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2 Warum diese Reformen

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Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst

Immanuel Kant (kategorischer Imperativ)

Die jüngsten, Arbeitsmarktreformen oder sog. Hartz-Reformen, die gemeinhin unter der Bezeichnung „Hartz-IV“ – „Viertes Gesetz über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ – einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden, sind nur einige neben anderen, wie z. B. den sog. Gesundheits- oder Rentenreformen, welche im Rahmen der sog. Agenda 2010 in den letzten Jahren auf den Weg gebracht wurden. Die Regelungen dieser Arbeitsmarktreform gliedern sich indessen in die Gesetze Hartz-I bis Hartz-IV, welche zwischen 2003 und 2005 in Kraft traten. Die Hartz-Reformen bzw. ihre entsprechenden Gesetze wurden nach dem Namen des damaligen VW-Personalvorstandsmitglieds Dr. Peter Hartz benannt, der federführend in der Kommission – auch Hartz-Kommission – zur Erarbeitung dieser Gesetze tätig war und mittlerweile wegen Korruption rechtskräftig verurteilt wurde.

Nach ihrem Begriff und eigentlichem Sinn sollen Reformen die bestehenden Verhältnisse verbessern. Es ist hierbei nur die Frage ob und für wen sie etwas Positives bzw. Vorteile bewirken oder die Situation gar verschlimmern, ob sie in den gesamtgesellschaftlichen Kontext eingebettet sind, d. h. ob alle Betroffenen – und das ist bei einer Arbeitsmarktreform letztendlich die gesamte Gesellschaft – von ihnen profitieren.

Mit der Umsetzung der Reformen der Agenda 2010 erfolgte ein weiterer, wesentlicher Schritt zur Demontage des modernen Wohlfahrtsstaates, so wie er einst mit der bismarckschen Sozialgesetzgebung im Deutschland des 19. Jahrhunderts seinen Anfang nahm. So kommt auch in den Hartz-Reformen eine deutliche Abkehr von der bisherigen Arbeits- und Sozialpolitik zum Ausdruck. Die einst starke Stellung der Sozialversicherungen und der Lohnbezogenen Leistungen wurde durch diese Reformen stark abgeschwächt. Die meisten Erwerbslosen beziehen heute nur noch eine pauschale Grundsicherung, deren Höhe sich an einem willkürlich festgelegten, sog. Existenzminimum orientiert. Weiterhin hat sich u. a. bei der Arbeitslosenversicherung der Anteil der Steuerfinanzierung gegenüber dem der Beitragsfinanzierung deutlich erhöht, was wiederum ein Kennzeichen einer anderen Politik ist, welche Gewinne zunehmend der Privatisierung zuführt und Verluste vornehmlich sozialisiert, d. h. überwiegend dem „kleinen“ Steuerzahler aufbürdet. Infolge dessen verringerten sich z. B. die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent auf 2,8 Prozent (2009), (vgl. Steffen 2011: 34). Ferner wurde der Einfluss der Sozialpartner in der Selbstverwaltung, der Gremien der Arbeitsverwaltung, stark eingeschränkt. Die Zugehörigkeit der Sozialpartner zum Vorstand wurde durch die Einrichtung eines hauptamtlichen Vorstandes abgeschafft. Des Weiteren musste sich die Selbstverwaltung aus dem operativen Geschäft zurückziehen, womit ihr Einfluss auf den Vorstand erheblich geschmälert wurde.

Am 16.08.2002 verkündete Peter Hartz anlässlich einer Feierstunde zur Übergabe seiner Reformvorschläge an die rot-grüne Bundesregierung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder: „Ziel ist es, die Zahl der Arbeitslosen in drei Jahren um zwei Millionen zu reduzieren.“ Dieses Ziel wurde zunächst nicht erreicht, trotz „kreativer Buchführung“ und dem Verbergen der Arbeitslosen hinter teuren, vom Steuerzahler finanzierten, sog. „zusätzlichen“ Arbeitsgelegenheiten und anderen Maßnahmen (vgl. Kap. 5.2.1). Die Hartz-Reformen waren ins Schussfeld geraten, und das nicht nur durch Proteste von Arbeitslosen, Gewerkschaften und Sozialverbänden. Unter dem Titel: „Die total verrückte Reform“, schrieb das Nachrichtenmagazin der DER SPIEGEL vom 23.05.2005: „Die bittere Wahrheit ist: Weder die angestrebte Beschleunigung der Arbeitsvermittlung, noch die gewünschte Kostenersparnis wurden erreicht. Im Gegenteil: Die Hartz-Reform geriet zum Milliardengrab. Verschwendung, Ineffizienz und Bürokratie scheinen die hehren Ziele erstickt zu haben“. Wobei hier zu fragen ist, ob diese Ziele wirklich so hehr waren. Kommentare und Berichte, wie der eben angeführte, über explodierende Kosten und Ineffizienz, waren in den Medien nach Einführung der Hartz-Reformen an der Tagesordnung und ließen sich beliebig weiter anführen.

