Читать книгу Das Apollonheiligtum von Didyma - Ulf Weber - Страница 13
William Gell, John P. Gandy und Francis Bedford – 1812
ОглавлениеReise nach Didyma – Caesars Gefangenschaft auf einer nahen Insel – Jeronda wächst und der Apollontempel dient als Steinbruch – Vitruv und die Architekten des hellenistischen Apollontempels – Die Maßeinheit „Fuß“ und der Plan des Apollontempels – Antike Inschriften zum Tempelbau – Die unvollendete Säule – Metrologie und die griechische Baukunst – Die Umgebungskarte Didymas von William Gell – Eine dorische Säulenhalle?
Im Jahr 1811 sandte die englische Society of Dilettanti eine zweite Expedition nach Westkleinasien aus, um die antike Architektur Ioniens zu studieren. Der später zum Sir erhobene William Gell hatte die Leitung inne, und ihn unterstützten zwei Architekten, nämlich John Peter Gandy und Francis Bedford. Die erste Expedition der Society war von 1764 bis 1766 in Westkleinasien und Griechenland unterwegs gewesen, wobei sie im Oktober 1764 Didyma besucht hatte (siehe das Kapitel zu Chandler, Revett und Pars).
Die Unternehmung der Jahre 1811 bis 1813 war von der Society of Dilettanti mit mehr finanziellen Mitteln als die von 1764 ausgestattet worden. Ihre Hauptaufmerksamkeit galt der Architektur der antiken Landschaft Ionien. Bereits die Mitglieder der ersten Expedition hatten dazu wichtige Erkenntnisse gesammelt. Diese sollte die zweite noch vermehren und Fehler der ersten Mission korrigieren. Das gelang, und infolgedessen war es der Society möglich, eine neue, verbesserte Ausgabe der Erstauflage von 1769 erscheinen zu lassen. Dieser erste Band der jetzt „Antiquities of Ionia“ genannten Reihe kam 1821 heraus. Darin werden der Dionysostempel von Teos, der Athenatempel von Priene, der Apollontempel von Didyma, der Zeustempel von Euromos (fälschlich für Labraunda gehalten) und der Heratempel von Samos vorgestellt.
William Gell, John P. Gandy and Francis Bedford verließen am 5. Oktober 1811 England. Nach einer Zwischenstation auf der Insel Zante (heute Zakynthos), segelten sie weiter nach Athen. Von dort war aber wegen schlechten Wetters eine sichere Überfahrt nach Smyrna nicht gleich möglich. Deshalb begaben sie sich ins nahe Eleusis, um im dortigen Demeterheiligtum Ausgrabungen durchzuführen. Schließlich konnten die englischen Forscher am 30. April 1812 Athen verlassen und trafen am 6. Mai in Smyrna ein. Dort blieben sie bis zum 17. Mai und brachen anschließend nach Klazomenai (heute Urla) auf. Von der nahen Insel Chios fuhren sie weiter zur Insel Samos, von der sie am 19. Juni 1812 nach Didyma übersetzten (Karte 1).
Kurz nach ihrer Abfahrt wurden sie von einem fremden Boot vor Piraten auf der nahen Insel Gaidrounisi (heute Agathonisi) gewarnt. Als sie jedoch an der Insel vorbeisegelten, ließen sich keine Piraten blicken und die Engländer erreichten sicher den Hafen von Didyma in der Kowella-Bucht (im Altertum Panormos genannt).
So viel Glück hatte ein berühmter Reisender lange Zeit vor ihnen nicht gehabt. 75/74 v. Chr. war Gaius Iulius Caesar unterwegs auf einer Bildungsreise zur Insel Rhodos. Er hatte denselben Weg wie Gell, Gandy und Bedford genommen und wurde von Piraten entführt. Zu dieser Zeit machten Piraten viele Gebiete des Mittelmeers unsicher und hielten sich auch auf den Inseln Agathonisi und Farmakonisi auf, die Milet und Didyma vorgelagert sind. Wie der antike Schriftsteller Plutarch (etwa 45 bis 125 n. Chr.) berichtet, wurde Cäsar auf die nur vier Quadratkilometer große Insel Farmakonisi verschleppt. Dort soll er 38 Tage in Gefangenschaft verbracht haben. Anfangs wussten die Entführer wohl nicht, wen sie gefangen hatten, denn sie forderten nur 20 Talente Silber Lösegeld. Schließlich bot Caesar ihnen 50 Talente an. Auch sonst scheint es Caesar auf Farmakonisi nicht schlecht ergangen zu sein. Plutarch schreibt, dass Caesar den Piraten immer befahl, ruhig zu sein, wenn er sich hinlegte und schlafen wollte.
