Читать книгу Fiskalstrafrecht - Udo Wackernagel, Axel Nordemann, Jurgen Brauer - Страница 65
Оглавление2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts › V. Begrenzung nationalen Strafrechts durch europäische Freiheitsrechte und Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des EuGH › 9. Europäische Missbrauchsrechtsprechung (Missbrauchsverbot)
9. Europäische Missbrauchsrechtsprechung (Missbrauchsverbot)
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Eine weitere – grundsätzlich völlig selbstverständliche – Beschränkung finden die Freiheitsrechte im allgemeinen Missbrauchsverbot.[1] In den Entscheidungen Halifax[2] und Emsland[3] hat der EuGH dies im Kontext des Mehrwertsteuerrechts exemplifiziert: Jeder Unionsbürger habe das Recht, sein Handeln steuerlich oder auch ansonsten rechtlich günstig einzurichten. Das schließe auch das Recht ein, seinen Geschäftsbetrieb in einen anderen Mitgliedstaat zu verlagern, um dort Steuervorteile wahrzunehmen, die man im Ausgangsstaat nicht erhalten würde. Genauso dürfe der Unternehmer seine Produktion in einen anderen Mitgliedstaat verlagern, um dort Waren herzustellen und diese dann in den Ausgangsstaat importieren, wenn er die eingeführten Waren im Ausgangsstaat nicht hätte herstellen dürfen. Das Unionsrechts decke aber keine Handlungen, die keine wirtschaftliche Begründung haben, sondern nur zum Schein getätigt werden, um Vorteile aus dem Unionsrechts zu erlangen. Niemand dürfe sich missbräuchlich auf das Unionsrechts berufen.[4]
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Bei missbräuchlichen Umsätzen besteht nach der Judikatur des EuGH kein Recht auf einen Vorsteuerabzug. Missbräuchlich seien Umsätze, hinsichtlich derer die Gewährung des Vorsteuerabzugs den ausdrücklichen Zielen der Mehrwertsteuerrichtlinien zuwiderliefe. Dies sei dann der Fall, wenn die fraglichen Umsätze zwar formal die Bedingung der einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts zur Umsetzung des Mehrwertsteuerrechts der Union erfüllen, die Gewährung des steuerlichen Vorteils jedoch dem Sinn und Zweck des Unionsrechts zuwiderlaufe.[5] Ein Missbrauch dürfe angenommen werden, wenn aufgrund objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sei, dass im Wesentlichen oder sogar ausschließlich der Steuervorteil und nicht die wirtschaftlichen Vorteile des Geschäfts selbst gewollt sind. Die Gestaltung müsse sich also als wirtschaftlich weitgehend sinnlose Umgehungsgestaltung darstellen.[6]
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In der Collée-Entscheidung[7] hat der Europäische Gerichtshof jedoch deutlich gemacht, dass nicht jede wirtschaftlich unsinnig erscheinende Gestaltung zwangsläufig einen steuerlichen Gestaltungsmissbrauch bedeutet. Ungewöhnliche Gestaltungen können durchaus durch ungewöhnliche wirtschaftliche Situationen oder einfach persönliche Gründe bedingt sein. Letztlich sei damit die Frage des Missbrauchs im konkreten Einzelfall zu beurteilen.[8]
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Im Rahmen der Bekämpfung von Steuerhinterziehungen hat der EuGH sowohl in der Rechtssache Kittel[9] als auch in der Rechtssache „R“[10] konstatiert, dass ein grundsätzliches Verbot der Mitwirkung an Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und Steuermissbrauch besteht. Dieses Verbot kann zu weitreichenden Verlusten steuerlicher Vorteile des Unternehmers führen:[11] Zwar sei die Mitwirkung an einer Steuerhinterziehung oder Steuerumgehung solange für die mehrwertsteuerliche Behandlung eines Steuerpflichtigen unschädlich, wie dieser nicht wissentlich und auch nicht anderweitig vorwerfbar zur Verletzung des Steueranspruchs beigetragen habe.[12] Wirkt der Steuerpflichtige jedoch an der Steuerhinterziehung mit, weil er die Rechtswidrigkeit des Geschäfts sorgfaltswidrig nicht erkennt, dann sei er auch dann als Steuerhinterzieher anzusehen, wenn er sich nach nationalem Strafrecht nicht strafbar gemacht hat, weil er nach strafrechtlichen Kategorien nicht Beteiligter ist. Das Unionsrechts verwendet damit einen weiten Beteiligtenbegriff, um dem Ziel der Bekämpfung von Hinterziehung und Umgehung der Mehrwertsteuer effektiv zu dienen. Aus diesem Grund könne sich der unwissend, aber schuldhaft an einer Steuerhinterziehung beteiligte Unternehmer nicht auf das europäische Mehrwertsteuerrecht berufen. Die nationalen Finanzbehörden dürfen und müssen gewährte Mehrwertsteuervorteile zurückverlangen.[13]
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In der Italomoda-Entscheidung[14] ist der EuGH noch deutlich weiter gegangen: Der Vorsteuerabzug sei zu versagen, wenn der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit dem betreffenden Umsatz an einem Umsatz beteiligte, der in eine vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war. Damit wäre für jede Lieferung, die in eine Kette eingebunden ist, die Gegenstand einer Hinterziehung war oder nach der Lieferung geworden ist, der Vorsteuerabzug zu versagen, wenn der Empfänger die Einbindung in die Hinterziehungsstruktur schuldhaft verkannt hat. Diese Versagung des Vorsteuerabzugs sei – so der EuGH weiter – keine Sanktion, sondern eine systemimmanente Folge aus dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem. Diese These des Gerichtshofs ist unplausibel: Der Vorsteuerabzug ist nach der Rspr. des EuGH ein fundamentaler Bestandteil des europäischen Mehrwertsteuersystem, dessen Versagung ein Verstoß gegen die Steuerneutralität darstellt.[15] Die Versagung muss daher systemfremd sein und kann daher nur durch äußere Gründe – (kriminal-)politische Notwendigkeit einer Sanktion – gerechtfertigt werden.