Es ist nicht etwa so, dass die angeblichen Mehrkosten der Reformen den Hilfebedürftigen in Form höherer Leistungen zur Bestreitung des Lebensunterhalts oder etwa in Form von mehr und besseren Weiterbildungsmöglichkeiten zugute kommt, nein, ganz im Gegenteil. Zumindest Ersteres würde den ideologischen Kernmotiven der Reformen sehr zuwider laufen. Die meisten Arbeitslosenhilfebezieher – vor Einführung der Hartz-Reformen bezogen Langzeitarbeitslose die sog. Arbeitslosenhilfe, deren Höhe sich am vorangegangenen Arbeitslosengeld bzw. am früheren Arbeitseinkommen orientierte – mussten infolge der Reformen z. gr. T. erhebliche Einkommenseinbußen hinnehmen. Wenn Erwerbslose, die heute dem Rechtskreis des SGB II unterliegen, eine Weiterbildung oder Umschulung absolvieren – die Gelegenheiten dazu sind heute jedoch für diese erheblich eingeschränkt geworden – erhalten sie nur noch das Arbeitslosengeld-II. Arbeitslosenhilfeempfänger erhielten dagegen bei Teilname an solcherart Kursen Leistungen in Höhe des voran gegangenen Arbeitslosengeldes I, welches i. d. R. erheblich höher war als das heutige Arbeitslosengeld-II.

