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„Leben“ unter den Hartz-Gesetzen – „Offener Strafvollzug“ oder lebendig begraben

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„Und was ist denn Hartz IV? Hartz IV ist offener Strafvollzug. Es ist die Beraubung von Freiheitsrechten. Hartz IV quält die Menschen, zerstört ihre Kreativität. Es ist ein Skandal, dass eine rot-grüne Regierung dieses destruktive Element in die Gesellschaft gebracht hat.“

Prof. Götz W. Werner, Vorsitzender der dm-Geschäftsführung und Leiter des „Interfakultative Institut für Entrepeneurship“ der Universität Karlsruhe in: Ein Grund für die Zukunft: das Grundeinkommen, Verlag Freies Geistesleben Stuttgart 2006, S. 37

Offener Strafvollzug, das ist exakt die Umschreibung, welche dem Autor bereits einige Zeit bevor er die vorstehenden Zeilen zum ersten Mal las, einfiel bzw. sich ihm aufdrängte um das Leben unter dem Joch der Hartz-Gesetze begrifflich fassen zu können. Bei nüchterner und vor allem aber unvoreingenommener und gewissenhafter Betrachtung kommt man offenbar nicht umhin dieses Dasein so oder so ähnlich – lebendig begraben – umschreiben zu müssen. Dennoch wird diese Umschreibung selbst von einigen in meinem Bekannten- und Freundeskreis mit einer gewissen Ungläubigkeit als zu drastisch empfunden, weil sie sich die entsprechende Lebenssituation einfach nicht vorstellen können, in einer vermeintlichen gerechten Demokratie, in der doch die Menschenrechte bei jeder Gelegenheit gelobhudelt werden, die aber tatsächlich immer mehr zu einer Lobbyisten-Demokratie verkommt. Dabei handelt es sich zumeist um Menschen meiner Generation – Geburtenjahrgänge 50er und 60er Jahre – die noch in einem Wohlfahrtsstaat (Westdeutschland bzw. Westberlin) aufwuchsen, von dem sie es gewohnt waren, dass er sich mehr um Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit bemühte als das heute der Fall ist, und die bis heute zumeist in Lohn und Brot geblieben sind. Der über weite Strecken schleichende, seit über dreißig Jahren andauernde Abbau dieses Wohlfahrtsstaates (vgl. Kap. 2.2.2), rückt daher so manchem nur ebenso schleichend ins Bewusstsein. Und der Autor selbst fragt sich zuweilen, wie er die Dinge heute wohl sehen würde, hätte er einst seine Arbeit behalten und weiter Karriere machen können. Offenbar führt in vielen Fällen nur eigenes Erleben zu anderen Einsichten bzw. zur Schärfung der Wahrnehmung. Aber selbst dann erscheinen sogar dem Autor noch viele der tief greifenden Veränderungen (z. B. auch in der Staatlichen Rentenversicherung, vgl. Kap. 5.4ff) als wahrhaft unglaublich, angesichts der gehörigen Portionen an Kaltschnäuzigkeit, Menschenverachtung und Gleichgültigkeit oder auch nur an blanker Dummheit die dahinter stehen müssen. Also ist es von daher nicht so sehr verwunderlich wenn breite Bevölkerungsschichten, die weniger prekären Lebensbedingungen ausgeliefert sind bzw. diesen noch nicht ausgeliefert sind und zudem einer recht subtilen und ausgefeilten Propaganda ausgesetzt sind, Probleme mit o. g. harscher Kritik haben können. Die über viele Generationen gewachsene und verfestigte Autoritätshörigkeit vieler Deutscher, welche nicht gerade Hinterfragungen und Aufbegehren fördern, trägt mit Sicherheit seinen Teil, wenn nicht den ausschlaggebenden dazu bei (vgl. Kap. 2.4.1). Jedoch zeigt das eingangs angeführte Zitat von Prof. Werner, einem erfolgreichen Unternehmer, dass es wohl nicht unbedingt der eigenen Erfahrung braucht um das Wesen bestimmter Dinge klar erfassen zu können.

