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Cyriacus von Ancona – 1446
ОглавлениеLeben des Cyriacus von Ancona – Seine Reise nach Milet und Didyma – Archaische Metropole Milet – Von Didyma zu Jeronda/Yoran – Latmischer Golf – Schatzstiftung von 288/87 v. Chr. – Didyma in archaischer und hellenistischer Zeit – Beschreibung des Apollontempels – Erdbeben 1493
Im Jahr 1446 reiste Cyriacus von Ancona nach Didyma (heute Didim in der Westtürkei). Er war vermutlich der letzte Europäer, der den riesigen Apollontempel von Didyma sah, bevor er durch ein Erdbeben einstürzte. Cyriacus erlebte im 15. Jh. eine Zeitenwende: Nur sieben Jahre nach seinem Besuch in Didyma endete die Antike endgültig, als 1453 die Hauptstadt des Byzantinischen Reiches, Konstantinopel (heute Istanbul), von den osmanischen Türken erobert wurde. Bis dahin hatte die antike Gesellschaft mit christlicher Prägung noch existiert.
In Europa war das anders. Dort hatte die Antike mit dem Beginn des Mittelalters im 6. Jh. n. Chr. geendet. Erst im 14. Jh. wandte man sich in Italien wieder der Kultur des klassischen Altertums zu. Diese „Renaissance“ erfasste schließlich ganz Europa. Im 15. Jh. wurde der Begriff des „Mittelalters“ geprägt, womit man die Epoche zwischen Antike und Neuzeit bezeichnete.
Das Interesse an den Griechen und Römern war verantwortlich dafür, dass sich Cyriacus von Ancona aufmachte, den östlichen Mittelmeerraum zu bereisen und zu erforschen. Auf diese Weise gelangte er 1446 nach Didyma, wo die antike Kultur jedoch schon seit etwa 1300 erloschen war, als seldschukische Türken das Gebiet erobert hatten.
Doch was brachte Cyriacus von Ancona dazu, sich der griechisch-römischen Antike zuzuwenden? 1391 wird er als Ciriaco de’ Pizzecolli in Ancona geboren. Nach der Schule absolviert der Sohn einer verarmten Witwe eine kaufmännische Lehre. Sein Beruf führt ihn 1412 zum ersten Mal in den Orient. Von Alexandria aus begibt er sich nach Rhodos und Chios. Anschließend sucht er die Ruinen der antiken Metropole Milet auf. Er besichtigt das große Theater und Reste anderer erhabener Gebäude. Dass er damals schon in das 15 Kilometer südlicher gelegene Didyma kam, wird von seinem Biographen, Francesco Scalamonti, nicht berichtet.
Die nächsten Jahre in Cyriacus’ Leben sind von weiteren Reisen geprägt. Besonders beeindruckt ihn 1418 sein erster Aufenthalt in Konstantinopel. Cyriacus beginnt Lateinisch und später auch Griechisch zu lernen. Ein Schlüsselerlebnis für ihn lag im Herbst 1421: Damals fielen Cyriacus zum ersten Mal die Abdrücke von Bronzebuchstaben auf dem Trajansbogen in Ancona auf. Dieser eintorige Bogen war einst zu Ehren des römischen Kaisers Trajan (98–117 n. Chr.) errichtet worden. Noch niemand vor Cyriacus hatte versucht, die verlorengegangene Inschrift zu entziffern. Aber ihm gelang es und er erkannte, dass das Monument für den Kaiser, seine Frau Plotina und seine Schwester Marciana 114 n. Chr. gestiftet worden war, nachdem Trajan den Hafen von Ancona ausgebaut hatte.
Cyriacus sah antike Texte und Bauwerke plötzlich im Zusammenhang. Diese Erkenntnis bildete die Grundlage für den Beginn der klassischen Altertumswissenschaften. Cyriacus war somit der erste Epigraphiker und Archäologe, eine Kombination, die es heute kaum mehr gibt.