In der Tat ist es nun aber so, dass etliche Milliarden Euro u. a. zur Verschleierung der Arbeitslosigkeit – nach Sprachregelung der Reformer würde man das häufig als „Qualifizierungen“ o. ä. bezeichnen – genutzt werden (u. a. mit sog. Arbeitsgelegenheiten, wie z. B. sog. Ein-Euro-Jobs, deren Teilnehmer nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik auftauchen), zur Aufstockungen von unzureichenden Niedriglöhnen, für Zahlungen an sog. Beschäftigungsgesellschaften (auch „Träger“ genannt) und Betrieben vergeudet werden und letztendlich der horrenden Ineffizienz der Behörde geschuldet sind. So stiegen z. B. die Ausgaben für die Aufstockung von Niedriglöhnen alleine zwischen 2007 und 2010 von 9,6 auf 11,4 Milliarden Euro jährlich, womit ihr Anteil an den gesamten Ausgaben für den Rechtskreis SGB II (Hartz-IV) von 26 auf 31 Prozent anstieg. Das sind Kosten die normalerweise von Unternehmen zu tragen wären, indem sie anständige, zu allermindest aber zum Leben ausreichende Löhne zu zahlen hätten. Ferner machte man einige handwerkliche Fehler bei der Entwicklung des Reformwerks. So erweiterte sich der Kreis der Bedürftigen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld-II, was die Kosten in durchaus voraussehbarer Weise beeinflusste. Die Sozialhilfe lag zuvor in Händen der Gemeinden, und diese hatten ein Interesse daran, kurz vor den Reformen möglichst viele Sozialhilfeempfänger als erwerbsfähig zu deklarieren um sie los zu werden. Diese bekamen dann Arbeitslosengeld II, was aber größtenteils vom Bund finanziert wird. Weiterhin kamen nun zunächst viele Jugendliche in den Genuss von Sozialleistungen, die sie vor den Reformen nicht bekommen hätten, sofern ihre Eltern über genügend Einkommen verfügten. Hinzu kam eine erhöhte Arbeitslosigkeit. Zum ganzen Bild gehört aber auch, dass durch die Reformen die Zahl der Sozialhilfeempfänger drastisch gesunken ist und damit ebenso die Kosten in der Sozialhilfe. Zudem kann nicht von einer Kostenexplosion in der Arbeitsvermittlung die Rede sein. Das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe BIAJ führte eine Hochrechnung der Kosten für das Jahr 2005 durch und verglich dabei das alte System (Arbeitslosenhilfe u. Sozialhilfe) mit dem neuen (Arbeitslosengeld II u. Sozialgeld), zu gleichen Bedingungen. Danach hätten für das alte System 43,2 Milliarden Euro, und für das neue 42,2 Milliarden Euro, also sogar eine Milliarde Euro weniger, aufgewendet werden müssen (vgl. BIAJ, Soziale Sicherheit 11/2005: 361ff). Tatsächlich betrugen die Kosten im Jahr 2005 einschließlich Transfer-, Eingliederungsleistungen und Verwaltungskosten 44,4 Milliarden Euro. Zum Vergleich hatte das Bundesministerium für Arbeit BMAS die Ausgaben für dasselbe Jahr errechnet, die bei Beibehaltung des alten Systems angefallen wären. Danach wären 43,5 Milliarden Euro angefallen, also lediglich 0,9 Milliarden Euro weniger als unter dem neuen System (vgl. Expertise im Auftrag des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche im Rheinland zur Unhaltbarkeit der These von der Kostenexplosion im SGB II und zum tatsächlichen Finanzspielraum für notwendige Hilfeleistungen, von Dr. Michael Seligmann, 2006: 5ff). Man sieht also, dass die verschiedenen Berechnungen nicht bedeutend auseinander liegen und die Kosten trotz erheblich gestiegener Arbeitslosigkeit in 2005 weitgehend gleich blieben, was nichts anderes bedeutet, als dass irgendwo erhebliche Mittel gekürzt worden sein müssen. Dem unerwartet höheren Bedarf in der Arbeitsvermittlung lag vor allem eine falsche Einschätzung der wirtschaftlichen Lage durch die Bundesregierung zugrunde; man rechnete mit einem Aufschwung, der da kommen sollte und der sich so nachhaltig auswirken sollte wie lange keiner mehr vor ihm. Diese Situation, die Fehleinschätzung der Lage und die damit verbundenen höheren Kosten mag z. T. einen wesentlich Impuls gegeben haben, einen Sündenbock zu suchen und die Mehrkosten einem angeblich vermehrten Missbrauch der Transferleistungen zu zuschreiben.

Allem scheinheiligen Gezeter über eine angebliche Kostenexplosion zum Trotz verhält es sich aber nun so, dass seit Einführung der Hartz-Gesetze, also mit dem Entstehen der Bundesagentur für Arbeit, diese in jedem Jahr Überschüsse „erwirtschaftet“, also Geld anhäuft, dass den Versicherten bzw. Bedürftigen entzogen wird, was eigentlich einen eindeutigen Bruch mit dem im Grundgesetz verankerten Sozialstaatsprinzip darstellt. Z. B. werden für das Jahr 2006 10 Milliarden an Überschüssen angegeben (vgl. Seligmann, 2006: 8). Zu Recht wird von den Betroffenen, den Beitragszahlern und den Bedürftigen, die Erstattung der Beiträge bzw. die Erbringung der Integrationsleistungen in den Arbeitsmarkt von den Bedürftigen eingefordert. Diese sog. Überschüsse werden vor allem durch Kürzungen bei Weiterbildungsmaßnahmen für Arbeitslosengeld-II-Empfänger im SGB (Sozialgesetzbuch) II (synonym für Hartz-IV) und durch die drastisch verkürzte Zahlung des Arbeitslosengeldes I im SGB III erzielt. Auch hier offenbart sich die Zeitenwende: nicht mehr die Menschen, die Gesellschaft als Ganzes, die zu betreuen wären bzw. ihr Fortkommen, ihr Wohl stehen nun im Vordergrund, sondern allein die Wettbewerbsfähigkeit, der Profit zu Gunsten weniger.

