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Richard Chandler, Nicholas Revett und William Pars – 1764

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Reise von England nach Smyrna – Von Smyrna nach Didyma – Der Naos des hellenistischen Apollontempels – Erste Zeichnungen von Baugliedern – Beschreibung der näheren Umgebung des Apollontempels

Am 9. Juni 1764 begaben sich drei Engländer an Bord der „Anglicana“, die im Hafen von Gravesend an der Themsemündung vor Anker lag. Richard Chandler, Nicholas Revett und William Pars hatten sich für 60 Guineen auf der „Anglicana“ eingeschifft, die mit 32 Mann Besatzung und 16 Kanonen ausgestattet war. Das Schiff sollte die drei Herren nach Smyrna bringen. Der Wind stand gut und am Abend wollte man ablegen. Doch das war unmöglich, weil der zuständige Lotse betrunken war. So verschob sich die Abreise bis auf den Morgen des nächsten Tages, den Pfingstsonntag.

Chandler, Revett und Pars reisten nicht im eigenen Interesse, sondern waren im Auftrag der Society of Dilettanti unterwegs. Diese Gesellschaft war 1734 in London gegründet worden, um die Künste und die Geisteswissenschaften zu fördern. 1764 hatte man genug Geld zusammen, um eine Expedition in den östlichen Mittelmeerraum auszurüsten. Ihre Teilnehmer sollten Informationen über den früheren Zustand der dortigen Staaten sammeln und insbesondere eine exakte Beschreibung der sichtbaren Reste der antiken Monumente liefern. Um diese Aufgabe korrekt auszuführen, hatte die Society eine Anweisung mit sechs Paragraphen verfasst, nach denen sich Chandler, Revett und Pars zu richten hatten. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, von Smyrna (heute Izmir) aus Touren zu unternehmen, um die wichtigsten antiken Bauten der Umgegend aufzunehmen. Hinweise dazu bekamen sie von Robert Wood, der 1750 Ionien besucht hatte. Wood war ebenfalls Mitglied der Society of Dilettanti. Auf seiner Rückreise aus dem Nahen Osten, wo er die Ruinen von Palmyra (Syrien) und Baalbek (Libanon) studiert hatte, war er 1750 auch in Didyma vorbeigekommen.

Richard Chandler sollte zunächst die antiken Schriftquellen studieren und dann den Begleittext verfassen. Nicholas Revett war Architekt und hatte sich bereits bei der Aufnahme der antiken Gebäude Athens Verdienste erworben. William Pars hatte die Aufgabe, Ansichten zu zeichnen und Reliefs zu kopieren. Darüber hinaus waren alle drei verpflichtet, Tagebuch zu schreiben und die Society of Dilettanti regelmäßig über ihre Fortschritte zu unterrichten. Neben einem angemessenen Gehalt stand den Männern ein Etat von 2000 Pfund zur Verfügung.

Nachdem die Reise am 9. Juni 1764 begonnen hatte, lief die „Anglicana“ noch mehrere Häfen Englands an, um ihre Ladung zu vervollständigen. Am 3. Juli 1764 passierte das Schiff die Felsen von Lissabon. In Genua lag die „Anglicana“ vom 17. bis zum 25. Juli vor Anker, um verschiedene Waren ein- und auszuladen. Schließlich kam am 25. August 1764 die Bucht von Smyrna in Sicht. Doch das Schiff segelte nicht hinein, sondern drehte nach Norden ab. Der Kapitän hatte sich entschieden, Smyrna noch nicht anzulaufen, da dort im Frühjahr die Pest ausgebrochen war. Deshalb wollte er zuerst nach Konstantinopel segeln. Bis dahin fuhren die drei Engländer allerdings nicht mit, sondern schifften sich noch am selben Tag aus, und zwar in der Nähe der heutigen Stadt Çanakkale auf der asiatischen Seite der Dardanellen.

Die „Anglicana“ feuerte drei Kanonenschüsse ab und ließ Chandler, Revett und Pars mit ihrem Gepäck zurück. Nun waren sie im Orient angekommen. Der englische Konsul holte sie ab, aber mit ihm konnten sie sich kaum verständigen, da er außer Türkisch nur gebrochen Italienisch und Französisch sprach. Der Konsul, „ein dicker, gut aussehender Jude“, lud die Engländer in sein Haus ein. Beim Essen hatten sie Probleme im Schneidersitz auf dem Boden zu sitzen und ohne Besteck mit den Fingern zu essen. Aber immerhin gab es Wein zum Essen. Das war ganz im Sinne der Society, denn auf zwei Dinge legte sie besonderen Wert: „The nominal qualification is having been in Italy, and the real one, being drunk“ (Zitat von Horace Walpole).