1430 war wieder ein wichtiges Jahr in Cyriacus’ Leben. Nachdem er viele Altertümer Italiens und vor allem Roms gesehen hatte, entstand in ihm der Wunsch, nach Griechenland und Westkleinasien (heute Westtürkei) zu reisen. Deshalb begab er sich nach Adrianopel (heute Edirne), der damaligen Hauptstadt des Osmanischen Reiches. Dort erhielt Cyriacus von Sultan Murad II. die Erlaubnis, alle antiken Stätten im Osmanischen Reich besuchen zu dürfen.
Ein Jahr später wurde ein Bekannter von Cyriacus zum Papst gewählt. Von nun an setzte sich Cyriacus für einen Kreuzzug gegen die Türken ein. Papst Eugen IV. sollte die West- und Mitteleuropäer mit den Griechen und der Orthodoxen Kirche vereinen, um die Türken aus den Gebieten des klassischen Altertums zu vertreiben und dort die weitere Ausplünderung der antiken Ruinen zu verhindern. Bis zur Realisierung des Kreuzzuges vergingen jedoch noch viele Jahre. Unterdessen nutzte Cyriacus ausgiebig seine Reiseerlaubnis im Osmanischen Reich. 1432 gelangte er zu dem sehr gut erhaltenen Hadrianstempel von Kyzikos bei der heutigen Stadt Bursa am Marmarameer. Dieser unter dem römischen Kaiser Hadrian (117–138 n. Chr.) errichtete Tempel wies die größten Säulen des Altertums auf; eine war jeweils 21,30 m hoch. Damals standen noch 31 Säulen aufrecht. Aber die Einwohner von Bursa waren dabei, den Tempel abzutragen, um Baumaterial zu gewinnen. Cyriacus sprach beim osmanischen Gouverneur vor, um diesem Raubbau Einhalt zu gebieten. Doch bei einem späteren Besuch stellte sich heraus, dass er damit wenig Erfolg gehabt hatte. Und heute ist nur noch das Fundament des Tempels mit wenigen Baugliedern vorhanden.
Das Jahr 1432 nutzte Cyriacus weiter auf vielfältige Weise: In Konstantinopel traf er den byzantinischen Kaiser Johannes VIII. Palaiologos, um ihn von seinen Kreuzzugsplänen zu unterrichten. Außerdem gelang es ihm dort, ein Exemplar von Strabons Geographie zu kaufen. Von dieser Beschreibung der Welt um Jesu Geburt war bis dahin kein Exemplar nach Italien gekommen. Darin ist auch Milet mit seinem Apollonheiligtum von Didyma enthalten (Strabon, Geographica 14,1,2–11). Dieser Abschnitt erwies sich bei seinem späteren Aufenthalt dort als besonders wertvoll.
Als Cyriacus nach Rom zurückgekehrt war, bekam er eine Audienz bei Papst Eugen IV. Dieser vertröstete ihn aber mit der Idee eines Kreuzzuges auf später. Auch hier setzte sich Cyriacus für den Erhalt der antiken Bauten Roms ein. In den folgenden Jahren war er viel in Griechenland unterwegs. 1438 dokumentierte er den Tempel der Athena Parthenos auf der Akropolis von Athen. Seine Zeichnung liefert wertvolle Hinweise zum ursprünglichen Aussehen dieses weltberühmten Baues, bevor er 1687 bei einer Pulverexplosion stark beschädigt wurde.
1439 einigten sich die katholische und die orthodoxe Kirche auf einem Konzil in Florenz, die Kirchenspaltung von 1054 zu beenden. Ein gemeinsamer Kreuzzug schien möglich. Papst Eugen IV. proklamierte ihn am 1. Januar 1443. Doch schon im November 1444 endete er vorerst mit der Niederlage des polnischen Königs Wladislaw III. bei Varna (Bulgarien), der vom osmanischen Sultan Murad II. geschlagen wurde. Schließlich konnte auch die Aufhebung der Kirchenspaltung im Byzantinischen Reich nicht durchgesetzt werden.