Glücklose Kernelemente der Hartz-Reformen, wie die sog. Ich-AGs oder die Personal-Service-Agenturen (PSA) landeten mittlerweile auf der Müllhalde der Geschichte. In einer Meldung des Handelsblatt vom 26.12.2005, unter der Überschrift „Die Hartz-Reformen verpuffen“, wurde berichtet, dass sich die durchschnittliche Verweildauer in Arbeitslosigkeit, bei der Vermittlung durch private PSA, gegenüber der herkömmlichen, durch die Agentur für Arbeit, um fast einen Monat verlängert hätte. Ferner hätten dem Bericht zufolge die monatlichen Kosten weit über den sonst üblichen gelegen. Demnach kostete jeder Arbeitslose, der von einer PSA betreut wurde, 5700 Euro mehr.

Zu den Motiven der Hartz-Reformen äußerte sich u. a. der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel in einem Interview mit der Tagesschau vom 02.07.2004 folgendermaßen: „Das vorrangige Ziel ist vor allem, Sozialausgaben einzusparen. Wir haben die hohe Arbeitslosigkeit, wir haben hohe Kosten durch die Arbeitslosigkeit. Das vorrangige Ziel ist einfach einzusparen. Der Wirtschaftsminister (damals Wolfgang Clement (SPD), d. V.) hat ja selber gesagt, dass die wichtigste Herausforderung für Arbeitsplätze Wirtschaftswachstum ist. Aber von den Hartz-Gesetzen – das wissen wir sicher – gehen keine Wachstumsimpulse aus, eher sogar eine Belastung. (…) Wir haben Berechnungen, dass die Arbeitsmarktreformen am Ende sogar ca. 100.000 Arbeitsplätze kosten können“. Das ist eine bemerkenswerte Aussage, auch wenn hier längst nicht alle wesentlichen Ziele der Reform angesprochen wurden, über die man wohl lieber nicht so gern in aller Offenheit sprechen möchte (vgl. Kap. 5.2ff).

Es ist in der Tat zu fragen, ob überhaupt eine Arbeitsmarktreform notwendig und sinnvoll war, um dem Problem der Arbeitslosigkeit Herr zu werden, oder stattdessen die Konzentration auf eine andere Wirtschafts-, Finanz- und Strukturpolitik erforderlich gewesen wäre, welche Arbeitsplätze u. a. durch Kaufkrafterhöhung und Wachstum schafft bzw. erhält. Wobei, am Rande bemerkt, Wirtschaftswachstum nicht mit ökologischer Belastung gleichzusetzen ist, es kommt vielmehr darauf an was wächst, ob das Volumen umweltfreundlicher Produkte und Dienstleistungen wächst oder aber das, die Umwelt belastender.

Eine Arbeitsmarktreform kann per se keine Arbeitsplätze schaffen, sie ist also kein Ersatz für eine entsprechende Wirtschafts-, Konjunktur- und Strukturpolitik. Hieraus ergibt sich schon vom Ansatz her ein erster Hinweis darauf worum es den Reformern in Wirklichkeit ging, welcher Geist dahinter stand und steht. Es ging ihnen offenbar weniger darum die Arbeitslosigkeit an sich zu bekämpfen, sondern stattdessen die Arbeitslosen selbst (und damit übrigens auch die Arbeitnehmer!), um es vielleicht etwas zugespitzt aber im Wesentlichen zutreffend zu formulieren. U. a. die Hartz-Reformen sind gelinde gesagt das Ergebnis einer Umdeutung, eines Paradigmenwechsels: Die in Arbeitslosigkeit geratenen werden nunmehr weniger als Betroffene und Geschädigte einer wirtschaftlichen, strukturellen und gesellschaftlichen Fehlentwicklung angesehen und dargestellt, sondern dem Tenor nach tendenziell selbst für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht (sog. „Eigenverantwortung“!), womöglich als faul, unflexibel oder unfähig hingestellt. Beredtes Indiz dafür ist u. a. die Abkehr von einer aktiven Arbeitsmarktpolitik hin zu einer sog. aktivierenden, wie man das so „schön“ im fachlichen Jargon verhüllt, von der Alltagssprache in abgehobener und unverfänglicher Manier ausgedrückt sehen möchte. Anstatt die Erwerbslosen in solider und seriöser Weise bei der Arbeitsuche zu unterstützen ist man nunmehr dazu übergegangen sie fast ausschließlich zu „aktivieren“, was nichts anderes als die vorrangige Anwendung von Zwangsmaßnahmen und Druck von Seiten der Agentur für Arbeit auf Erwerbslose und Arbeitnehmer bedeutet (vgl. Kap 5.2 u. 5.2.1). Man hat den Spieß also einfach umgedreht, man unterstellt den Menschen offiziell generell eine grundsätzliche Arbeitsunwilligkeit um die Anwendung von Zwangsmaßnahmen zu rechtfertigen, worin die „Höhere Kunst“ eines Zynismus und einer Menschenverachtung zum Ausdruck kommt, welche mehr und mehr die Funktion einer Chiffre für die gegenwärtige Zeit übernimmt. Ebenso hat man offenbar insgeheim das Ziel der Vollbeschäftigung aufgegeben, entgegen allerdings nur noch bemerkenswert einsamen und wohl kaum ehrlich gemeinten, offiziellen Führsprachen für diese (vgl. u. a. ehem. Bundesarbeitsminister Olaf Scholz im Berliner „DER TAGESSPIEGEL“ v. 18.04.08).

