitsvertrag. Am 21.12.06, dem nächstmöglichen Termin, meldete ich mich vom Jobcenter ab bzw. hinterließ dort eine Kopie meines Arbeitsvertrages und eine ausgefüllte Veränderungsmitteilung. Damit hatte ich nun wirklich alles Menschenmögliche getan, meiner Mitwirkungspflicht nachzukommen. Von sämtlichen Dokumenten hatte ich Kopien und Belege ihres Eingangs. Mit Schreiben vom 18.01.2007 forderte das Jobcenter zu meiner Verwunderung erneut eine Kopie meines Arbeitsvertrages an, die ich umgehend mit dem Hinweis zusandte, bereits am 21.12.06 eine Kopie von meinem Arbeitsvertrag im Jobcenter abgegeben zu haben. Nur wenig später, mit Schreiben vom 26.01.07 erhielt ich ein Schreiben vom Jobcenter worin bemerkt wurde, ich hätte in meiner Beschäftigung ALG II bezogen, das überzahlt worden wäre, weil ich seit meiner Arbeitsaufnahme nicht mehr bedürftig war. Dies gipfelte in folgendem Satz: „Nach den mir vorliegenden Unterlagen haben Sie in grob fahrlässiger Weise die Überzahlung verursacht, da Sie eine für den Leistungsanspruch erhebliche Änderung in Ihren Verhältnissen verspätet angezeigt haben.“ Bis dahin hatte ich noch nicht bemerken können, dass das ALG II weiter gezahlt wurde, da mir die entsprechenden Kontoauszüge noch nicht vorlagen. Ferner wurde zudem grotesker Weise ein Überzahlungszeitraum in der Zukunft, im Februar moniert, obwohl das Jobcenter inzwischen über die Überzahlung im Bilde war. Ich wurde aufgefordert umgehend über ein sonderbares sog. Anhörungsformular, das mir bedauerlicherweise nicht mehr vorliegt, Stellung zu nehmen, dessen eigenartige und z. T. wahrhaftig geistlose Fragen ich kaum beantworten konnte und wollte. Ansonsten verwies ich mit beigefügten Kopien auf meine o. g. Eingangsbestätigungen, womit dieses furchtbare Theater endlich sein Ende fand.

Das war jedoch längst nicht der letzte Fall dieser Art, den ich erleben musste. Das Ganze ist schon ärgerlich genug. Schlimm ist aber vor allem, dass auch solche leider alltäglichen Fälle gern als Leistungsmissbrauch mitgezählt und in der Öffentlichkeit angeprangert werden. Womöglich sollen sogar so erst „Leistungsmissbräuche“ kreiert bzw. fingiert werden.

Ein anderer späterer Fall. Wieder standen eine Beschäftigung und eine Abmeldung aus dem Leistungsbezug an. Nach entsprechend langem Anstehen bei der Anmeldung im Jobcenter wurde mir am Schalter gesagt, ich müsse jede einzelne Seite meines Arbeitsvertrages als Kopie abgeben, die Kopien, die ich davon gemacht habe würden nicht ausreichen (obwohl sie in dieser Form bis dahin ausreichten), die müsse ich dann noch nachreichen. Die Kopien, die ich zunächst vorweisen konnte, gaben Auskunft über Beginn, Ende und Art der Beschäftigung, alle erforderlichen Informationen die das Jobcenter zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigte. Die übrigen Seiten des Arbeitsvertrages behandelten lediglich betriebsinterne und arbeitsrechtliche Angelegenheiten, die völlig irrelevant waren, zumal es sich um eine vom Jobcenter selbst eingeleitete Arbeitsgelegenheit handelte. Auf meine Frage weshalb das Jobcenter nicht einfach die restlichen Kopien machen könne antworte man mir schlicht, das Jobcenter würde für diese Zwecke keine Kopien mehr machen. So wurde ich genötigt mich mit den angeforderten Kopien einen Tag später noch einmal anzustellen um eine Eingangsbestätigung für diese zu erhalten, was ich der unwillig und selbstgefällig erscheinenden Sachbearbeiterin am Schalter, die bemerkte: „Hier geht nie etwas verloren“, erst noch lang und breit auseinandersetzen musste.