Cyriacus reiste weiterhin viel und hatte keine Bedenken, 1445 beim Sultan vorzusprechen, um erneut eine Reiseerlaubnis für das ganze Osmanische Reich zu erhalten. Nachdem er sie bekommen hatte, setzte Cyriacus seine Entdeckungstouren mit diplomatischen und kaufmännischen Zwecken fort. Schließlich gelangte er wieder in das Gebiet des antiken Ioniens, welches etwa in der Mitte der heutigen türkischen Westküste lag (Karte 1).
In einem Brief berichtet Cyriacus, dass er und seine Begleiter am 29. Januar 1446 von der griechischen Insel Chios zur benachbarten Insel Samos abfuhren. Dort angekommen ankerten sie im Hafen von Pythagorion. Am nächsten Morgen, einem Sonntag, lichteten sie zur vierten Nachtwache (bei Sonnenaufgang) die Anker und brachen nach Milet auf, dessen Hafen sie noch vor Mittag erreichten. Von dort aus liefen sie 30 Stadien (etwa 5,4 Kilometer) zu Fuß nach Palatia. Dies war der Name, den das Dorf bei den antiken Ruinen mittlerweile erhalten hatte. Er lebt bis heute weiter, denn das türkische Dorf bei Milet nennt sich noch immer „Balat“ (Karte 2).
Milet war im Altertum eine Großstadt dank seiner günstigen Lage auf einer Halbinsel, von der aus wichtige Handelswege ins Landesinnere führten. Die Stadt des 7./6. Jhs. v. Chr. dehnte sich über eine größere Fläche aus als die der hellenistischen und römischen Zeit. In dieser archaischen Epoche war Milet sogar berühmter als Athen. Männer Milets begründeten die sogenannte Naturphilosophie, zu denen Thales von Milet zählt (um 624 bis etwa 547 v. Chr.). Das bedeutendste Heiligtum innerhalb Milets hatte man Apollon Delphinios geweiht, es diente zugleich als Staatsarchiv. Außerdem gab es in der Stadt je ein Heiligtum für Dionysos, für Artemis Kithone und für Athena, welches sich auf dem Gebiet der minoischen und mykenischen Siedlung des 3. bzw. 2. Jahrtausends v. Chr. befand. Wenig außerhalb Milets wurden Aphrodite Oikous und Athena Assessia verehrt. An den Außengrenzen der Stadt im Süden lagen ein Altar für Poseidon (siehe das Kapitel zu Chishull) und das wichtigste Heiligtum Milets überhaupt: das Orakelheiligtum von Didyma, wo Apollon und Artemis die Hauptgottheiten darstellten, aber vielen weiteren Göttern gehuldigt wurde.
Eine einmalige Besonderheit stellen die Tochterstädte, die Kolonien, dar, die von Milet aus im 7./6. Jh. v. Chr. gegründet wurden. Es handelt sich um über 90 Städte, die Zeugnis geben von der Leistungsfähigkeit ihrer Metropole in Ionien. Die hauptsächlich am Schwarzen Meer errichteten Kolonien waren geprägt von ihrer Mutterstadt. Sie bedienten sich z.B. des milesischen Kalenders oder der milesischen Beamtennamen oder verehrten die Götter ihrer Metropole.
Doch zu Beginn des 5. Jhs. v. Chr. wurde Milet nach einem Aufstand von den Persern zerstört. Erst in hellenistischer Zeit blühte die Stadt wieder auf. Aus der nachfolgenden römischen Kaiserzeit stellt das Theater das eindrucksvollste Monument dar. Cyriacus bewunderte es schon 1412 bei seinem ersten Besuch. Bei seinem zweiten Aufenthalt 1446 gab er die Breite der Front des Theaters mit 200 Ellen und seine Höhe mit 60 Ellen an; tatsächlich ist es 140 m breit und etwa 28 m hoch. Überdies erwähnt er die zwei großen und reich verzierten Frontportale des Theaters, die heute noch bewundert werden können (Abb. 1).