Offenbar hat sich etwas getan, weht nun ein anderer Wind, ein neuer Geist treibt nun sein Unwesen; wobei dieser Geist eigentlich gar nicht so neu ist, wie noch gezeigt werden wird (vgl. u. a. Kap. 2.4). Diese Geisteshaltung beruht auf einem anderen Fundament, braucht andere Rechtfertigungen, eine Propaganda und ebenso ein anderes Instrumentarium, also wie im vorliegenden Fall u. a. eine sog. Arbeitsmarktreform, welche den Hebel ausschließlich bei den Erwerbslosen und Arbeitnehmern ansetzt und nur hier Druck ausübt. Bei letzteren vor allem mit der Absicht ihnen umso mehr Angst vor Erwerbslosigkeit einzuflößen zu können und sie damit entsprechend gefügiger zu machen.

Reformen sind nicht erst in den letzten Jahren in Mode gekommen, wie vielleicht manch jüngerer Zeitgenosse glauben könnte. Das Zeitalter der neoliberalen Reformen brach in Deutschland im Wesentlichen mit dem Antritt der konservativ-(wirtschafts)liberalen Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl, im Jahr 1982, an. Auch damals schon sprach man von der Wende, welche u. a. mit dem sattsam bekannten Ausspruch des wohlbeleibten Helmut Kohl, den der Autor noch heute im Geist hört: „Wir müssen unseren Gürtel enger schnallen“, eingeleitet wurde. Sich selbst und seinesgleichen hatte Herr Kohl wohl nicht damit gemeint. Etwa seit Mitte der achtziger Jahre, also nur kurze Zeit nach den ersten Reformbestrebungen, ging und geht der Lebensstandard in der Bundesrepublik Deutschland stetig zurück, stieg die Arbeitslosigkeit kontinuierlich an und geht es immer größeren Teilen der Bevölkerung, einschließlich dem Mittelstand, immer schlechter. Das liegt auch daran, dass unsere Gesellschaft seit dem stetig weiter aus dem Gleichgewicht gerät, sich die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet. In der Wissenschaft würde man hier von einem sich selbst verstärkenden Prozess („Positive Rückkopplung“) sprechen. Z. B. würde sich ein Schiff mit Schlagseite bei Wassereinbruch infolge der Eigendynamik des Prozesses immer weiter und schneller (exponentiell) zur selben Seite neigen, bis es kentert. Auf unsere gesellschaftlichen Verhältnisse übertragen heißt dies: Die Reichen werden Kraft ihres Reichtums und Einflusses immer reicher und einflussreicher bzw. gewichtiger, während die Potenzen und Möglichkeiten der Armen und weniger wohlhabenden im gleichen Maße schwinden, wenn nicht von außen korrigiert wird. Da sind wir bei dem berühmt berüchtigten Teufelskreis. Der folgende Spruch, der einem ehernen Naturgesetz folgt, kommt nicht von ungefähr: Wer viel hat dem wird gegeben und wer wenig hat dem wird noch genommen.