Das geforderte Lösegeld wurde Caesar schließlich vom nahen Milet aus überbracht, und man entließ ihn dorthin in die Freiheit. In Milet besorgte sich Caesar Soldaten und Schiffe, segelte wieder zurück zur Insel und nahm die Piraten gefangen. Die Geschichte ist aber damit noch nicht zu Ende: Caesar brachte seine Entführer nach Pergamon, um sie dort bestrafen zu lassen. Da dies aber nicht geschah, übte er schließlich Selbstjustiz und ließ sie kreuzigen (Plutarch, Caesar 1,8–2,7).
Diese Episode aus Caesars Leben ist ziemlich bekannt und taucht immer wieder in Zeitungen und Zeitschriften auf. Aber kaum einer weiß, wo sie sich abspielte. Doch in Didyma ist man vom Schauplatz nur 10 Kilometer entfernt: So viel beträgt die Entfernung zwischen Kap Monodendri, dem antiken Poseidonheiligtum an der Südwestspitze der milesischen Halbinsel (siehe das Kapitel zu Chishull), und der Insel Farmakonisi. Nicht weit von dem Kap gibt es noch einsame Strände (neben einer Kläranlage), von denen aus man die beste Sicht auf die Inseln Farmakonisi und Agathonisi hat. Piraten gibt es zwar keine mehr, aber dafür treiben Schlepperbanden ihr Unwesen. Nicht selten geschieht es, dass Flüchtlinge aus der Macchia auftauchen, in winzige Schlauchboote einsteigen und versuchen hinaus auf See zu fahren, um eine der beiden kleinen griechischen Inseln zu erreichen.
Gell, Gandy und Bedford hielten sich für ihre Studien vom 19. bis zum 27. Juni 1812 in Didyma auf. Danach reisten sie weiter die Küste entlang bis in die antike Landschaft Lykien. Zurück ritten sie durchs Inland, und zwar durch Karien. Mithin kamen die drei englischen Forscher im Oktober 1812 noch einmal in Didyma vorbei. Von ihrem zweiten Aufenthalt berichten sie, dass die Griechen inzwischen den Terpenthin-Pistazienbaum auf dem Schutthügel des Apollontempels gefällt und aus zerschlagenen Bauteilen des Tempels eine Windmühle errichtet hätten. Überdies bestand das Dorf der neu zugezogenen Griechen bereits aus etwa 150 Häusern, für die der Apollontempel oder die byzantinisch-seldschukischen Hausreste das Baumaterial geliefert hatten.
Noch 1776 war beim Besuch des Grafen von Choiseul-Gouffier keine Rede von einer Siedlung in Didyma gewesen. Aber bereits 1794 war der Ort wiederbesiedelt, wie die Zeichnung von Gaetano Mercati zeigt. Griechen hatten sich niedergelassen und nannten ihr Dorf „Ieronta“ (oder Jeronda), abgeleitet vom byzantinischen Namen „Hieron“ (siehe die Kapitel zu Cyriacus von Ancona und zu Dallaway). Die Nutzung des Apollontempels als Steinbruch hatte nun größere Ausmaße angenommen: Kleinere, oft skulptierte Bauteile zerhackte man so klein, dass sie zu Kalk verbrannt werden konnten. Aus diesem stellte man den Mörtel her, um die größeren Bruchsteine zu verbinden, die man aus Werkstücken des Tempels gewonnen hatte.
Im Übrigen waren die Engländer nach wie vor der Meinung – gemeinsam mit den antiken Autoren Strabon und Pausanias –, dass man ursprünglich geplant hatte, den Sekos zu überdachen. Dies war ein Rückschritt, denn der Graf von Choiseul-Gouffier hatte knapp 40 Jahre vorher richtig vermutet, dass von Anfang an kein Dach für den Apollontempel vorgesehen war. In den Antiquities of Ionia von 1821 ist stattdessen zu lesen, dass bisher nirgendwo ein griechischer Tempel gefunden wurde, der hypäthral sei. Dies ist ein Begriff, der bei Vitruv auftaucht, welcher als Ingenieur in Caesars Heer diente. Vitruv schrieb zehn Bücher über die Architektur (De architectura), die er dem römischen Kaiser Augustus um 25 v. Chr. widmete.