Abb. 1: Milet. Ansicht des Theaters.
Keine Zweifel hatte Cyriacus, dass er sich am Ort des antiken Milets befand. Die Erinnerung daran war nie verloren gegangen, weil es seit der Antike kontinuierlich besiedelt gewesen war. Außerdem entdeckte Cyriacus an einer Ecke des Theaters eine Inschrift, die die Polis Milet erwähnt. Er dokumentierte zwei weitere Inschriften, die auch im Hinblick auf Didyma interessant sind: Eine Ehrung für Julia Artemo, die in Didyma Artemispriesterin war. Des Weiteren sah er eine Statuenbasis mit Inschrift für den spätrömischen Kaiser Julian Apostata (361–363 n. Chr.). Dieser war vom Christentum abgefallen und wollte dem Heidentum wieder zu neuer Blüte verhelfen. Julian, ein Neffe des ersten christlichen Kaisers Konstantin des Großen, ordnete daher an, dass alle Kapellen für Märtyrer rund um den Apollontempel von Didyma abzureißen seien (Sozomenos, Historia ecclesiastica 5,20,7). Aber seine Bemühungen, die heidnischen Kulte zu stärken, waren nicht von Dauer, weil er nach nur zwei Jahren Herrschaft in einer Schlacht gegen die Perser starb.
Cyriacus blieb zwei Tage in Palatia, damit die genuesischen Kaufleute, die mit ihm reisten, mit den Einheimischen Handel treiben konnten. Anschließend machte sich die Gruppe zu Fuß nach Didyma auf. Noch einige Jahrhunderte zuvor hätten sie ein Schiff benutzen können, weil Milet ursprünglich eine Hafenstadt gewesen war. Doch Ablagerungen des Flusses Mäander hatten den Hochseehafen Milets unbenutzbar werden lassen.
Cyriacus beschreibt außerdem einen großen See bei Milet der 300 Stadien (etwa 54 Kilometer) Umfang hat. Dieser See existiert heute noch und heißt Bafa Gölü. Sein Wasser ist salzhaltig und reich an Fischen; über beides berichtet Cyriacus. Der Salzgehalt kommt daher, weil es sich bei dem See ursprünglich um einen Meerbusen handelte, der in der Antike „Latmischer Golf “ hieß. Der See entstand erst zwischen dem 10. und 13. Jh., und zurzeit des Cyriacus hatte er nur noch über einen Flussarm Verbindung zum Mäander (Karte 3).
Cyriacus und seine Gefährten liefen von Milet südwestlich in Richtung Küste und dann die selbige entlang nach Didyma, wobei sie die Entfernung mit 100 Stadien (etwa 18 Kilometer) richtig überlieferten. Cyriacus berichtet, dass der Ort, der einst Didyma genannt wurde, nun Geronta hieße wegen der ungeheuren Höhe des marmornen Gebäudes dort. Dabei würde der Name „Geronta“ „antiker Palast“ bedeuten. Die Bezeichnung „Geronta“ geht allerdings zurück auf die nachantike Benennung Didymas mit „Hieron“, was auf Griechisch „(heidnisches) Heiligtum“ heißt. Daraus entstand später der Name „Hieronda“ oder „Jeronda“ (oder eben „Geronta“), der bis heute verkürzt zu „Yoran“ weiterlebt (Abb. 2).
Abb. 2: Apollontempel von Südosten.