Nach dem Essen (und Trinken) legte sich die Familie bis zum Nachmittag schlafen, was aufgrund der großen Mittagshitze im Orient üblich wäre, wie Chandler und seine Mitarbeiter erfuhren. Zur Nachtruhe bekam jeder der drei Engländer einen Teppich und ein Kissen. Betten gab es keine, wie sie überrascht feststellten. Außerdem ist in Chandlers Reisebericht zu lesen, dass sie deshalb keinen Moment zur Ruhe kamen und angesichts der körperlichen Qualen das Morgengrauen sehnlichst erwarteten.

So viel zu den ersten Orienterfahrungen der Engländer. Bei ihren Erkundungen der nahen Umgebung kam noch eine weitere hinzu: Mehrmals wurden sie von Räuberbanden bedroht. Folglich bestiegen die drei bald ein englisches Schiff und fuhren auf die Insel Chios, um von dort nach Smyrna zu gelangen. Auf Chios erfreuten sie sich der hübschen Griechenmädchen, die in den Türen oder Fenstern der Häuser saßen und ihre Handarbeiten verrichteten. Dabei trugen die jungen Frauen nur bis zu den Knien reichende Röcke und bunte Kleider. Im Gegensatz dazu bekamen die Gelehrten keine türkischen Frauen zu Gesicht. Denn die Türken lebten in einem eigenen Viertel und „versteckten“ ihre Frauen.

Schließlich kamen Chandler, Revett und Pars mit einem kleinen Schiff nach Smyrna (Abb. 15). Am Hafen holte sie ein Armenier ab, den der englische Konsul Antony Hayes beauftragt hatte. Von nun an waren die drei standesgemäß untergebracht und konnten sich ihren Studien widmen. Zuerst hielten sie in Smyrna Ausschau nach antiken Gebäuden. Dabei bemerkten sie, dass Türken aus den weißen Marmorblöcken des Theaters einen Basar und eine Karawanserei errichteten. Das Theater wurde schon seit vielen Jahren als Steinbruch genutzt, da Wheler und Spon bereits 1675 berichteten, dass es zum Bau einer Karawanserei ausgebeutet würde (siehe das Kapitel über sie).


Abb. 15: Smyrna. Blick auf den Landungssteg mit dem türkischen Viertel und mit der Akropolis im Hintergrund (Duc de Valmy, 1826).

Ansonsten bemerkten die Engländer, dass Angehörige vieler Völker in Smyrna lebten, die meisten von ihnen Türken. Die protestantischen und katholischen Christen hätten ihre eigenen Kirchen; besonders schön sei aber die Kirche der Armenier. Auch die Juden besäßen ein oder zwei Synagogen. Zwei Kirchen der Griechen seien bei einem Brand vernichtet worden, deren Wiederaufbau die Türken erschwerten. Dazu bemerken die Engländer, dass auf diese Weise die Christen in Smyrna bald aussterben würden.

Noch im Herbst des Jahres 1764 unternahmen Chandler, Revett und Pars Exkursionen von Smyrna aus. Von März bis August 1765 folgten weitere. Als eines der ersten Ziele steuerten sie Ephesos an. Auf der gleichen Reise besuchten sie bereits im Oktober 1764 Milet und Didyma.

In vielen neueren Publikationen ist dagegen zu lesen, dass die englischen Gelehrten erst 1765 nach Didyma kamen. Das ist jedoch nicht richtig, wie man Richard Chandlers Buch „Travels in Asia Minor“ von 1775 entnehmen kann.

Am 30. September 1764 brachen Chandler, Revett und Pars mit ihren Begleitern von Smyrna aus auf. An diesem Sonntagabend kamen sie nur bis zu einem Dorf etwas südlich von Smyrna, wo sie übernachteten. Am nächsten Tag ritten sie bereits 5 Uhr morgens los und gelangten fast schon in der Dunkelheit in Ayasoluk (heute Selçuk) an. Vom 2. Oktober bis zum 6. Oktober blieben sie dort.