Ein Jahr später, nach dem Ende dieser befristeten Beschäftigung, reihte ich mich wieder in die Warteschlange beim Jobcenter ein um das Ende der Beschäftigung mit den entsprechenden Kopien bekannt zu geben und ALG II zu beantragen. Auf meine vorsorgliche Frage, ob das Jobcenter noch einmal eine vollständige Kopie von meinem Arbeitsvertrag haben möchte, die ich nun komplett dabei hatte, antwortete der Sachbearbeiter am Schalter mit Blick in seinen PC das wäre bereits alles vorhanden und damit nicht mehr notwendig. Eigentlich durfte auch ich davon ausgehen, dass diese Unterlagen, um die es ja den o. g. Wirbel gab, im Jobcenter vorhanden sein müssen; aber man kann ja bei dieser schrägen Institution nie genau wissen woran man mit ihr ist, sagte ich mir nach allen Erfahrungen. Auf der anderen Seite erschien mir mein Verhalten doch etwas übervorsichtig und musste selbst ein wenig darüber schmunzeln. Unter „normalen“ Bedingungen wäre dieses Verhalten vielleicht tatsächlich ein wenig zu belächeln, aber nur wenige Tage später wusste ich wie sehr Misstrauen gegenüber dem Jobcenter gerechtfertigt ist. Unfassbar aber leider wahr erhielt ich vom Jobcenter eine „Aufforderung zur Mitwirkung für den Bezug von Leistungen zur Sicherung der Lebensunterhalts“ worin wiederum Kopien meines Arbeitsvertrages angefordert wurden, die spätestens in zwei Wochen an einer bestimmten Stelle eingereicht werden sollten. Und weiter: „Haben Sie bis zum genannten Termin nicht reagiert oder die erforderlichen Unterlagen nicht eingereicht, können die Geldleistungen ganz versagt werden, bis Sie die Mitwirkung nachholen (§§ 69, 66, 67 SGB I). Dies bedeutet, dass Sie keine Leistungen erhalten.“

Sollte Sie solch eine Aufforderung zur „Mitwirkung“ aus irgendeinem Grunde nicht oder zu spät erreichen, sei es wegen eines Urlaubes außerhalb des Wohnortes, sofern Sie noch in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, sei es wegen eines Bewerbungsgespräches andernorts oder wegen eines Krankenhausaufenthaltes o. ä. können die Folgen verheerend sein. U. a. besteht dann keine Krankenversicherung, erhalten Sie kein ALG usw.

Was ist das, grenzenlose Schlamperei oder Schikane? Würde ein Betrieb in der freien Wirtschaft so „arbeiten“, würde er wirklich so viele „Fehler“ machen und Missgeschicke verursachen, was eigentlich schier unvorstellbar ist, wäre er von heute zu morgen mit Sicherheit weg vom Fenster, wie man so sagt. Offenbar kann man sich nicht auf Zusagen des Jobcenters verlassen, sondern allenfalls auf seine stete Unzuverlässigkeit. Jobcenter sind ein Synonym für Probleme. Daher wäre eigentlich ein Name wie „Agentur für Probleme“ oder „Agentur zur Schaffung von Problemen“ neben „Agentur zur Förderung prekärer Beschäftigung und Altersarmut“ wohl die punktgenaueste Umschreibung für diese Behörde. Geht man einer Vollzeitbeschäftigung oder einer geringfügigen Beschäftigung nach, von der man allein nicht leben kann und ist man deshalb auf Transferleistungen angewiesen, so sind ständige Querelen u. a. bei der Verrechnung des Einkommens vorprogrammiert, es sei denn, man lässt das Jobcenter schalten und walten wie es ihm beliebt bzw. sich betrügen, was allerdings viele mit sich machen lassen, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht.

Tatsächlich kommt es infolge der i. d. Tat verbreiteten Inkompetenz aber auch mal vor, dass sich das Jobcenter zugunsten seiner sog. Kunden irrt, wenngleich mir dies nur ein einziges Mal in all den Jahren widerfuhr, neben einer kaum überschaubaren Fülle von fehler(?)haften Bescheiden und Entscheidungen, die zu meinen Lasten gingen. In jenem Fall beantragte ich die Übernahme einer Mieterhöhung, wobei die Miete vom Jobcenter versehentlich um rund 25 Euro höher berechnet wurde als sie tatsächlich war. Dies meldete ich umgehend dem Jobcenter. Dabei ist jedoch davon auszugehen, dass solche Überzahlungen früher oder später ohnehin bekannt werden, womit dies dann vor allem im letzteren Fall ein gefundenes Fressen für das Jobcenter wäre, entsprechende Sanktionen verhängen zu können, bis hin zur Stellung von Strafanzeigen. Denn offensichtlicher und vorsätzlicher Sozialbetrug kann ziemlich teuer zu stehen kommen. So erscheint es nach allem nicht mehr so völlig abwegig hinter solchen eventuellen Fehlern eine Fallenstellung für möglich zu halten. Der Spruch kommt schließlich nicht von ungefähr: Wer einmal lügt dem glaubt man nicht mehr.

Meine Gutmütigkeit und in vieler Augen Dummheit wurde nicht etwa mit einem Dankeschön anerkannt, was ich ohnehin nicht wirklich erwartete, sondern damit, dass man unrechtmäßigerweise umgehend einfach die Zahlung meines gesamten Arbeitslosengeldes einstellte bzw. um über zwei Wochen verzögerte, wohl um eine Überzahlung zu unterbinden und sich schadlos zu halten, worüber ich aber zunächst nicht in Kenntnis gesetzt wurde und wodurch mein Konto erheblich überzogen wurde und mir dementsprechende Überziehungszinsen in Rechnung gestellt wurden. Rechtens wäre es gewesen, eventuell erfolgte Überzahlungen von mir formal zurück zu fordern oder eventuell mit späteren Zahlungen zu verrechnen, mein Einverständnis vorausgesetzt. Offenkundig nahm man mit der Zahlungseinstellung billigend in Kauf, dass ich möglicherweise nicht meinen Zahlungsverpflichtungen (Miete usw.) nachkommen kann, eventuell auch nichts zu essen habe und Überziehungszinsen zahlen muss. Auf meine folgende Beschwerde und Forderung nach Erstattung der Überziehungszinsen wurde überhaupt nicht mehr reagiert. Ich muss gestehen danach entnervt aufgegeben und die Sache auch angesichts des letztendlich relativ begrenzten Schadens nicht weiter verfolgt zu haben, womit ich mich mit Sicherheit in eine ziemlich lange Reihe anderer sog. Kunden einreihte, denen ähnliches widerfuhr. Anscheinend wird von den Jobcentern und verantwortlichen aber genau darauf spekuliert, dass die Menschen müde werden und diese unzähligen und alltäglichen Nadelstiche widerstandslos über sich ergehen lassen.