In Didyma befand sich also ein von den Milesiern gebauter Apollontempel. Cyriacus berichtet weiter, dass seine riesigen Säulen und Wände aus Marmor gemacht seien. Wahrhaftig außerordentlich sei dieser Tempel. Dem Hadrianstempel von Kyzikos stünde er nur nach bezüglich seiner Ausstattung mit Skulpturen und Reliefs. Sonst sei der Apollontempel nicht kleiner als der Hadrianstempel, was Cyriacus auf einer Zeichnung demonstrierte. Leider ist diese Zeichnung zusammen mit weiteren Aufzeichnungen verloren gegangen. In Cyriacus’ Brief ist allerdings noch der Anfang einer wichtigen Inschrift aus dem 3. Jh. v. Chr. überliefert, die ihn erkennen ließ, dass die Einwohner Milets den Apollontempel hatten bauen lassen.
Bei dieser griechischen Inschrift handelt es sich um einen Brief, in dem eine Stiftung wertvoller Kultgefäße aus Gold, Silber und Bronze angekündigt wird; wobei goldene Gerätschaften mit einem Gewicht von etwa 14 Kilogramm genannt werden. Der Anfang der Inschrift ist heute verloren, sodass der Brief des Cyriacus für die ersten 21 Zeilen eine wichtige Quelle darstellt. Mit seiner Hilfe gelang es, die Inschrift in die Jahre 288/87 v. Chr. zu datieren. Der Absender des Briefes war der hellenistische König Seleukos I. (305–281 v. Chr.), einer der Nachfolger Alexander des Großen.
Seleukos I. begründete die Dynastie der Seleukiden, die den Bau des hellenistischen Apollontempels maßgeblich förderte. Cyriacus sah noch große Teile dieses gewaltigen Bauwerkes aufrecht stehen, welches gegen 330 v. Chr. begonnen worden war. Eine erste Blütezeit hatte das Apollonheiligtum von Didyma zusammen mit Milet schon in archaischer Zeit erlebt. Apollon fungierte in Didyma als Orakelgott und sein Orakelheiligtum war nach Delphi das berühmteste in der antiken Welt, in das sogar ägyptische Pharaonen Geschenke weihten. Doch mit der Zerstörung Milets 494 v. Chr. durch die Perser verstummte das Orakel von Didyma, das heißt die Orakelquelle im Innern des Apollontempels versiegte.
Nachdem Alexander der Große 334 v. Chr. Ionien von den Persern befreit und Milet erobert hatte, begann die zweite Blütezeit Didymas. Über die Anfänge davon wurde im Werk „Die Taten Alexanders“ des Kallisthenes berichtet (ein Auszug bei Strabon, Geographica 17,1,43). Darin heißt es, dass die Orakelquelle von Didyma nach der Befreiung Milets wieder aufsprudelte. Die Milesier schickten 331 v. Chr. eine Delegation zu Alexander nach Memphis in Ägypten, um ihm günstige Orakelsprüche aus Didyma zu überbringen. Beispielsweise sagte Apollon voraus, dass Alexander die Perser endgültig bei Gaugamela besiegen werde.
Ob sich diese Episode tatsächlich so ereignete, ist fragwürdig. Dennoch macht sie es wahrscheinlich, dass die „Wiederbelebung“ des Orakels von Didyma in Angriff genommen wurde, unmittelbar nachdem Milet von den Persern befreit worden war. Denn damals begannen die Milesier, Apollon einen neuen Tempel in Didyma zu errichten. Dieser Tempel sollte zu den größten der Antike überhaupt gehören, nur die Bauten für Artemis in Ephesos und Hera auf Samos übertrafen ihn. Der Apollontempel nahm eine Grundfläche von 60 x 118 m ein (Plan 3). Auf einem Unterbau mit sieben Stufen erhob sich der von Säulen umfasste, eigentliche Tempelbau. Dieser rechteckige Naos misst 29 x 87 m an seinen Außenwänden und ist heute noch zum großen Teil erhalten. Die Gesamthöhe des Tempels betrug knapp 27 m, wobei eine Säule 19,70 m hoch war.