„Leben“ unter den Hartz-Gesetzen, das ist alles andere als ein freies, selbstbestimmtes Leben im eigentlichen und besten Sinn, weshalb dieser Begriff hier in Anführungszeichen geschrieben wurde, sondern es gleicht infolge seiner allumfassenden Be- und Einschränkungen (offener Strafvollzug) i. d. R. eher einem Dahinvegetieren und im schlimmsten Fall – wurde ein Mensch bis zu seiner seelischen Erschöpfung vollends gebrochen – einem Dahinsiechen. Die willkürliche Bevormundung, Überwachung und Erpressbarkeit der Menschen unter dem Joch der Hartz-Gesetze führt zu Unsicherheit und Angst, macht das Dasein für diese Menschen nicht mehr, oder nur noch sehr eingeschränkt plan- und steuerbar; es ist ein Dasein unter ständiger, mehr oder weniger latenter (An)Spannung in einer permanenten Krise, die man als „Alarmstufe Gelb“ bezeichnen könnte. Bezeichnend für diesen Zustand mag die Angst von ALG II-Beziehenden vor dem unberechenbaren, permanent drohenden Unheil aus dem Briefkasten stehen, dem sie sich jeden Tag aufs Neue, oft mit flauem Gefühl im Magen und erhöhter Herzfrequenz, nähern müssen; vielleicht ein wenig vergleichbar mit der Anspannung von Gazellen und Gnus in der Savanne, die in großer Dürre aus einem Wasserloch trinken müssen, in dem möglicherweise bereits die Krokodile lauern. Irgendwelche Pläne, die Sie geschmiedet haben, berufliche Veränderungen, Weiterbildung, Wohnung, Selbständigkeit etc. können von einem Tag auf den anderen durch einen einzigen Federstrich zunichte gemacht werden, und das potenziell jeden Tag, denn Sie haben verfügbar zu sein und wenn es für den größten Unsinn (in Ihrem und der Gesellschaft Sinne) ist, worüber Sie jedoch nicht mehr zu befinden haben. Jeden Tag kann ein Schreiben vom Jobcenter im Briefkasten sein, das Sie dazu auffordert in den nächsten Tagen zu einem Termin im Jobcenter zu erscheinen oder zum dritten oder vierten Mal irgendein Dokument beizubringen, weil Sie es angeblich bisher nicht abgegeben haben und Sie Ihrer sog. Mitwirkungspflicht nachkommen sollen usw. So ist es auch gefährlich (Kürzungen des ALG), sich ohne Erlaubnis vom Wohnort zu entfernen, womit faktisch Ihre Bewegungs- bzw. Reisefreiheit eingeschränkt wird.

Kummer, Frust und Sorgen über ungelöste oder unlösbare Konflikte, über verpasste Gelegenheiten im Gespräch mit Angestellten im Jobcenter, über die linkische und herabwürdigende Behandlung von diesen Mitarbeitern, über die eigene Ohnmacht, über ständige Enttäuschungen und Perspektivlosigkeit lassen einen nicht zur Ruhe kommen, nicht einschlafen, zu früh aufwachen und dann nicht mehr einschlafen, ständig im Stand-by-Modus, ständig unter Strom bzw. auf Alarmstufe Gelb. Dass hier die „Fieberkurve“ bei akuter existenzieller Bedrohung (Kürzung oder gar kompletter Wegfall des ALG, drohende Wohnungslosigkeit, nicht zahlen können von Eigenanteilen für eine dringende medizinische Versorgung etc.) noch um einiges nach oben gehen kann (Alarmstufe Rot), ist sicher nachvollziehbar. Entgegen der z. T. noch verbreiteten Annahme, ALG II-Beziehende seien wie früher Arbeitslosenhilfeempfänger von der Zuzahlung zu medizinischen Leistungen befreit, müssen diese wie alle anderen Zuzahlungen bis zu zwei Prozent ihres Jahreseinkommens leisten bzw. ein Prozent bei chronischen Erkrankungen, die jedoch immer restriktiver anerkannt werden.