Vitruv erwähnt auch den hellenistischen Apollontempel von Didyma und seine Architekten (De architectura 7 praef. 16): Paionios von Ephesos und Daphis von Milet entwarfen den Plan des Tempels. Paionios hatte zuvor zusammen mit einem anderen Architekten eines der Sieben Weltwunder fertiggestellt, und zwar den Tempel der Artemis von Ephesos. Sein Vorgängerbau war einer Legende zufolge im Jahr 356 v. Chr. abgebrannt, als Alexander der Große geboren wurde. Interessanterweise können in Didyma am Apollontempel tatsächlich Ungereimtheiten festgestellt werden, die für die Arbeit von zwei Architekten sprechen: Offensichtlich kamen zwei unterschiedliche Maßeinheiten zum Einsatz. Das übliche Grundmaß der Antike war der Fuß. Ein Fuß konnte jedoch verschieden lang sein. Dies war abhängig von der Gegend und dem jeweiligen Herrscher. Diese Tatsache unterschied sich kaum von der Praxis, die in Europa bis zur Einführung des Meters am Ende des 19. Jhs. verbreitet war.
Für die Planung des Grundrisses des hellenistischen Apollontempels wurde der sogenannte attische Fuß mit einer Länge von 29,42 cm verwendet. Dieser Fuß wurde nicht nur in Athen benutzt, sondern auch in anderen Gegenden Griechenlands und später im gesamten Römischen Reich mit einer Länge von etwa 29,5 cm. Den Gebrauch des attischen Fußes am Apollontempel von Didyma kann man am Rasternetz erkennen, welches die Basis für seinen Grundriss bildet. Die Mittelpunkte der Säulen und die Achsen der Wände wurden mit diesem Rasterplan festlegt. Die Abstände zwischen den Säulenachsen, auch Säulenjoch genannt, betragen immer 18 attische Fuß (durchschnittlich 5,296 m).
Wollte man dies bezweifeln, müssten die knapp 5,30 m durch ein anderes Fußmaß geteilt werden. Damit erhielte man jedoch keine ganze Zahl, welche leicht weiter unterteilt werden könnte. Dies ist im griechischen Bauwesen aber eine Voraussetzung für kleinere Abstände und Abmessungen. Daneben gibt es einen weiteren Hinweis für die Verwendung des attischen Fußes, und zwar am Tempel selbst: Bereits seit langem sind fortlaufende Buchstaben auf dem Tempelfundament bekannt, deren Sinn erst vor wenigen Jahren durch den Autor erschlossen werden konnte:
Im Innenhof, dem Sekos des Tempels, sind auf der obersten Fundamentschicht der Nordwand in regelmäßigen Abständen einzelne Buchstaben eingemeißelt, die eine Höhe von 2–5 cm haben (Abb. 28). Der durchschnittliche Abstand der 27 Buchstaben ist 1,323 m groß und entspricht damit dem Viertel eines Säulenjoches (4 x 1,324 m = 5,296 m). Der Buchstabenabstand beträgt somit 4 1/2 attische Fuß (1,324 m: 29,42 cm = 4,5).
Abb. 28: Ein Alpha (A) auf der nördlichen Euthynterie im Sekos des hellenistischen Apollontempels.
Die Buchstaben beschrifteten einen Plan aus eingravierten Linien, die auf der obersten Fundamentschicht aus Kalkstein eingeritzt sind. Bei der Errichtung griechischer Großbauten wurden auf der Euthynterie oft Vorzeichnungen angebracht. Dieser Entwurf im Zusammenhang mit dem Apollontempel ist heute zwar noch erhalten, jedoch verdeckt, weil darauf die erste Schicht aus Marmorblöcken liegt.
Die genannten Buchstaben sind sorgfältig eingemeißelt und gut erhalten. Sie können ihrer Form nach in den Zeitraum um 300 v. Chr. datiert werden. Dies stimmt mit dem vermuteten Baubeginn des Tempels nach 330 v. Chr. überein, den man aufgrund der historischen Quellen annimmt (siehe das Kapitel zu Wheler und Spon).
Die neu entdeckten Buchstaben belegen aber noch eine weitere, schon länger vermutete Grundlage des Tempelplanes: Der Naos des Apollontempels weist ein harmonisches Breiten-Längenverhältnis auf. Er ist nämlich dreimal so lang wie breit. In attischen Fuß bedeutet das, dass der Breite von 99 Fuß eine Länge von 297 Fuß zugeordnet ist (29,126 m x 87,377 m). Anders ausgedrückt besteht der Naos aus drei Quadraten mit einer Seitenlänge von je 99 attischen Fuß (Abb. 29).
Abb. 29: Grundriss des hellenistischen Apollontempels mit dem Vierteljochraster, wie es die Buchstaben auf der Euthynterie vorgeben (Raster der Übersichtlichkeit wegen nur in zwei Quadraten à 99 attischen Fuß [AF] markiert).