Der Naos besaß im Osten auf seiner Eingangsseite zwei kleinere überdachte Räume und einen großen Innenhof im Westen. In diesem Innenhof befand sich ein kleiner tempelartiger Bau (Naiskos), der die Kultstatue des Apollon beherbergte. Vor dem Naiskos lag die Orakelquelle und ein Apollon heiliger Lorbeerbaum. Der Entwurf des Apollontempels sah vor, den Naos mit zwei Reihen ionischer Säulen zu umgeben. Von diesen 108 Säulen konnten bis zum Ende der Antike jedoch nicht alle aufgestellt werden.
Welcher Anblick bot sich Cyriacus von Ancona dar, als er im Februar 1446 nach Didyma kam? Wahrscheinlich standen der Naos und zumindest einige Säulen des Apollontempels noch aufrecht, denn Cyriacus erwähnt die riesigen marmornen Säulen und Wände des Tempels. Wäre seine Zeichnung erhalten, wüsste man es genauer.
Wie die späteren archäologischen Forschungen zeigten, gab es in Didyma aber noch weitere Gebäude, wie z.B. ein Theater oder den Tempel der Artemis, von denen Cyriacus nichts schreibt (siehe die Kapitel zu Furtwängler und zu Bumke). Sie werden allerdings auch nicht in den Werken der antiken Schriftsteller genannt. Dort geht es immer nur um den monumentalen Apollontempel; so in der schon genannten Geographie des Strabon. Aber weil das Orakelheiligtum von Didyma 15 Kilometer südlich von Milet lag, musste es noch andere Bauten besitzen, um beispielsweise die Priester und Besucher des Orakels zu beherbergen und zu versorgen. Von ihnen war zurzeit des Cyriacus offensichtlich nicht mehr viel erhalten. Kenntnis von ihnen hätten Cyriacus nur Inschriften bringen können, die jedoch erst bei späteren Ausgrabungen zutage traten.
Für den Bau des hellenistischen Apollontempels hatte man hauptsächlich weißen Marmor verwendet, der in der Nähe des schon erwähnten Latmischen Golfes abgebaut wurde. Nur die nicht sichtbaren Bereiche, wie die Fundamente oder die Füllungen der Wände, bestanden aus Kalkstein. Cyriacus hat also recht, wenn er von einem Tempel aus Marmor spricht. Seine Fertigstellung überforderte jedoch die Polis Milet, und viele Säulen auf der südlichen und nördlichen Langseite wurden nie errichtet. Den Naos hatte man aber bis zum 1. Jh. v. Chr. weitgehend fertigstellen können. In seinem ersten Vorraum befanden sich immerhin zwölf Säulen und im zweiten Vorraum noch einmal zwei Säulen. Deswegen werden die beiden Räume Zwölf- bzw. Zweisäulensaal genannt (Plan 3).
In der römischen Kaiserzeit gelang es, die 20 Frontsäulen davor aufzustellen und die meisten Säulen der Rückseite sowie jeweils einige auf den Langseiten. Ab dem 3. Jh. n. Chr. baute man den Apollontempel nach und nach zu einer Festung aus; wofür er sich mit seinen hohen Wänden und nur einem Eingang im Osten gut eignete. Des Weiteren errichtete man um 500 n. Chr. eine Kirche im Innenhof des Tempels. Spätere Erdbeben verursachten Schäden, die aber nur teilweise beseitigt wurden. Dabei werden sicher schon einige Säulen eingestürzt sein. Die Kirche im Innern wurde zerstört und auch die Säulen des Zwölfsäulensaales. Der Bau musste auf Cyriacus wie ein Palast oder eher wie eine Festung gewirkt haben, weil die Zwischenräume der Frontsäulen vermauert waren und einbanden in die Wände des Naos. Jedoch war Cyriacus stark beeindruckt von der enormen Größe des Bauwerkes.