Ein Dasein unter den Hartz-Gesetzen kann sehr häufig ein ziemlich freu(n)dloses und trostloses Dasein sein. Hier kommt dem Geld als limitierenden Faktor eine sehr zentrale Bedeutung zu, und dies umso mehr je weiter unsere Gesellschaft durch ökonomisiert wird. Was für andere i. d. R. eine Selbstverständlichkeit ist, über die sie nicht nachdenken müssen, wie z. B. sich unbeschränkt von A nach B befördern lassen zu können, ist für viele ALG II-Beziehende in Ermangelung von Fahrgeld für ein öffentliches Verkehrsmittel schon lange nicht mehr selbstverständlich. Allerdings beschränken sich diese Probleme nicht nur auf diesen Personenkreis, sondern sie erfassen eine wachsende Zahl von prekär Beschäftigten, Rentnern, Jugendlichen, Sozialhilfeempfängern und Kranken, worauf in den folgenden Kapiteln noch näher eingegangen wird. Bereits hier werden nicht selten viele Aktivitäten, wie der Besuch von Freunden und Verwandten, der Ausflug ins Grüne oder zu irgendwelchen Veranstaltungen im Keim erstickt – sie sind nicht mehr erreichbar. Der Besuch irgendeines Volkshochschulkurses, eines Tanzkurses oder das Entrichten eines Mitgliedsbeitrages für einen Sportverein gerät zum unerfüllbaren Luxus. Zwar sind z. B. in Berlin die Kursgebühren für Volkshochschulkurse deutlich für Bedürftige ermäßigt, jedoch sind die Kursgebühren in den letzten Jahrzehnten so drastisch angehoben worden, wie für viele andere öffentliche Dienstleistungen, wie z. B. für die Benutzung von Schwimmbädern (Politik des schlanken Staates, s. u.), dass die genannten Ermäßigungen diese Kursgebührerhöhungen längst nicht mehr ausgleichen. Und wenn das Geld ohnehin weder vorne noch hinten reicht bleibt eben auch kein einziger Euro für o. g. Ausgaben übrig. Früher erwarb der Autor regelmäßig eine ganze Reihe von Zeitschriften und Nachrichtenmagazinen. Dies, wie der regelmäßige und ganzwöchentliche Erwerb einer seriösen Tageszeitung, ist unerschwinglich geworden. Das Internet bietet dafür nur bedingt einen Ersatz, den es aber ebenfalls nicht umsonst gibt, zumal nun immer häufiger Nutzungsgebühren ins Gespräch kommen.

Abgesehen von der Wohnungsmiete müssen von einem monatlichen Regelsatz im SGB II von 382 Euro (2013) für einen Erwachsenen alle anderen Bedarfe abgedeckt werden. Legt man für einen durchschnittlichen Monat 30,5 Tage zugrunde, hat man also durchschnittlich rund 12,52 Euro pro Tag zur Verfügung, von denen wie gesagt das ganze Leben bestritten werden muss. Anschaffungen wie Waschmaschinen, PC, Möbel, Kleidung usw., die früher von der Sozialhilfe separat und voll erstattet wurden, müssen heute allein von den 382 Euro ALG II finanziert werden. Dieses Geld reicht also gerade zu einem nackten Dasein („Existenzsicherung“) bzw. zu einem langsamen, allmählichen Absterben, einem Dahinsiechen, nicht aber für o. g. „Luxus“, es sei vielleicht denn, man verlegt sich auf das enthaltsame und geistige Leben eines Mönches, wozu man sich jedoch ernsthaft berufen fühlen sollte. Besagter Regelsatz setzt sich aus verschiedenen Bedarfskategorien zusammen. So sind z. B. für die Mobilität, also den Bedarf „Verkehr“ 6,3 Prozent des Regelsatzes vorgesehen, was 24,07 Euro entspricht. Z. B. eine ermäßigte, sog. Sozialmonatskarte, mit der man sich ausschließlich im Berliner Stadtgebiet bewegen kann, ohne Beförderung eines Fahrrades, die extra bezahlt werden muss, kostet aber Anfang 2013 bereits allein 36 Euro. Für den Bedarf „Wohnen, Energie, Wohninstandhaltung“ werden 31,94 Euro veranschlagt. Der allein wohnende Autor zahlt allein für Strom monatliche Abschläge von 35 Euro bei einem Jahresstromverbrauch von 1.177 kWh (2012). Der durchschnittliche Jahresstromverbrauch eines 1-Personenhaushaltes betrug im Jahr 2012 nach Angaben des Versorgers Vattenfall Europe Sales GmbH 2.050 kWh. Für den Bedarf „Bildung“, die doch immer wieder als so überaus relevant hervorgehoben wird (Zitat v. Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Wir müssen es schaffen, dass lebenslanges Lernen wirklich Alltag wird“) werden im Regelsatz 0,38 Prozent (!) ausgewiesen, was stolzen 1,46 Euro entspricht. Das, was hier über die Regelsatzbedarfe hinaus ausgegeben wird, muss also woanders eingespart, oder irgendwie anders beschafft werden, fragt sich nur wie.

