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b) Verfassungsidentität und Effektivität des Unionsrechts (M.A.S. & M.B.)

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Bevor sich die Wirkungen dieser Entscheidung richtig abzeichnen konnten, hat die Große Kammer auf Vorlage des italienischen Verfassungsgerichts erneut über diese Fallgestaltung entscheiden und ihre Ausführungen präzisieren müssen. In der Entscheidung M.A.S. vom 5.12.2017[15] bestätigte der Gerichtshof zunächst grundsätzlich seine Taricco-Rechtsprechung und stellt fest, die nationalen Gerichte seien aus Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV verpflichtet, in Strafverfahren wegen Mehrwertsteuerstraftaten innerstaatliche Verjährungsvorschriften, die der Verhängung wirksamer und abschreckender strafrechtlicher Sanktionen in einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichteten schweren Betrugsfällen entgegenstehen oder für schwere Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union kürzere Verjährungsfristen vorsehen als für Fälle zum Nachteil der finanziellen Interessen des betreffenden Mitgliedstaats, auch dann unangewendet zu lassen, wenn sie zum nationalen materiellen Recht gehören. Eine Ausnahme lässt der EuGH jedoch für den Fall zu, dass ihre Nichtanwendung wegen mangelnder Bestimmtheit der anwendbaren Rechtsnorm oder wegen der rückwirkenden Anwendung von Rechtsvorschriften, die strengere Strafbarkeitsbedingungen aufstellen als die zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat geltenden Rechtsvorschriften, zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen führt.

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Diese auch als Taricco II bezeichnete Entscheidung wird z.T. als Kehrtwende in der Rechtsprechung des EuGH und als konkludente Bestätigung des Vorbehalts der Verfassungsidentität angesehen.[16] Der italienische Verfassungsgerichtshof hatte den Sachverhalt nämlich zur Beantwortung der Frage vorgelegt, ob ein nationales Gericht die verfassungsrechtlich vorgesehenen Garantien (Gesetzlichkeitsprinzip) unbeachtet lassen muss, um dem Unionsrecht zur effektiven Durchsetzung zu verhelfen. Der EuGH hat hier nach der wohl überwiegenden Ansicht der Verfassungsidentität einen Platz eingeräumt und dem nationalen Verfassungsrecht die Entscheidung überlassen, wie weit der Schutz durch den Nullum-crimen-Grundsatz gehen soll, indem ihm die Entscheidung zusteht, was straf- und strafbarkeitsbestimmende Vorschriften sind. Hier wird nach Burchardt[17] die Absolutheit des Vorrangs des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht ein Stück weit zurückgenommen.

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Doch sollte sich die nationale (Verfassungs-)gerichtsbarkeit keinesfalls darauf verlassen, dass der EuGH die Behauptung, durch die Durchsetzung des Unionsrechts sei die Verfassungsidentität betroffen stets ungeprüft hinnehmen wird.[18] Vielmehr wird der EuGH insofern zumindest die bereits vom Generalanwalt Bot in seinem Schlussantrag angedeutete Plausibilitätskontrolle durchführen, so dass nur elementare Garantien vom Gewicht des Gesetzlichkeitsprinzips und des Schuldgrundsatzes[19] zur Verfassungsidentität gehören dürften. Es geht also um den unantastbaren Kern des Grundgesetzes.[20] Schon bei einzelnen Ausprägungen des Nemo-tenetur-Grundsatzes hat das BVerfG die Verfassungsidentität nicht mehr berührt gesehen, weil dieser Grundsatz nur im Kernbereich zur Verfassungsidentität gehöre.[21]

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Der Entscheidung des EuGH in Sachen M.A.S. & M.B. könnte noch eine weitere Relativierung des Schutzes der nationalen Grundrechte entnommen werden. Denn die Große Kammer formuliert ihre These von der Berücksichtigung nationaler Verfassungsidentität vor dem Hintergrund des Vorbehalts einer nur teilweise erfolgten Harmonisierung:

Im vorliegenden Fall waren die Rechtsvorschriften über die Verjährung von Straftaten im Bereich der Mehrwertsteuer zu der im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit auf Unionsebene noch nicht harmonisiert. Dies ist erst durch die Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (ABl. 2017, L 198, S. 29) teilweise geschehen. Es stand der Italienischen Republik damals also frei, zu bestimmen, dass die Rechtsvorschriften über die Verjährung ebenso wie die Rechtsvorschriften über die Straftatbestände und das Strafmaß zum materiellen Strafrecht gehören und deshalb wie Letztere dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unterliegen. [22]

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Damit legt der EuGH die Frage nach der Verfassungsidentität nicht vollständig in die Hand der Mitgliedstaaten. Die Passage ist vielmehr wohl so zu verstehen, dass den Mitgliedsstaaten das Recht zustehen kann, ihre Verfassungsidentität auch in der Weise zu schützen, dass Vorschriften, die einer effektiven Durchsetzung des Unionsrechts entgegenstehen angewendet werden, um die elementaren Garantien der mitgliedstaatlichen Verfassung zu schützen. Aber Kriterien für die Beurteilung, ob die Verfassungsgarantien zur Anwendung kommen, kann eine durch Unionsrecht determinierte Frage sein. Das bedeutet, man müsste also nicht nur fragen, ob der Bestimmtheitsgrundsatz als solcher zur Verfassungsidentität gehört, sondern auch ob der Schutz des Beschuldigten im konkreten Fall vor einer Veränderung oder Aussetzung der Verjährungsfristen durch die Verfassung zwingend geboten ist und die Aufgabe dieses Schutz den Kern der Grundrechtsgarantien beträfe.

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Der EuGH macht mit seiner Bezugnahme auf die materiellen Vorgaben der RL 2017/1371 für den konkreten Fall deutlich, dass dem nationalen Straf- und Verfassungsrecht die Deutungshoheit über die Anwendbarkeit der (nationalen) Grundrechte nur soweit zusteht, wie keine unionsrechtliche Harmonisierung stattgefunden hat. Solange die Umsetzungsfrist der Richtlinie zum Schutz der finanziellen Interessen noch nicht abgelaufen ist, hat das italienische Gericht also das Recht die Verjährung als materielle Regelung zu verstehen, die dem (nationalen) Bestimmtheitsgrundsatz unterfällt. Sobald aber die Harmonisierung mit Ablauf der Frist am 6.7.2019 erfolgt ist, gibt das Unionsrecht auch die materielle Bewertung vor. Die Verjährungsvorschriften sind dann als Teil des Verfahrensrechts anzusehen, das Gesetzlichkeitsprinzip für das Strafrecht gilt demnach – aus unionsrechtlicher Sicht – nicht und der nationale Bestimmtheitsgrundsatz darf nicht angewendet werden, wenn das italienische Gericht nicht plausibel darlegen kann, wie die italienische Verfassungsidentität im konkreten Fall der Nichtanwendung der Verjährungsvorschriften beeinträchtigt wäre (vgl. Rn. 66 ff.).

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