An ihrem ersten Morgen suchten sie die nahe gelegenen Ruinen von Ephesos auf. Dort stellten sie fest, dass die einstige antike Metropole nur von wenigen griechischen Hirten bewohnt wurde. Die Ruinen einer Kirche innerhalb der Stadtmauern hielten sie für die der berühmten byzantinischen Johannesbasilika. Etwas weiter weg lag die türkische Siedlung Ayasoluk, nämlich unterhalb des Burgbergs, wo sich tatsächlich die Reste der Johannesbasilika befanden (siehe die zwei vorangegangenen Kapitel). Den Burgberg besichtigten die Engländer auch. Dort sahen sie jedoch nur wenige Hütten und eine verfallene Moschee. Sonst gäbe es dort nur Abfall und unter jedem Stein einen Skorpion. Weiterhin suchten sie nach Resten eines der Sieben Weltwunder, nämlich dem Artemistempel, der zwischen antiker Stadt und dem Burgberg gelegen war. Von diesem einstmals berühmten Tempel fanden sie nichts mehr, obwohl Edmund Chishull seine Fundamente 1699 noch gesehen haben wollte (siehe das Kapitel zu Chishull).

Schließlich hatten Chandler, Revett und Pars vier Tage in Ayasoluk und Ephesos verbracht. Am Sonnabend, dem 6. Oktober, begaben sie sich an der Küste entlang nach Süden, und zwar zuerst nach Scala Nuova (im Altertum Neapolis, heute Kuşadası). Nach dem Mittagessen ritten sie weiter nach Suki (heute Söke), welches am Ostende des Mykale-Gebirges liegt (Karte 1). Dort blieben sie die Nacht über in einer Karawanserei. Der nächste Morgen, ein Sonntag, begann mit einem heftigen Gewitter. Als sie um 7 Uhr starteten, blitzte und regnete es. Dennoch hatte das feuchte Wetter sein Gutes, denn die Engländer sahen am Weg viele blühende Sträucher. Ihr Duft und die frische feuchte Luft erinnerten sie an den Frühling, obwohl doch Herbst war.

Nach einem Zweieinhalb-Stundenritt erreichten sie Kelebeş (Griechisch Kelebesion) am Südrand der Mykale. Dieses Dorf war eine um 1700 angelegte Neugründung von Griechen und Armeniern. Dort warfen sie einen kurzen Blick auf die nahen Ruinen des antiken Priene und machten sich anschließend auf nach Milet. Doch zuvor mussten sie den Mäander mit einer Fähre überqueren. Diese Überfahrt beschreiben sie ziemlich genau: Um 10 Minuten nach ein Uhr mittags setzten sie mit einer dreieckigen Fähre über. Der Fährmann war ein Schwarzer, der einem Satyr ähnelte. Satyrn sind in der griechischen Mythologie Mischwesen aus Mensch und Tier. Sie haben oft eine Stupsnase, eine Halbglatze, einen Bart, Eselsohren und einen Pferdeschwanz; welche Merkmale davon auf den Fährmann zutrafen, überliefert Chandler jedoch nicht. Interessant ist weiterhin, dass etwa 150 Jahre nach ihm noch Fähren des gleichen dreieckigen Typs benutzt wurden. Es gibt Fotos mit deutschen Archäologen, die Anfang des 20. Jhs. auf einer dreieckigen Fähre den Mäander überqueren.

In Milet beeindruckte die Engländer – wie schon die Reisenden vor ihnen – das riesige Theater. Sonst sahen sie viele verfallene Gebäude, einige antike Inschriften und eine schöne Moschee mit Hütten daneben für die türkischen Familien. Diese nach ihrem Erbauer Ilyas Bey genannte Moschee wurde 1404 errichtet und ist ein prächtiger Marmorbau, den man heute noch besichtigen kann. In Milet (damals Palatia genannt) erhielten Chandler, Revett und Pars auch Besuch vom Aga aus Suki (heute Söke). Dieser war mit seinem Gefolge zur Falkenjagd nach Palatia gekommen. Allerdings war er müde und hatte schlechte Laune, weil zwei seiner Lieblingsvögel nicht zurückgekehrt waren. Für den Aga wurde ein Sofa aufgestellt mit Sonnenschutz, auf das er sich legte und sofort im Beisein der Engländer einschlief. Aber später empfing sie der Aga, bewunderte ihre Waffen und gab ihnen ein Empfehlungsschreiben mit.

Der 9. Oktober 1764 sollte dann der Tag werden, an dem Chandler, Revett und Pars die prächtigen Ruinen Didymas zu sehen bekamen. Ihrem Bericht nach brachen sie um 20 Minuten nach 8 Uhr morgens von Milet aus auf. Im nächsten Griechendorf Auctui (heute Akköy) machten sie allerdings schon wieder Halt und versorgten sich mit Proviant, denn weiter südlich war die Gegend nur sehr dünn besiedelt. Mit dem gekauften Geflügel und Eiern überquerten sie den letzten Höhenzug, der damals von den Griechen „Ta Stefania“ genannt wurde. Die Übersetzung davon lautet wörtlich „die Kränze“, aber im übertragenen Sinn „die Ränder der Berge“. Von dort aus kamen die Säulen des Apollontempels zum ersten Mal in den Blick. Der eingeschlagene Weg führte also nicht an der Küste entlang, sondern durch das Landesinnere. Heute kann man diesen Weg nur schwer verfolgen. Meistens muss man sich auf Schaf- und Ziegenpfaden durch die Macchia kämpfen. Der Weg, den die Engländer nahmen, führte vor Didyma noch durch eine kleine von Türken bewohnte Siedlung, damals Ura geheißen. Von Ura aus gelangten sie schließlich in einer halben Stunde zu den Ruinen Didymas.