Mit Freunden, die mal ins Kino und danach ein Bier trinken gehen wollen, die mal essen gehen wollen oder die verreisen wollen kann man nicht mehr mithalten und nach und nach wird man abgehängt. Dann kommen von diesen Freunden und Bekannten häufig noch gut(?) gemeinte Ratschläge – mach doch was anderes (beruflich). Nur was, das wissen sie zumeist nicht – die aber häufig aus Unkenntnis nicht praxistauglich sind oder einfach nur so dahingesagte und von jeder Herzenswärme und Gewissenhaftigkeit verlassene „Ratschläge“ aus einer Laune heraus, womit sich dann allmählich die Spreu vom Weizen trennt, also nur noch wenige oder gar keine Freunde mehr übrig bleiben, die diesen Namen verdienen. Und so kann es kommen, dass man da am einsamsten ist, wo man am dringendsten eine/n Freund/in bräuchte. Unangenehm, peinlich bis demütigend können Einladungen von Freunden und Bekannten u. a. zu Geburtstagen werden, weil man kein Geld für Geschenke hat, wenngleich man doch so gern etwas verschenken möchte. Aus Scham meiden die Betroffenen dann nicht selten solche Einladungen, womit soziale Beziehungen Risse bekommen und sich allmählich auflösen können. Und erst recht tut es besonders dann weh, kann man seinen eigenen Kindern nichts, oder nicht das schenken was sie sich wünschen, was aber für andere, besser situierte Menschen überhaupt kein sichtbares Problem ist, mit dem sie sich beschäftigen müssen. So „frohe“ (Konsum)Feste wie Weihnachten können sich dann schon mal zu einem wahren Alptraum auswachsen, dem man mit Grausen entgegenblickt.

Vor ähnlichen Problemen stehen verschieden- und gleichgeschlechtliche Partnerschaften, wobei Männer, die ökonomisch nichts mehr zu bieten haben, scheinbar noch betroffener sind. Es scheint so, dass in diesen wirtschaftlich schlechten Zeiten viele Frauen ihr Augenmerk wieder mehr auf besser situierte Männer ausrichten, als das in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten der Fall war. So erscheinen Männer, die keine Familie ernähren können als unattraktiver. Aber auch die Tatsache, dass nach den Hartz-Gesetzen der/die unverheirateten Lebenspartner/in in Notsituationen (Arbeitslosigkeit) füreinander einstehen sollen, führt zu Trennungen und häufig auch dazu, dass Partnerschaften mit ALG II-Beziehenden erst gar nicht mehr eingegangen werden. Übrigens mögen auch diese Umstände, neben den häufigen wirtschaftlichen und beruflichen Problemen gerade junger Menschen, ihren Teil zu der geringen Geburtenrate in unserem Lande beitragen, werden doch die demographischen Veränderungen so gern zur Rechtfertigung für weitere einschneidende „Reformen“ genommen (vgl. Kap. 3.1). So ist ab und an zu vernehmen, dass man sich lieber nicht mit Arbeitslosen einlassen möchte, denn da gäbe es nur Probleme und man könne dann auch nichts unternehmen, sich nichts leisten und nicht in den Urlaub fahren, einmal von der allgemeinen Ächtung Arbeitsloser abgesehen, die sie bald in den Rang von Aussätzigen überführt. Hat man als Erwerbslose/r in seinem sozialen Umfeld doch eine/n Partner/in gefunden, kann es zu einer Zerreisprobe werden, muss man doch der Forderung folgen, sich Deutschlandweit zu bewerben und ggf. woanders hinzuziehen. Auch darauf sind unzählige Trennungen zurückzuführen.

Ein zentrales Problem, das bewältigt werden will ist, feststellen bzw. akzeptieren zu müssen, dass einem u. a. infolge zu geringer Berufserfahrung oder/und weil man zu lange aus dem Erwerbsleben raus ist und man bereits als zu alt für den Arbeitsmarkt gehalten wird, die Felle davon schwimmen, dass beim besten Willen nichts mehr geht, dass es unter den gegebenen Umständen eigentlich nur noch abwärts geht bzw. gehen kann. Gerade schwer vermittelbaren älteren Erwerbslosen werden dann zumeist prekäre Arbeitsverhältnisse inklusive sog. Arbeitsgelegenheiten des zweiten Arbeitsmarktes (vgl. Kap. 5.2.1) aufgezwungen, die zudem nicht die Lebenssituation Älterer berücksichtigen und mit denen es erst recht nicht mehr möglich ist für eine auskömmliche Altersvorsorge aufzukommen, weder über die staatliche Rentenversicherung noch privat (vgl. Kap. 5.4ff). Ferner nagt der Eindruck, scheinbar nicht mehr gebraucht zu werden, bei sehr vielen Erwerbslosen nachhaltig an ihrem Selbstbewusstsein. Und so kommt eins zum anderen, womit die Stimmung der Betroffenen nicht gerade gehoben wird, was ebenso von der Umwelt wahrgenommen wird, die sich nicht so gern mit schlecht gelaunten, frustrierten oder gar depressiven Menschen abgeben möchte – ein Teufelskreis. Es gehört sicher nicht viel Phantasie dazu, sich vorstellen zu können, dass in solch einem Schattendasein das lichthungrige Wesen der Kreativität Gefahr läuft zu verkümmern, ebenso wie alle anderen Lebenskräfte. Und ist man dann endgültig auf den Hund gekommen, so kann man sich noch nicht einmal mehr den halten, womit dann nur noch in die „Röhre zu gucken“ übrig bleibt. Denn wenn ein Hund oder eine Katze zum Arzt müssen kann es richtig teuer werden.