In der Tat hatte sich mit Beginn der achtziger Jahre eine Wende vollzogen, welche in eine Richtung führte, die bis heute nicht korrigiert wurde. Von einer sog. nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik bzw. (Um)Verteilungspolitik, zugunsten des Allgemeinwohls (vgl. 2.2.1.), ist man zu einer angebotsorientierten übergegangen, was nicht ohne negative Folgen für die Allgemeinheit blieb und bleiben wird. So schreibt Demirovic, A. (2007: 25): „Es gibt einen bürgerlichen Konsens, der in den vergangenen dreißig Jahren nachhaltig entwickelt wurde, dass das staatliche Programm der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse für alle Bürger und Bürgerinnen nicht weiter verfolgt werden soll. Es war eine der ersten Amtshandlungen des neoliberalen Bundespräsidenten Horst Köhler, dies noch einmal zu bekräftigen.“ Seit nunmehr rund dreißig Jahren wird dieselbe Wir-müssen-den-Gürtel-enger-schnallen-Propaganda betrieben, nach dem Muster: Entlastet die sog. „Leistungsträger“ und belastet den kleinen Mann auf der Straße, letzteren mit der Mahnung an seine sog. „Eigenverantwortung“, damit es uns bald besser gehen würde und wir im globalen Wettbewerb bestehen können. Wobei zu fragen ist, wie es da eigentlich mit der Eigenverantwortung der sog. Leitungsträger steht und wer tatsächlich die Arbeitsleistungen und Entbehrungen in dieser Gesellschaft erbringt und was, und vor allem wem diese Tortouren bisher etwas gebracht haben. Wie oben angeführt, hat sich die Situation des Gros der Bevölkerung seither nicht verbessert, es muss seit rund dreißig Jahren den Gürtel stetig enger schnallen, abgesehen von den sog. „oberen Zehntausend“, denen es damit immer prächtiger geht – zumindest vorläufig (vgl. Kap. 4). Wofür also und für wen? In diesem Zeitraum wuchs kontinuierlich die Belastung der Einkommen aus unselbständiger Arbeit u. a. durch Sozialabgaben, Zuzahlungen zur Gesundheits-, Wasser- und Stromversorgung usw., während Einkommen aus Vermögen und selbständiger Tätigkeit mehr und mehr davon entlastet wurden. Z. gr. T. exorbitant gestiegenen Einkommen aus selbständiger Tätigkeit – was allerdings nicht im gleichen Maße den Mittelstand und noch weniger Kleinunternehmen betrifft – und Vermögen stehen gesunkene Reallöhne gegenüber. Zudem wurden jedoch die Verbrauchssteuern (Mehrwert- bzw. Umsatzsteuer) immer weiter angehoben, worunter wiederum besonders einkommensschwache Bevölkerungsgruppen zu leiden haben, während Vermögende und große Betriebe kräftig und stetig von Steuern entlastet wurden (vgl. Kap. 4.4ff). Bei all dem wurden die Leistungen des Wohlfahrtsstaates (der kollektive Konsum, die Transferzahlungen) kontinuierlich beschnitten, obwohl die Anteile und Belastungen der Einkommen aus unselbständiger Arbeit zu seiner Finanzierung ganz erheblich gegenüber denen aus selbständiger Arbeit wuchsen. Dazu schreibt Demirovic, A. (2007: 25): „Als ein wesentliches Mittel der Herrschaft erwies sich Sparen, indem die Staatsausgaben und die Staatsquote (Anteil der staatlichen und staatlich bedingten wirtschaftlichen Aktivität an der wirtschaftlichen Gesamtleistung einer Volkswirtschaft, d. V.) verringert, sowie die Steuerlast auf die Lohnabhängigen umverteilt werden. Die Folge entspricht dem gewünschten Ziel, dass die staatlichen Aufgabenbereiche verkleinert werden. Dies verbindet sich mit der Privatisierung eines Teils der staatlichen Dienstleistungsangebote, die eine neue Sphäre der Kapitalverwertung erschließt.“