Auch hier ist keine Beliebigkeit möglich, wie die schon erwähnten Buchstaben auf der Euthynterie im Innenhof beweisen: Es handelt sich um die fortlaufenden Buchstaben des griechischen Alphabetes. Allerdings werden die letzten beiden Buchstaben Psi und Omega nicht benutzt. Denn nach dem 22. Buchstaben, dem Chi, beginnt die Reihe wieder mit Alpha. Folglich besteht ein Quadrat des Rasternetzes aus 22 x 4 ½ attischen Fuß, also 99 attischen Fuß Seitenlänge. Weil ein Alpha genau auf der Querachse des Apollontempels liegt, ergibt sich, dass der gesamte Rasterplan des Apollontempels aus zwei mal vier Quadraten à 99 attischen Fuß Seitenlänge zusammengesetzt ist. Jede Säule der Ringhalle, des Zweisäulen- und des Zwölfsäulensaales sowie jeder Pilaster des Innenhofes befindet sich an einer Stelle, wo sich zwei Linien des Rasters kreuzen.
In die Mitte dieser zwei mal vier Quadrate sind die drei Quadrate des Naos eingeschrieben. Dieser Entwurf mit den Proportionen 2: 4 (bzw. 1: 2) und 1: 3 bildet die Basis für den Grundriss des hellenistischen Apollontempels. Nachgewiesen ist er durch die fortlaufenden Buchstaben auf der Euthynterie und die ganzzahligen Verhältnisse, die ihr Abstand von 4 ½ attischen Fuß z.B. für das Säulenjoch (18 attische Fuß) oder die Naosbreite (99 attische Fuß) ergibt.
Mit dem attischen Fuß von 29,42 cm können jedoch die Abmessungen von Baugliedern des Tempels oder seine Außenmaße nicht ausgedrückt werden. Auch die in der Antike übliche Unterteilung eines Fußes in 16 Finger (Daktylen) und in noch weitere Untereinheiten führt zu keinem brauchbaren Ergebnis.
Mithin spricht vieles dafür, dass noch ein zweites Fußmaß benutzt wurde. Die Untersuchungen dazu wurden in den letzten Jahren hauptsächlich von dem Salzburger Archäologen Wolfgang Sonntagbauer durchgeführt. Sie konnten aber wegen ihres erheblichen Umfanges noch nicht abgeschlossen werden. Dennoch sind drei eindeutige Belege für die Verwendung eines zweiten Fußmaßes am Apollontempel vorhanden: Zwei Hinweise finden sich in den antiken Inschriften, die über den Fortgang des Tempelbaues berichten. In diesen Bauberichten werden auch die Abmessungen einzelner Bauglieder oder ganzer Bereiche des Apollontempels genannt. Dafür wird die Bezeichnung Fuß, Quadratfuß oder Kubikfuß benutzt.
Natürlich informieren die Inschriften nicht darüber, wie lang ein solcher Fuß war. Aber zweimal lässt sich dies leicht feststellen: Eine Säulenplinthe, also das quadratische Unterteil einer Säule, maß einer Inschrift gemäß genau 81 Quadratfuß. Folglich hatte die Plinthe 9 Fuß Seitenlänge. Die durchschnittlich gemessene Seitenlänge einer dieser zahllosen Säulenplinthen am Apollontempel beträgt 2,70 m. Teilt man diesen Wert durch Neun, kommt man auf 30,0 cm. Somit wäre dieser Fuß etwa einen halben Zentimeter größer als der attische Fuß (29,42 cm).
Des Weiteren wird in einer anderen Bauinschrift die Breite der sogenannten Krepis des Tempels mit 200 Fuß angegeben, wie Lothar Haselberger herausfand. Mit dem Begriff „Krepis“ bezeichnet Vitruv den Stufenunterbau des Naos. An seiner untersten Stufe ist der Apollontempel im Westen 60,065 m breit. Wenn diese Breite 200 Fuß entsprach, wäre ein solcher Fuß 30,03 cm lang gewesen.
Wenn man die Maße einer Säulenplinthe und der Krepisbreite mit den Abmessungen vergleicht, die in den Bauberichten genannt werden, ergibt sich ein etwa 30,0 cm betragendes Fußmaß. Dieser Fuß ist damit deutlich größer als der attische Fuß (29,42 cm), mit dem der Rasterplan des Apollontempels erstellt wurde.
Das gleiche Fußmaß lässt sich an einer der drei noch aufrechtstehenden Säulen des Apollontempels nachweisen: Die Säule auf der Südseite ist nicht fertig geworden (Abb. 30). Ihr Säulenschaft mit den einzelnen Säulentrommeln ist nur grob geglättet und nicht kanneliert. Das ist ein Glücksfall, denn so haben sich auf den Säulentrommeln ihre Durchmesserangaben erhalten. Bis vor einigen Jahren konnte man sie nicht richtig deuten. Aber mit der Erkenntnis Wolfgang Sonntagbauers, dass ein größeres Fußmaß als das attische benutzt wurde, ist dies möglich.