Ein süßes Schmarotzerleben, wie es propagandistisch und scheinheilig viele Politiker bzw. gewissenlose Brandstifter Erwerblosen unterstellen, sieht dann wohl doch „etwas“ anders aus. So mancher provokant angeblich so glückliche Arbeitslose, der da so gern von bestimmten, nicht nur privaten TV-Sendern und Boulevardblättern präsentiert bzw. kolportiert wird, erweist sich dann bei genauerem Hinschauen doch nur als ein Fake, eine fingierte Phantasiefigur, mit der man die Menschen aufzuwiegeln versucht.

Die Wissenschaftler Daniel Oesch und Oliver Lipps, von der Universität Lausanne, sind mit einer Untersuchung der Befindlichkeit von Arbeitslosen auf den Grund gegangen (vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftswissenschaften DIW Berlin (2011): „Does unemployment hurt more if there is less of it around?“). Die Ergebnisse dieser Untersuchung beruhen auf der Auswertung des deutschen Sozio-ökonomischen-Panels (SOEP) aus den Jahren 1984 bis 2009 und dem schweizer Haushalts-Panel (SHP) der Jahre 2000 bis 2009. Die Wissenschaftler konnten die häufig vertretene, wie ideologisch verbrämte These widerlegen, nach der bei Arbeitslosen ein Gewöhnungseffekt (sog. Hysterese-Effekt) an ihre Arbeitslosigkeit eintreten würde. Nach dieser These wird behauptet, dass der Leidensdruck durch die Arbeitslosigkeit mit zunehmender Dauer oder bei häufigen Verlusten der Arbeitsstelle abnehmen würde. Demnach würden sich Arbeitslose an ihre Situation gewöhnen, sich scheinbar bequem im Sozialleistungsbezug einrichten und nicht mehr nach Arbeit suchen.

Nach der o. g. Untersuchung von Oesch und Lipps mindern jedoch weder Dauer noch Häufigkeit der Arbeitslosigkeit den Leidensdruck der Arbeitslosen. Vielmehr verschlechtere sich das Wohlbefinden, je länger die Arbeitslosigkeit andauere. Langzeitarbeitslose hätten danach eine deutlich geringere Lebenszufriedenheit als Kurzzeitarbeitslose und Personen mit einer länger als ein Jahr andauernden Arbeitslosigkeit wiesen die geringste Lebenszufriedenheit auf. Darüber hinaus mache es keinen Unterschied, ob die Arbeitslosen in einer Region mit hoher oder niedriger Arbeitslosigkeit leben würden oder ob sie in einer wirtschaftlichen Rezessions- oder Aufschwungphase arbeitslos wären. Arbeitslosigkeit belaste also nicht weniger, wenn viele Menschen davon betroffen sind. Von einem komfortablen Einrichten oder einer gewollten Arbeitslosigkeit könne also nicht gesprochen werden, so die Wissenschaftler. So gelangen die Forscher aus Lausanne zu dem Schluss, dass Kürzungen von Arbeitslosengeld und Hartz IV-Leistungen kaum in Arbeit bringen würden, sie würden „ein schwieriges Leben nur elender“ machen. Den sog. Hysterese-Effekt erklären die Forscher daher nicht mit einer sinkenden Arbeitsbereitschaft der (Langzeit-)Arbeitslosen. An Stelle dessen seien ein verringertes Selbstbewusstsein und die länger zurück liegende Erfahrung mit Arbeit in Verbindung mit Vorbehalten von Arbeitgebern Hintergrund für Probleme bei der Suche nach einer Stelle. Daher solle sich eine sinnvolle Arbeitsmarktpolitik weniger auf Sanktionen und mehr auf eine Erhöhung der Arbeitskräftenachfrage und effektive Qualifizierung und Unterstützung von (Langzeit-)Arbeitslosen bei der Arbeitssuche konzentrieren.

Der große Reformbetrug

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