Die mageren Wachstumsraten der deutschen Wirtschaft, in den vergangenen dreißig Jahren, sind nichts anderes als eine unmittelbare Folge dieser Entwicklung, einer mehr und mehr lahmenden Binnenwirtschaft (vgl. Kap. 4ff). Der allgemeine Niedergang von einst glanzvollen und prosperierenden Einkaufsstraßen und der Einzug von Billig- und Ramschläden, wie sog. Ein-Euro-Läden u. ä., gibt beredt Auskunft über diese verheerende Entwicklung. Wiederum infolge dessen bluten Bund, Länder und Kommunen immer weiter aus, müssen sich immer tiefer verschulden und fallen damit als wichtige Arbeitgeber und Auftraggeber bzw. Konsumenten für die Wirtschaft immer weiter aus (schlanker Staat, sinkende Staatsquote!), was den Weg in die Abwärtsspirale nur noch beschleunigt. Letztendlich ist es der Verzicht auf eine Verteilungspolitik die Arbeitslosigkeit erzeugt, und es ist damit eine Abkehr vom früher politisch gewollten Vollbeschäftigungsziel (vgl. 2.2.1).

Der nun herrschende, neoliberale Geist idealisiert das freie Spiel der Kräfte des Marktes, den Wettbewerb, er will der Wirtschaft weitgehend freie Hand zu ihrer vermeintlich besseren Entfaltung geben, womit jegliche Regulierungen, Beaufsichtigungen und gemeinnützige Verbindlichkeiten als störend und hemmend hingestellt werden. Wir leben nun also in einer Zeit der Deregulierung und Privatisierung, was sich u. a. in der verminderten Regulierung der Kapitalströme, dem Abbau von Arbeitnehmerschutzrechten, der Aufweichung von Umweltschutzauflagen, der Beschneidung des Einflusses von Gewerkschaften, der Privatisierung von öffentlichem Eigentum und nicht zuletzt aber in einer neuen Regulierung des Arbeitsrechts zu ungunsten der Arbeitnehmer äußert. Der neoliberale Ökonom Friedrich Hayek drückte dies einmal so aus: „Die erfolgreiche Anwendung des Wettbewerbs als des Ordnungsprinzips der Gesellschaft ist mit einigen Arten von Zwangseingriffen in das Wirtschaftsleben unvereinbar; es lässt aber andere zu, die seine Wirkung kräftig unterstützen können, ja, es macht sogar bestimmte Arten von staatlichen Aktivitäten notwendig.“ (vgl. Hayek 1944/71: 59). In unsere Tage, unter der Agenda 2010, übertragen bedeutet dies nichts anderes als, dass die Freiheit der einen die Unfreiheit der anderen benötigt.

Neben den anderen Reformen der Agenda 2010 sind ebenso die Hartz-Reformen vor diesem Hintergrund zu betrachten, sie erwuchsen einem gemeinsamen Ursprung, sind auf einen bestimmten (Zeit)Geist, eine bestimmte Ideologie zurück zu führen, sind mithin weniger das Ergebnis einer neutralen und nüchternen Überlegung und zielen offenbar weniger auf die gewissenhafte Lösung bestimmter Probleme im Sinne des Gemeinwohls, also der gesamten Gesellschaft ab, als es ihre Schöpfer glauben machen wollen. Bei näherer Betrachtung erkennt man in diesen Reformen die Handschrift knallharter egoistischer Interessen, von Lobbyisten, welchen es allein um ihren Vorteil geht, denen das Gemeinwohl bzw. seine Funktionsfähigkeit offenbar gleichgültig bis verhasst ist oder zumindest als zweitrangig erscheint, so etwa nach dem Motto: Nach mir die Sintflut. Diese Gesinnung des Egoismus, der Rücksichtslosigkeit und des Geizes geht letzten Endes über Leichen, sie schürt Kraft ihrer Macht Angst und Unsicherheit, die sie zum Vorteil weniger nutzt. Im August 2005 lobte das britische Wirtschaftsmagazin The Economist die Reformbemühungen der deutschen Bundesregierung, u. a. die Hartz-Gesetzgebung, denn diese Gesetze haben „bewirkt, dass viele Beschäftigte die Folgen eines Arbeitsplatzverlustes stärker fürchten. Dies hat die Position der Firmen bei neuen Lohnverhandlungen gestärkt und die Macht der Gewerkschaften geschwächt“ (vgl. Müller, A. 2007: 145). Offenbar finden es der Economist und die Bundesregierung gut, wenn die Menschen Angst vor Arbeitslosigkeit haben. Was ist das anderes als menschenverachtend und was hat das noch mit Zivilisiertheit zu tun, einmal davon abgesehen, dass dadurch krank werdende Menschen nicht mehr leistungsfähig sind, Geld kosten und ein schlechtes Arbeitsklima entsteht, Stichwort Mobbing?