Abb. 30: Blick auf die unfertige Säule von Südwesten.
Die jeweiligen Maßangaben geben den Durchmesser an, auf den die Säulentrommeln abgearbeitet werden sollten, nachdem sie übereinander zu einem Säulenschaft zusammengefügt waren (siehe das Kapitel zu Haussoullier und Pontremoli). Den beiden untersten Trommeln ist jeweils der griechische Buchstabe Z (Zeta) für die Zahl Sieben eingemeißelt (Abb. 31). Ihr heutiger Durchmesser beträgt 2,11 m bzw. 2,10 m. Teilt man diese Angaben durch Sieben, kommt man auf einen Wert von fast genau bzw. exakt 30 cm. Dieses Maß ergibt sich auch bei den anderen Säulentrommeln und ihren Durchmesserangaben. Damit ist die Verwendung eines Fußmaßes von 30 cm bei der Errichtung der Säulen belegt.
Jeder Besucher Didymas fragt sich heute, warum zwei der drei noch stehenden Säulen fertig kanneliert sind und eine nicht. Die Antwort darauf ist, dass dem ausführenden Architekten bei der südlichen Säule ein Fehler unterlief. Um dies zu verstehen, muss man sich den Fertigungsprozess einer Säule und ihre Form vor Augen halten. Der Durchmesser einer Säule ist unten größer als oben. Aber der Durchmesser nimmt von unten nach oben nicht gleichmäßig ab, denn jeder Säulenschaft ist etwas „angeschwollen“. Dies nennt Vitruv die „Entasis“ einer Säule.
Für die Errichtung eines Säulenschaftes wurden Trommeln unterschiedlicher Höhe verwendet, so wie sie aus dem Steinbruch verfügbar waren. Deshalb musste bei jeder Säule für jede Trommel ihr Durchmesser neu berechnet werden. Das machte der Architekt auch für die heute unvollendete Säule in Didyma. Auf der Baustelle glättete man zuerst die Oberseiten der Trommeln und anschließend ihre Unterseiten. Nun brachte man gegenüberliegende Lehren an, die den vorgesehenen Durchmesser der Trommeln unten festlegten. Und in eine dieser acht vertieften Felder gravierte man den Durchmesser ein (siehe Abb. 31).
Abb. 31: Ein Zeta (Z) auf der untersten Säulentrommel der unfertigen Säule.
Nachdem die Säulentrommeln zum Schaft zusammengefügt waren, verjüngte man den Schaft von unten nach oben entsprechend den Lehren und den Durchmesserangaben. Bei der unfertigen Säule hatte sich jedoch ein Fehler eingeschlichen: Etwa in der Mitte der Säule, nimmt der Durchmesser von einer Trommel zur nächsten plötzlich so stark ab, dass man hier keine Entasis mehr hätte anbringen können. Deshalb vollendete man diese Säule nicht (siehe das Kapitel zu Haussoullier und Pontremoli).
An griechischer Architektur interessierte Besucher werden dies heute dankbar registrieren, weil man so leicht Einsicht in den antiken Bauprozess bekommt. So kann z.B. jeder deutlich sehen, dass die Säulen erst nach ihrem Zusammensetzen kanneliert wurden. Wo jedoch der Fehler an der unfertigen Säule lag, ist nicht ganz klar. Entweder die Durchmesser wurden falsch berechnet oder die Säulentrommeln falsch aufeinandergeschichtet, das heißt eine für weiter oben vorgesehene zu weit unten.
Darüber kann sich der Betrachter vor Ort weitere Gedanken machen, nachdem er versucht hat, mit einem Fernglas oder einem guten Fotoapparat die kleinen griechischen Buchstaben zu finden, die die Durchmesser angeben. Dieses Detail sollte man sich nicht entgehen lassen, weil es – wie so vieles am Apollontempel – einmalig und an keinem anderen antiken Bau zu finden ist.
Doch zurück zu den zwei Fußmaßen: Der attische Fuß mit 29,42 cm und ein mit 30,0 cm etwas größerer Fuß lassen sich also zweifelsfrei am hellenistischen Apollontempel nachweisen. Diese Erkenntnis könnte ihre Entsprechung in der Nachricht des Vitruv finden, dass zwei Architekten den Plan es Apollontempels entwarfen. Da keine Anzeichen für eine Bauunterbrechung oder eine gravierende Planänderung vorliegen, scheint der Entwurf mit zwei Fußmaßen von Anfang an beabsichtigt gewesen zu sein.