Damals konnte man also auf drei Wegen Didyma von Norden aus erreichen (Karte 2): Von Milet gelangte man zunächst in das Griechendorf Auctui. Von dort aus führte der östlichste Weg über Ura nach Didyma. Auf einer Karte vom Anfang des 20. Jhs. wird Ura als Turko-Jeronda bezeichnet, weil Türken dort wohnten und in Jeronda (dem ursprünglichen Didyma) Griechen. Heute ist Ura weitgehend verlassen.

Der zweite Weg von Auctui nach Didyma war der einstige Prozessionsweg von Milet nach Didyma. Diese sogenannte Heilige Straße führte etwas weiter westlich über den „Ta Stefania“ genannten Höhenzug zum Hafen Didymas, Panormos (heute Mavişehir). Von da brauchte man wie von Ura noch etwa eine halbe Stunde nach Didyma.

Schließlich ist die heutige Straße von Akköy nach Didyma zu nennen, die vom ehemaligen Auctui auf kürzestem Weg an die Küste führt und dort entlang nach Mavişehir und weiter nach Didyma.

Chandler, Revett und Pars hatten – bevor sie Didyma von Ura aus erreichten – noch ein besonderes Erlebnis: Kurz nach Verlassen des Dorfes brach ein wilder Stier aus dem Gestrüpp hervor und griff ihren Führer an. Doch der konnte ihm durch eine schnelle Reaktion gerade noch ausweichen. Anschließend war es ihnen aber vergönnt, die Säulen des Apollontempels von Didyma ungestört zu bewundern, die sie als außergewöhnlich fein durch ihren schönen und leuchtenden Marmor beschreiben. Besonders abends würden die Schönheit und die Majestät der Tempelruinen zur Geltung kommen (Abb. 16).


Abb. 16: Die Ruine des Apollontempels von Nordosten (William Pars, 1764).

Leider war der Tag schon fortgeschritten und die Engländer mussten Didyma verlassen, weil sie hier nicht übernachten wollten. Sie ritten zurück nach Ura und bauten dort ihr Dreipersonenzelt auf. Sehr viel Komfort bot das Zelt nicht, denn sie lagen darin auf Stroh und das einzige Möbelstück war ein leeres Olivenglas. Schlafen konnten sie auch nicht, weil der bekannte wilde Stier ab und zu vorbeikam und sie mit seinem Gebrüll wachhielt.

In Didyma hatten Chandler, Revett und Pars nicht nur den Apollontempel gesehen, sondern als erste berichten sie über andere antike Reste. So schreiben sie, dass der Weg zum Hafen von vielen marmornen Sarkophagen flankiert sei. Außerdem stünden an einer Stelle fünf Marmorstatuen. Bei diesem Weg zum Hafen handelt es sich um die Heilige Straße von Milet. Die Sarkophage und Statuen zeigen, dass man im Altertum an ihr entlang viele Grabmonumente errichtet hatte. Des Weiteren geben die Gelehrten einen ersten Bericht ab zur damaligen Beschaffenheit des antiken Hafens (Panormos). Als sie zu ihm hinabstiegen, sahen sie bereits von weitem einen kreisrunden Pier im Wasser leuchten. Dabei handelte es sich um marmorne Säulentrommeln für den Apollontempel, deren Durchmesser sie mit durchschnittlich 6 Fuß richtig angaben. Diese liegen gebliebenen Säulentrommeln waren noch bis in die Mitte des 20. Jhs. hinein sichtbar. Dann aber wurden sie im Zuge von Geländeerschließungen und Bauarbeiten verschüttet. Chandler, Revett und Pars sahen überdies am Hafen noch viele Ruinen von Häusern. Diese können nur aus byzantinischer Zeit stammen, da der Hafen Didymas zuletzt in byzantinischen Urkunden erwähnt wird (siehe das Kapitel zu Chishull).