Unterdessen ist es geradezu bestürzend, mit ansehen zu müssen wie sich ausgerechnet eine rot-grüne Bundesregierung, welche sich angeblich eher als links, den humanistischen Idealen und dem Gemeinwohl zugeneigt zeigt, für solch destruktive, menschenverachtende Elemente, wie die o. g. Arbeitsmarktreformen und andere ungerechte Reformen hat einspannen lassen, ja für diese aktiv gefochten hat. Mit trauriger Berühmtheit wird dies wohl einst in die Annalen Eingang finden, als ein Beispiel für die Schwäche und Manipulierbarkeit des Menschen, für bitterböses Unrecht im Namen einer Demokratie. Angesichts dessen fragt man sich unwillkürlich, ob die verantwortlichen Politiker wirklich wussten was sie da taten. Die Federführenden wussten es ganz bestimmt, sie haben sich regelrecht angebiedert und korrumpieren lassen. Dabei fällt dem Autor immer wieder ein TV-Bild ein, in dem sich der sog. „Genosse der Bosse“ mit selbstgefälligem Grinsen und einer dicken Havanna im wuchtigen Chefsessel fläzt. Bei vielen anderen, sogar ehedem Linken, hat das Trommelfeuer einer geschickten und aggressiven Propaganda gewirkt, sie haben sich durch Halb- und Unwahrheiten, im Gewand angeblich unausweichlicher Sachzwänge (Globalisierung, Demographischer Wandel usw.), beeindrucken und täuschen lassen. Auch die Alltags ferne vieler Politiker, welche von ihren behaglichen und luxuriösen Elfenbeintürmen herab das Ameisengewimmel im Schneegestöber der Straßen betrachten und dabei wohl eher von einem Wintermärchen träumen, trug und trägt sicher nicht zu einer realen Einschätzung der Situation bei. Und warum soll man denn da ins ungemütlich Kalte hinausgehen, hier hat man doch außerdem so viele „gute Freunde“, welche sich einem gegen „kleine Gefälligkeiten“ als großzügig erweisen. Neben Skrupellosigkeit mag ebenso Inkompetenz, Naivität und sogar blanke Dummheit bei vielen der Verantwortlichen wegbereitend für die o. g. Reformen gewesen sein.

Angesichts der harschen Kritik und den massiven Protesten gegen die Hartz-Reformen ist ihr Bestand bis heute auf den ersten Blick eigentlich verwunderlich; man fragt sich Augen reibend wie das nur sein kann. So ist man von Reform betreibender Seite in die Gegenoffensive gegangen und wurde und wird nicht müde gebetsmühlenartig zu behaupten, die Reformen seien alternativlos und zog und zieht alle Register der Propaganda, bis hin zur Kolportierung des Bildes von massenhaft schmarotzenden und unfähigen Arbeitslosen, die man entsprechend zu „fordern“ und „fördern“ hätte oder der angeblichen Notwendigkeit, wegen dem demographischen Wandel die Lebensarbeitszeit verlängern zu müssen. Das schlechte Erscheinungsbild der Hartz-Reformen versucht man verharmlosend durch sog. „Fehler“ zu erklären, die bei der Einführung eines so „gewaltigen“ Reformwerkes angeblich unvermeidbar wären. Näher betrachtet offenbart sich hier jedoch ein von langer Hand organisiertes „Chaos“ mit System, das zudem „sinnlos“ – wohl bemerkt nur im Sinne der Erwerbslosen und des Allgemeininteresses – gewaltige Steuermittel verschwendet, also letztendlich veruntreut und somit nur eine weitere Ebene der Umverteilung von unten nach oben bildet. Das alles hat Ursachen und diese liegen in den Wettbewerbsinteressen bzw. Weltmarkteroberungsgelüsten weniger aber sehr mächtiger Akteure begründet, denen des sog. Big Business bzw. der sog. Global Player, welche wiederum alleinige Nutznießer ihrer globalen, grenzenlosen Gier sind.

Der große Reformbetrug

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