Man kann nun fragen, wie dies vor sich gegangen sein könnte. Denn an ein und demselben Bau mit zwei verschiedenen Maßen gleichzeitig zu arbeiten, ist schwer vorstellbar. Aber das war offensichtlich nicht der Fall in Didyma: Denn zuerst wurde mit dem attischen Fuß der Rasterplan des Apollontempels erstellt. Die Ausführung des Baues, das heißt die Maße jedes Bauteils, jedes Raumes und die Außenmaße des Tempels, erfolgte mit dem leicht vergrößerten Fuß. Über dem Plan mit dem attischen Fuß wurde der Tempel mit einem vergrößerten Fuß errichtet. Folglich gab es keine Probleme beim Bauvorgang, weil beide Fußmaße getrennt zum Einsatz kamen. Dennoch sind sie miteinander verbunden.
Am Schluss dieses Abschnittes zur Metrologie des Apollontempels zeigt sich, dass er äußerst knappgehalten ist, wenn man ihn mit der antiken Bedeutung der Proportionen von Tempeln und ihren Baugliedern vergleicht. Heute ist dieses Thema kaum mehr vermittelbar und viele Bauhistoriker machen einen Bogen darum. Damit klammert man jedoch einen großen Bereich des Altertums aus. Mathematik, Musik und Architektur waren damals eng miteinander verbunden. Manche antiken Philosophen meinten sogar, die ganze Welt basiere auf Zahlenverhältnissen (siehe das Kapitel zu Newton). Dieses Wissen liegt heute weitgehend brach. Dennoch kann man, wie in der klassischen Musik, die klassische Baukunst erst richtig verstehen und genießen, wenn man ihre Grundlagen kennt.
Für die antike griechische Architektur war es kennzeichnend, dass jedem Tempel eine Ordnung zugrunde lag, das heißt verschiedene Teile wurden zu einem Ganzen unter einem bestimmten Prinzip zusammengefügt. Mithin standen alle Bestandteile zueinander in Beziehung, die man durch Proportionsverhältnisse ausdrückte. Diese Ordnung galt aber immer nur für einen Tempel, folglich war sie veränderlich, und deshalb findet man nirgendwo den gleichen Tempel zweimal. Neben diesen Proportionen gab es ein Maß, welches die Grundlage für die Abmessungen eines jeden Bauteils bildete. Beides, Proportionen und Maß, kennzeichneten jeden antiken Tempel und wahrscheinlich auch die meisten anderen Großbauten.
Der Apollontempel beeindruckt heute zuerst durch seine Größe. Des Weiteren wird meistens seine unglaublich hohe Ausführungsqualität gewürdigt. Doch den Plan, der dahinterstand und alles bis ins kleinste Detail umfasste, übersieht man gern. Ohne diese Vorleistung, die vermutlich Paionios von Ephesos und Daphnis von Milet zuzuschreiben ist, hätte dieses gewaltige Projekt allerdings nie ausgeführt werden können. Bei Vitruv wird auch der Architekt des Athenatempels von Priene genannt, der diesen Tempel etwa im dritten Viertel des 4. Jhs. v. Chr. errichten ließ. Er hieß Pytheos und verwendete zum ersten Mal einen Rasterplan für einen ionischen Tempel. Dieser Entwurf des Athenatempels von Priene ist ziemlich simpel und es kam nur ein Fußmaß zum Einsatz, nämlich der attische Fuß.
Dem gegenüber ist der Plan des Apollontempels von Didyma vom Ende des 4. Jhs. v. Chr. weitaus komplexer. Ihm liegt zwar ebenfalls ein Rasterplan zugrunde, aber er ist nicht so leicht erkennbar. In Priene sind z.B. die Säulenplinthen genauso groß wie der Abstand dazwischen. In Didyma ist dies jedoch nicht der Fall. Dort sind die Säulenplinthen größer als der Abstand zwischen ihnen. Und zwar wurden die Plinthen in dem Maß vergrößert, wie der attische Fuß vergrößert wurde, um das zweite Fußmaß zu bilden. Die Säulenplinthen sind also das Bauglied, an dem beide Fußmaße erkennbar sind, wie Wolfgang Sonntagbauer feststellte.
Der Entwurf des Apollontempels stellt damit den Höhepunkt der Tempelbaukunst zurzeit der Ionischen Renaissance dar (siehe das Kapitel zu Haussoullier und Pontremoli). Die Grundlagen dafür lieferte die Spätklassik z.B. mit dem Athenatempel von Priene, dem Artemistempel von Ephesos oder mit einem weiteren Weltwunder, dem Mausoleum von Halikarnassos. Diese Blüte der griechischen Baukunst in Didyma blieb im Verlauf des Hellenismus und später in der römischen Kaiserzeit unerreicht. Nicht umsonst bezeichnete einst ein englischer Journalist den Apollontempel von Didyma als den Sieben Weltwundern zugehörig (siehe das Schlusswort).