Weiterhin überliefern die Engländer zum ersten Mal, dass die Türken die Ruinen von Didyma „alte Burg“ nannten (auf Türkisch „Eskihisar“). Die Bezeichnung „Eskihisar“ überlebte neben der als Yoran bis heute. Dazu kam in den 60er-Jahren des 20. Jhs. ein neues Dorf mit dem Namen „Yenihisar“ (neue Burg). Dieses wurde etwas südlich von Didyma angelegt, nachdem viele Häuser von Eskihisar bei einem Erdbeben 1955 beschädigt oder zerstört worden waren. Heute bilden beide „Dörfer“ zusammen mit vielen weiteren Gebäuden, die sich bis zur Meeresbucht südlich von Didyma erstrecken, den modernen Ort Didim. Diese Stadt wird wohl bald zur Großstadt werden, denn sie hat jetzt schon über 85000 permanente Bewohner, zu denen in der Feriensaison zehntausende Urlauber aus dem In- und Ausland hinzukommen.

Nach ihrer ersten Übernachtung in Ura blieben Chandler, Revett und Pars nur noch zwei Tage in Didyma. Länger wollten sie nicht bleiben, da ihnen das Leben im Zelt zu dieser herbstlichen Jahreszeit arg zusetzte.

Wie sie berichten, verließen sie Didyma am Freitag, dem 12. Oktober 1764, um 11 Uhr vormittags. Sie ritten an diesem „Sabbat der Türken“ noch etwas in südöstliche Richtung und erreichten eine große Meeresbucht, heute Golf von Akbük genannt. Von dort aus begaben sie sich auf den Rückweg nach Scala Nuova (heute Kuşadası), von wo aus sie weitere Exkursionen unternahmen.

Obwohl die englischen Gelehrten nur zwei volle Tage in Didyma verbrachten, gelang es ihnen, eine Vielzahl von Informationen zum Apollontempel und seiner Umgebung zu sammeln. Als erste fertigten sie genaue Zeichnungen von Bauteilen des Tempels an und versahen sie mit den entsprechenden Beschreibungen. Zusätzlich trugen sie alle verfügbaren literarischen Quellen zusammen, die sich auf Didyma und den Apollontempel beziehen. Bereits 1769 konnten Richard Chandler, Nicholas Revett und William Pars damit die erste archäologische Abhandlung über Didyma veröffentlichen. In ihrem Buch „Ionian Antiquities“ werden die drei antiken Ruinenstätte Teos, Priene und Didyma zum ersten Mal ausführlich dargestellt.

Ihre besondere Aufmerksamkeit widmeten die Engländer neben den schriftlichen Quellen vor allem den architektonischen Hinterlassenschaften der drei Orte. In Teos ist dies der Tempel des Dionysos, in Priene der der Athena und in Didyma natürlich der des Apollon.

Zunächst wollten sie vom Apollontempel in Didyma einen Plan seines Grundrisses erstellen. Dies war allerdings unmöglich, weil die gesamte Osthälfte mit Trümmern verschüttet war. Lediglich an der Westseite des Tempels konnten sie seine Breite messen, die sie mit 162 Fuß 2 Zoll und 2/10 angaben. In Metern beträgt die Breite an der obersten Stufe 51,09 m. Des Weiteren machten sie die Beobachtung, dass der Naos im Westen keine Tür aufwies, das heißt es gab keinen sogenannten Opisthodom. Interessanterweise wird die Rückseite des Apollontempels in Bauinschriften dennoch mit „Opisthodomos“ bezeichnet. Die englischen Gelehrten schlossen aus dem Nichtvorhandensein eines Opisthodoms, dass der Pronaos deshalb besonders groß sein müsse, um die Proportionen des Tempelgrundrisses zu wahren. Damit hatten sie nicht ganz unrecht: Denn tatsächlich weist der Apollontempel im Osten sogar zwei Räume auf, den Zwölf- und den Zweisäulensaal (siehe das Kapitel zu Cyriacus von Ancona und Plan 3).

Richtig erkannten sie weiterhin, dass nur die äußeren Schalen der Wände aus Marmor bestehen und die inneren Blöcke aus einheimischem Gestein (Kalkstein). Außerdem erschlossen die Gelehrten, dass der Apollontempel ein sogenannter dekastyler Dipteros war. Das bedeutet zum einen, dass die den Naos umgebende Ringhalle zwei Reihen Säulen besaß. Zum zweiten hatte der Tempel an seinen Schmalseiten jeweils zehn Säulen. Die ersten genauen Zeichnungen von den Bauteilen der Säulen fertigte Nicholas Revett an. Von ihren Säulenbasen, den Säulenschäften und den ionischen Kapitellen erstellte er exakte Stiche mit detaillierten Maßangaben.