Zuletzt möchte ich noch auf einen Fall, der an Absurdität wohl kaum noch zu überbieten ist, eingehen, der unter einer Rubrik: „Das glaubt einem ja kein Mensch“ laufen könnte. Dieser Fall betraf eine Frau, i. Ü. eine Akademikerin, die trotz Vollzeitbeschäftigung als Taxifahrerin auf aufstockende Transferleistungen angewiesen ist. Wie hinlänglich bekannt, steht auch das Jobcenter unter dem obersten Gebot des Sparens, was sich u. a. darin äußert, dass man ALG-II-Beziehende zu Umzügen in kleinere und billigere Wohnung zwingt. Besagte Taxifahrerin wollte nun aus eigenem Antrieb von einer größeren und teureren Wohnung in eine kleinere und preiswertere ziehen, auch um einer zu erwartenden Aufforderung des Jobcenters zum Umzug in eine kleinere Wohnung zuvorzukommen. Die bisherige Wohnung der Frau war mit über 62 qm deutlich größer als der Richtwert von 45 qm, den man allein stehenden ALG-II-Beziehenden als Wohnraum zugesteht, wenngleich ihre Miethöhe noch – vor einer anstehenden Luxusmodernisierung – unter dem gebilligten Höchstsatz lag. Trotz dieser Tatsachen und des Hinweises der Frau, in ihrem Antrag auf Umzugserlaubnis, eine finanzielle Hilfe für den Umzug nicht in Anspruch nehmen zu wollen, wurde ihr Antrag mit folgendem abgebildeten Bescheid abgewiesen. Da fragt man sich, ob die Sachbearbeiter im Jobcenter den Antrag der Frau überhaupt gelesen, geschweige denn geprüft haben. Und man fragt sich unwillkürlich was diese Sachbearbeiter wohl umtreiben mag, ob sie vom Teufel geritten werden. Geht die Anti-Kunden-Haltung schon so weit, dass da automatisiert gegen sog. Kunden entschieden wird, ohne auch nur im Mindesten nachzudenken, geschweige denn nur annähernd von Gewissenhaftigkeit reden zu können, haben wir es hier mit programmierten, dummen Kampfrobotern zu tun?

Abbildung A: Ablehnungsbescheid vom 20. August 2012


Anscheinend folgt dieses skrupellose, „automatisierte“ Verhalten dem unbedingten Erfüllen sollen von vorgegebenen Sanktionsquoten. Allein die Existenz von solchen Sanktionsquoten, die einer breiten Öffentlichkeit u. a. allerspätestens seit den Berichten der ehemaligen Arbeitsvermittlerin, Inge Hannemann, die in einem Hamburger Jobcenter arbeitete, bekannt sein dürfte, ist an sich schon ein ungeheuerlicher Skandal. Denn soll solch eine Quote erfüllt werden nimmt man zumindest sehenden Auges in Kauf auch Kunden zu sanktionieren bzw. zu schädigen, die sich nichts zu Schulden kommen lassen haben. Das ist großes menschenverachtendes Unrecht, das umso schwerer wiegt, wird es von staatlichen Institutionen ausgeübt, noch dazu in einem Land in dem permanent Menschenrechte und Freiheit gebetsmühlenartig als das Höchste in den Himmel gejubelt werden. Offenbar geht es hier weniger um die mehr oder weniger berechtigte Verfolgung von tatsächlichen Verfehlungen der sog. Kunden, sondern vielmehr um die Erfüllung niederer politischer Vorgaben, u. a. um weitere Einsparungen und vor allem aber darum, der Öffentlichkeit vorgaukeln zu können ein erhöhter Missbrauch von Sozialleistungen läge vor um ein noch härteres Vorgehen gegen die Menschen rechtfertigen zu können. Zu all dem wird hier sehr viel kreative Energie in die Konstruktion von vermeintlichen Verfehlungen der Kunden und von Fallen und Fallstricken verschwendet, die doch eigentlich der Unterstützung der Kunden zukommen sollte. Letztendlich jedoch wiegen hier die Interessen weniger aber sehr einflussreicher Akteure (der Global Player) mehr als die der sog. Kunden und der übrigen Gesellschaft, worauf in den folgenden Kapiteln näher eingegangen wird.

Der große Reformbetrug

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