Zusätzlich sind am Apollontempel viele Merkmale erhalten, die Hinweise geben, wie solch ein Bauwerk ausgeführt wurde. Dazu gehören die Buchstaben auf der obersten Fundamentschicht des Sekos oder die Durchmesserangaben auf den Bauteilen der unfertigen Säule. Beide stellen einzigartige Zeugnisse des Originalplanes bzw. des Bauprozesses dar, weil noch nie Parallelen zu ihnen an anderen griechischen Tempel entdeckt wurden.
Doch zurück zur zweiten Expedition der Society of Dilettanti: William Gell fertigte den ersten Lageplan von Didyma an. Darauf sind die neu entstandenen Häuser zu sehen, die Griechen in den Jahrzehnten zuvor rund um den Apollontempel gebaut hatten. Die nach Didyma führenden Wege sind ebenfalls eingetragen zusammen mit den an ihnen liegenden Kapellen und Kirchen. Dieser Plan stellt eine großartige Leistung dar und vermittelt ein genaues Bild davon, wie die nähere Umgebung Didymas damals beschaffen war. Bis heute sind manche Details dieser Karte noch nicht endgültig ausgewertet worden (Karte 4).
Insgesamt sind vier Wege eingezeichnet, die Didyma/Jeronda zum Ziel hatten. Aus Richtung Südwesten kam der Weg vom Kap Monodendri, also vom ehemaligen Poseidonaltar. Kurz vor Jeronda sind links dieses Weges eine Quelle und rechts eine Kapelle eingetragen. Diese Kapelle war dem heiligen Merkurios geweiht und ihre Reste existieren noch. Ungefähr auf gleicher Höhe ist südlich des Apollontempels eine weitere Kapelle verzeichnet. Sie war die Friedhofskapelle von Jeronda, von der man bisher fälschlich annahm, sie sei dem heiligen Georg geweiht gewesen. Diese Kapelle ist in den letzten Jahren ausgegraben worden (siehe die Kapitel zu Turner und zu Bumke). Am östlichen Ortsrand von Jeronda befand sich eine dritte Kapelle, an der eine Straße nach Osten vorbeiführte. Von dieser Kapelle ist oberirdisch nichts mehr sichtbar; vermutlich war sie der heiligen Weisheit (Hagia Sophia) geweiht.
Nördlich des Apollontempels ist die Hauptkirche des Ortes zu erkennen, die man etwa 100 m von ihm entfernt errichtet hatte. Der Patron dieser Kirche war der heilige Charalambos. An ihrer Stelle baute man 1830 eine neue Kirche, wie es eine Inschrift auf ihrer Nordseite bezeugt. Dieser Bau existiert heute noch weitgehend unverändert und wird seit 1924 als Moschee genutzt. Nördlich der Hauptkirche befindet sich auf einem Hügel eine vierte Kapelle. Sie war dem heiligen Taxiarchis (Erzengel Michael) geweiht.
Nordwestlich dieser Kapelle beginnt inmitten von Ruinen ein nach Norden führender Weg, der sich aufteilt; nach Westen führt er zum damals modernen Hafen und nach Nordwesten zum antiken Hafen (heute Mavişehir). Etwas östlich, beinahe parallel, verläuft die Heilige Straße von Milet, die von antiken Gräbern, Sarkophagen und Statuen flankiert ist. Am Beginn der Heiligen Straße sind fünf Statuen eingezeichnet. Von ihnen fertigte John P. Gandy eine Zeichnung an, die zusammen mit einer Löwenskulptur in das Buch von 1821 aufgenommen wurde. Diese Statuen mit der Darstellung sitzender Männer befinden sich seit 1858 im Britischen Museum in London (siehe das Kapitel zu Newton mit Abb. 50).
Auf der gerade erläuterten Karte von William Gell von 1812 ist ein Detail zu sehen, welches schon 1764 von Richard Chandler erwähnt worden war. Chandler schrieb, dass noch deutliche Spuren des umfangreichen Peribolos zu sehen wären. Am häufigsten bestand der Peribolos aus einer Mauer und das Heiligtum war über Tore zugänglich. Aber nicht jedes Heiligtum war von einer Mauer eingefasst, oft waren seine Grenzen nur durch Grenzsteine markiert. In Didyma wurden bis heute keine Reste eines Peribolos bei Ausgrabungen gefunden. Dagegen trat ein archaischer Grenzstein in situ zutage (also an seinem ursprünglichen Ort), und zwar am östlichen Rand der Heiligen Straße auf Höhe der späteren römischen Thermen (siehe das Kapitel zu Tuchelt und Schneider). Zwei weitere Grenzsteine kamen bei den Ausgrabungen zum Vorschein, aber ohne dass ihr originaler Standort bekannt wäre. Durch ihre Aufschriften können sie in die hellenistische bzw. späthellenistische Zeit datiert werden.