Als Vorbild für die ionische Säulenbasis diente ihm die der Nordwestecke. Sie war die einzige, die offen zu Tage lag. Bei ihr sind jedoch nur die Plinthe und die Spira darüber fertig ausgearbeitet; der darüberliegende Torus mit dem unteren Teil des Säulenschaftes trägt noch den Werkzoll. Auch hier zeigt sich, dass größere Teile der Säulenhalle des Tempels unfertig geblieben waren.

Die Vorlage für die Wiedergabe des ionischen Kapitells bildeten offensichtlich die beiden Säulen, die auf der Nordseite noch aufrecht stehen. Auf seiner Zeichnung platziert Revett über dem Kapitell jedoch fälschlich einen Architrav mit zwei Fascien, der darüber mit einem Perlstab, einem lesbischen Kyma und einem kleinen Lotus-Palmettenfries versehen ist. Solch ein Bauglied gab es tatsächlich am Tempel, aber nicht über den Säulen, sondern im Innenhof als oberen Wandabschluss (siehe das Kapitel zu Wheler und Spon).

Die Architrave über den äußeren Säulen besaßen hingegen – wie üblich am griechischen Tempel – drei Fascien und darüber einen Perlstab, ein ionisches Kyma und einen kleinen Lotus-Palmettenfries. Doch ein solches Bauteil konnte Revett nicht zeichnen, weil keine äußeren Architrav- oder Friesblöcke offen zutage lagen.

Auf den Kapitellen der beiden noch stehenden Säulen der inneren Säulenreihe liegen zwei Architrave mit jeweils zwei Fascien Rückseite an Rückseite auf (Abb. 17). Über einem von ihnen ist ein weiterer Architrav mit zwei Fascien erhalten. Er gehörte aber schon zur Kassettendecke, die die Säulenhallen überspannte. Diese beiden übereinanderliegenden Architrave sind auf der Zeichnung von Revett richtig wiedergegeben, lediglich ihre Kombination mit einem Außenarchitrav mit zwei Fascien ist nicht korrekt.


Abb. 17: Blick von Norden auf die beiden noch stehenden Säulen der Nordseite des hellenistischen Apollontempels.

Die Qualität der Zeichnungen ist durchgängig sehr hoch. Dies kann man besonders an den Stichen der Pilasterkapitelle und des Greifenfrieses dazwischen sehen. Wie im Kapitel zu Wheler und Spon schon erwähnt, zierten diese Bauglieder den oberen Abschnitt der Innenhofwand. Doch Chandler und seine Kollegen erkannten darüber hinaus, dass die Anordnung der Pilaster des Innenhofes mit der Position der Säulen der Ringhalle korrespondiert. In jedem Zwischenraum der Säulen ist ein Pilaster im Innern platziert (Plan 3).

Insgesamt waren fünf Pilaster an der westlichen Innenwand angeordnet sowie jeweils elf an der nördlichen und südlichen Innenwand. Die östliche Innenwand besaß in der Mitte zwei korinthische Halbsäulen eingerahmt von je einer Lisene mit Kapitell. An einer dieser Lisenen begann der Fries mit Greifen, zog um den Tempelinnenraum herum und endete an der zweiten, gegenüberliegenden Lisene.

Wie oben schon erwähnt, waren die Kapitelle des Innenraumes abwechselnd mit Ranken bzw. mit Greifen verziert (siehe das Kapitel zu Wheler und Spon). Die beiden Lisenenkapitelle der Ostseite trugen Rankenverzierungen. Die auf der nördlichen bzw. südlichen Längsseite unmittelbar folgenden Pilasterkapitelle wiesen Greifen auf. Die an den westlichen Ecken des Innenhofes aneinanderstoßenden Pilaster waren jeweils beide mit Greifen geschmückt. Zu den drei dazwischenliegenden Kapitellen der Westseite gehörten zwei Ranken- und dazwischen auf der Tempellängsachse ein weiteres Greifenkapitell (Abb. 18).


Abb. 18: Pilasterkapitell mit Greifen des hellenistischen Apollontempels.

Zusätzlich fiel Chandler, Revett und Pars ein Bauteil auf, welches sie nicht sofort zuordnen konnten. Es handelte sich um ein Kapitell eines im Querschnitt ebenfalls rechteckigen Bauglieds. Deswegen hätte es ebenfalls von einem Pilaster des Innenhofes stammen können, aber es war höher als deren Kapitelle. Davon waren viele auf der Nordseite des Apollontempels zu sehen, weil die nördliche Längswand des Naos in diese Richtung hin eingestürzt war. Aber mit keinem dieser Pilasterkapitelle stimmte das besondere, im Bereich der Nordwestecke liegende Kapitell überein.