Knapp 50 Jahre nach seinem Besuch in Didyma gab es ein schweres Erdbeben, bei dem die Tempelwände und die meisten Säulen einstürzten. Wahrscheinlich ereignete es sich am 18. Oktober 1493, denn damals sollen auf der nahen Insel Kos 5000 Menschen umgekommen sein. Wenn diese Zahl stimmt, wäre dieses Erdbeben das schlimmste in der Geschichte von Kos gewesen. Bei diesem Beben der Stärke 6,9 wurde das etwa 60 Kilometer entfernte Didyma stark in Mitleidenschaft gezogen. Vor dieser Katastrophe von 1493 sah Cyriacus als letzter Besucher der schon angebrochenen Neuzeit den Apollontempel. Aber auch heute nach seiner Ausgrabung ist er immer noch der am besten erhaltene Tempel an der türkischen Westküste. Jeder Besucher ist überwältigt, wenn er vor dem einst 27 m hohen Bau steht oder in sein Inneres hinabsteigt.
Cyriacus blieb nicht lange in Didyma, sondern reiste auf die Insel Chios weiter. Bis Mitte des Jahres 1447 hielt er sich auf den ägäischen Inseln und an der heutigen türkischen Westküste auf. Erst dann begab er sich nach Griechenland. Bis zum Winter 1448/49 blieb Cyriacus dort, ehe er nach Italien übersetzte. Mittlerweile war auch der Kreuzzug gegen die Türken endgültig gescheitert, nachdem die Osmanen die Europäer auf dem Amselfeld (Kosovo) im Oktober 1448 geschlagen hatten. An einen neuen Kreuzzug war nicht zu denken, auch weil Cyriacus Verbündeter, Papst Eugen IV., gestorben war, und zwar bereits im Februar 1447.
Über die Zeit nach Cyriacus’ Ankunft in Italien gibt es nur wenige Zeugnisse. Offensichtlich war ihm bis zu seinem Tod kein Aufenthalt mehr im Gebiet des antiken Griechenlands möglich. Vermutlich starb er schließlich 1452 in Cremona.
Bei Cyriacus von Ancona handelte es sich um eine überaus vielseitige Persönlichkeit. Er wird u.a. bezeichnet als Händler, Buchhalter, Politiker, Reisender, Spion, Humanist und als Altertumsforscher. Letzterer „Beruf “ ist für dieses Kapitel besonders wichtig. Tatsächlich kann er als Begründer der modernen Archäologie gelten; wobei moderne Archäologen kaum solche Interessen wie Cyriacus aufweisen. Seine Verbindung von schriftlichen Quellen, seien es antike Autoren oder Inschriften, mit den Überresten der antiken Bauten blieb allerdings für lange Zeit einzigartig. Das wird auch an der Erforschung Didymas erkennbar, die ihre Fortsetzung erst im 17./18. Jh. fand.
Damals hatte man anfangs sogar Probleme, Didyma als den Ort des antiken Apollonheiligtums überhaupt identifizieren zu können. Cyriacus war dies gelungen, indem er die Erdbeschreibung Strabons benutzte und die in Milet und Didyma sichtbaren Inschriften entzifferte. Seiner Beschreibung des Apollontempels ist außerdem zu entnehmen, dass das Bauwerk Mitte des 15. Jhs. noch weitgehend aufrecht stand. Nur deshalb konnte erschlossen werden, dass der einst weltberühmte Bau erst 1493 bei einem Erdbeben einstürzte. Ansonsten könnte man vermuten, dass dies schon einige Jahrhunderte zuvor geschehen wäre.
Weiterhin zeigt die Beschreibung des Cyriacus, dass zu seiner Zeit von den anderen antiken Gebäuden im Apollonheiligtum nichts oder nur wenig zu sehen war. Dieser Befund deckt sich mit den späteren Überlieferungen der Reisenden und Forscher. Im Zuge einer starken Besiedlung des Gebiets um den Apollontempel schon in spätantiker Zeit waren offensichtlich alle anderen Gebäude abgetragen und als Baumaterial benutzt worden. Erst die Ausgrabungen in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. und am Beginn des 21. Jhs. sollten dieses Bild ändern, als die Fundamente dieser Bauten zum Vorschein kamen.