Somit folgerten die Gelehrten, dass es nur von einer der beiden Anten der Westseite des Tempels sein könne. Wie schon erwähnt, gab es auf der Westseite des Apollontempels keine Tür und die äußere Wand war demzufolge glatt. Lediglich die beiden Ecken waren hervorgehoben und sollten durch ihr leichtes Hervorragen den Anschein von Eckpfeilern erwecken. Das sie bekrönende Kapitell, welches die Engländer fanden, hat eine Breite von 1,66 m und eine Höhe von 1,20 m. Es ist auf seinen zwei Außenseiten (Norden und Westen) mit Reliefs verziert und wird oben von einer rechteckigen Platte (Abakus) abgeschlossen. Am oberen Rand dieses Abakus befindet sich ein ionisches Kyma (siehe Abb. 62).

Die Reliefs weisen eine besondere Verzierung auf: Sie sind jeweils mit einer sogenannten Rankenfrau geschmückt. Dies ist eine weibliche Figur mit Flügeln, die mit einem Chiton bekleidet ist. Unter ihrem Gürtel sprießen aus ihrem Körper Akanthusblätter hervor, dessen Ranken sich an den Seiten zu Voluten aufrollen und in Palmetten enden. Außerdem trägt die Rankenfrau auf ihrem Kopf einen Kalathos.

Das Antenkapitell von der Nordwestecke ist mit zwei beinahe identischen Reliefs verziert, die jeweils eine Rankenfrau mit den dazugehörigen Ornamenten zeigen. Vom Antenkapitell der Südwestecke wurden bei späteren Ausgrabungen nur Bruchstücke gefunden, ebenso von dem der Südostante. Dabei trat auch das Antenkapitell der Nordostante zutage. Die Anten der Ostseite bildeten ein wirklich stumpfes Wandende und waren deshalb auf drei Seiten mit Rankenfrauen geschmückt. Das nordöstliche Antenkapitell ist heute im Tempelgelände nordöstlich des Apollontempels ausgestellt (Abb. 19). Leider ist nur eine Reliefseite erhalten. Sie zeigt aber, dass die Rankenfrauen trotz generell gleicher Beschaffenheit kleine Unterschiede aufwiesen: Ihr wächst ein lanzettförmiges Blatt aus dem Schoß nach unten. Auf den beiden Reliefs des nordwestlichen Antenkapitells handelt es sich jeweils um eine Blüte bzw. um eine Palmette.


Abb. 19: Nordseite des Kapitells der nordöstlichen Ante des hellenistischen Apollontempels.

Das von Chandler und seinen Kollegen entdeckte Antenkapitell der Nordwestecke wurde 1873 von Olivier Rayet und Albert Thomas nach Paris in den Louvre gebracht, wo es heute noch ein besonderes Glanzlicht hellenistischer Architektur bildet (siehe das Kapitel zu den beiden).

Mithilfe erhaltener Inschriften und stilistischer Vergleiche konnte erschlossen werden, dass die Antenkapitelle um die Mitte des 2. Jhs. v. Chr. geschaffen wurden. Das bedeutet, dass zu dieser Zeit die Wände des Naos schon weitgehend fertiggestellt waren. Warum man die Anten des Apollontempels mit Rankenfrauen verzierte, konnte bisher jedoch nicht ergründet werden.

Ganz besonders wertvoll sind die Ansichten und Aufrisse mit Maßangaben eines korinthischen Halbsäulenkapitells. Davon gab es insgesamt nur zwei Kapitelle und sie befanden sich auf den beiden Halbsäulen an der Ostwand des Innenhofes. Heute sind beinahe sämtliche Fragmente von ihnen verloren, sodass man einzig von den Stichen der Engländer eine Vorstellung ihrer Größe und ihres Aussehens insgesamt gewinnen kann (Abb. 20).


Abb. 20: Korinthisches Halbsäulenkapitell des hellenistischen Apollontempels.

Über ihre Untersuchungen zum Apollontempel hinaus liefern die drei englischen Gelehrten weitere Informationen, die die nähere und weitere Umgebung des Tempels betreffen. So mussten sie mit Bedauern feststellen, dass seit dem Besuch von Pickering und Salter in Didyma (1673) eine Säule, ein Pilaster samt Kapitell und ein letzter noch aufrechtstehender Wandteil eingestürzt waren (siehe dazu die Zeichnung von Salter [Abb. 4] sowie den Stich von Revett [Abb. 16]).

Einen ganz wichtigen Hinweis geben die drei Gelehrten in einem Satz, der bisher nicht beachtet wurde: „Die deutlichen Spuren des umfangreichen Peribolos sind noch zu sehen“. Mit Peribolos bezeichnete man in der Antike die Umfassungsmauer eines Heiligtums. Bis heute konnten die Ausgrabungen in Didyma jedoch keine Reste eines Peribolos zutage fördern. Was könnten Chandler, Revett und Pars gesehen haben? Handelte es sich überhaupt um die Reste eines antiken Bauwerkes? Die mögliche Antwort darauf lieferte die zweite Expedition der Society of Dilettanti, die 1812 nach Didyma kam (siehe das Kapitel zu Gell, Gandy und Bedford).

Des Weiteren sahen Chandler, Revett und Pars in der Nähe des Apollontempels die Ruinen mehrerer eingestürzter Kapellen; außerdem die Überreste vieler eingefallener Wohnhäuser, einige Brunnen und eine große Anzahl von Kalköfen. Eine Tempelruine aus Marmor lieferte nämlich alle nötigen Materialien für den Hausbau: Die Marmorblöcke konnte man zu handlichen Bruchstücken zerkleinern. Aus den Marmorsplittern wurde Kalk gebrannt, der für den Mörtel nötig war.

Interessanterweise fielen den drei Engländern auch zwei kleine eingestürzte Moscheen beim Apollontempel auf. Folglich kann man alle diese Überreste nicht nur der byzantinischen Siedlung zuordnen, die sicher bis etwa 1300 existierte. Danach siedelten sich offenbar seldschukische Türken im damaligen Hieron an. Wie lange der Ort Hieron später noch bewohnt war, ist nicht genau bekannt. Ob bei Cyriacus von Anconas Besuch 1446 noch Griechen und Türken dort wohnten, kann anhand seiner Aufzeichnungen nicht erschlossen werden. Allgemein geht man davon aus, dass spätestens mit dem Erdbeben von 1493 Hieron verlassen wurde (siehe das Kapitel zu Cyriacus von Ancona).

Wann sich Türken nordöstlich von Hieron in Ura (später Turko-Jeronda) niederließen, ist ebenfalls nicht bekannt (Karte 2). Jedenfalls bildete Ura die nächstgelegene Siedlung, als Chandler, Revett und Pars Didyma besuchten. Die Ruinen des Apollontempels wurden aber auch damals schon als Steinbruch genutzt. Denn als Robert Wood 1750 einen kurzen Abstecher nach Didyma machte, traf er zwei türkische Steinmetze an, die aus Marmorblöcken Grabmäler herstellten. Doch eine wirkliche Neubesiedlung Didymas setzte erst um 1780 ein, wie im Kapitel zu James Dallaway genauer zu lesen sein wird.

Richard Chandler, Nicholas Revett und William Pars erfüllten ihren Auftrag, den sie von der Society of Dilettanti bekommen hatten. Schon im Herbst 1764, ein Jahr früher als bisher zu lesen, untersuchten sie die nähere Umgebung von Didyma und gaben von ihr sowie der Ruine des Apollontempels die bis dahin genaueste Beschreibung. Als erste versuchten sie, den Grundriss des Tempels zu erschließen. Dies gelang zwar nicht, aber dafür konnten sie den Bau richtig als dekastylen Dipteros einordnen. Darüber hinaus lieferten sie teilweise exakte Zeichnungen einzelner Bauglieder, auch von solchen, die heute verloren sind, wie den korinthischen Kapitellen. Dies stellt eine enorme Leistung für ihren kurzen Aufenthalt dar.

Vom 25. März bis zum 8. August 1765 unternahmen Chandler, Revett und Pars weitere Touren von Smyrna aus. Ab dem 11. Mai bildete nicht mehr die Stadt Smyrna ihren Ausgangspunkt, sondern ein Dorf etwas weiter südlich. Dies war nötig, da in Smyrna wieder die Pest ausgebrochen war. Außerdem war im Norden der Stadt eine Art Bürgerkrieg zwischen lokalen Machthabern im Gange, sodass die Engländer eine baldige Abreise ins Auge fassten.

Am Dienstag, dem 20. August 1765, war es dann endlich so weit. Sie hatten eine Zweimastbark gemietet mit 14 Mann Besatzung und stachen am Morgen darauf in See.

Die nun folgenden Erlebnisse in Griechenland kann man im Reisebericht Richard Chandlers „Travels in Greece“ von 1776 nachlesen. Der Aufenthalt der Engländer in Griechenland dauerte bis zum 1. September 1766, als sie sich auf der Insel Zakynthos einschifften, um nach England zurückzukehren, wo sie am 2. November 1766 ankamen.

Das Apollonheiligtum von Didyma

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