Richard Chandler macht in seiner Beschreibung keine Angaben darüber, wo sich die Reste des Peribolos befanden. Aber auf Gells Karte von 1821 ist ein „ancient wall“ nördlich der Hauptkirche des heiligen Charalambos und östlich der Taxiarchis-Kapelle eingetragen. Da diese „antike Mauer“ im Begleittext sonst nicht erwähnt wird, kann nur sie den Peribolos meinen, den Chandler schon erblickte und der offensichtlich 1812 noch zu sehen war, als William Gell und seine Begleiter nach Didyma kamen.
Dem Plan nach begann die antike Mauer östlich der Taxiarchis-Kapelle. Am Beginn der Mauerreste befand sich ein Brunnen unmittelbar nördlich. Von da ab verlief die Mauer ziemlich genau Richtung Osten, und zwar etwa 80 m. An ihrem östlichen Ende biegt die Mauer laut Karte nach Süden um und läuft noch rund 15 m weiter.
Heute ist von diesen Mauerresten (in der Karte nur gestrichelt eingezeichnet) nichts mehr zu sehen. Ihrer Lage nach kann es sich kaum um den Peribolos des Apollonheiligtums gehandelt haben, da weiter nördlich noch Reste antiker Bauten gefunden wurden (siehe das Kapitel zu Wiegand und Knackfuß zum Jahr 1906). Folglich könnten die antiken Mauerreste auch von einem anderen Gebäude stammen. Dass es sich überhaupt um antike Hinterlassenschaften handelt, ist sehr wahrscheinlich, denn Richard Chandler und nach ihm William Gell werden sicher eine antike Mauer aus Quadern von einer späteren Mauer aus kleinen mit Mörtel verfugten Steinen haben unterscheiden können.
Mithin gäbe die „antike Mauer“ auf Gells Plan einen Hinweis zur Lage eines antiken Gebäudes ab, welches bisher noch nicht gefunden wurde. Dabei handelt es sich um die größte antike Baustruktur, die neben den Ruinen des Apollontempels und der römischen Therme 1812 noch vorhanden war. Und doch hat man sie bisher immer übersehen. Vielleicht auch deshalb, weil die Mauer in jüngeren Karten nicht mehr vorkommt, denn sie wurde offensichtlich nach 1812 komplett oberirdisch abgetragen oder aber überbaut.
Der Brunnen östlich des Taxiarchis-Hügels existiert heute noch (die Kapelle dagegen nicht mehr) und unmittelbar südlich des Brunnens liegt das Gelände einer ehemaligen Schule (Abb. 32). Weiter nach Osten schließen sich ein freier Platz und Wohnhäuser an, wo sich die Ecke der antiken Mauer befinden müsste. Archäologische Untersuchungen wären also möglich, zumal die Schule vor wenigen Jahren geschlossen und abgerissen wurde.
Abb. 32: Blick auf den abgedeckten Brunnen am Rande des Schulgeländes und östlich des Taxiarchis-Hügels, in dessen Nähe sich womöglich die dorische Säulenhalle befand.
Einstweilen kann man erörtern, ob es nicht bekannte antike Gebäude gab, die für eine Grundfläche mit Abmessungen von mindestens 80 x 15 m in Frage kämen. Und tatsächlich existierte ein solches: Denn schon seit Jahren kommen bei Ausgrabungen nördlich des Apollontempels immer wieder Bauteile zum Vorschein, die zu einer großen dorischen Säulenhalle gehörten. Doch bisher konnte das Fundament dieses Baues nicht gefunden werden. Von der dorischen Säulenhalle in Didyma sind einige Säulentrommeln, Kapitelle, Architrave, Friesblöcke und die darüber liegenden Geison-Simablöcke erhalten. Der Stil und die Form dieser Bauglieder zeigen an, dass die Halle im 2. Jh. v. Chr. erbaut wurde, wie Lothar Haselberger herausfand (siehe das Kapitel zu Tuchelt und Schneider).
Eine Säulenhalle – auch Stoa genannt – war im Altertum ein langgestreckter Bau, der meistens in Heiligtümern errichtet wurde, um Menschen, aber auch kostbaren Weihgeschenken Schutz vor Regen und Schatten zu bieten. Auf einer Langseite war eine solche Halle offen und Säulen trugen das Dach. Die andere Langseite bildete die geschlossene Rückwand. Bei größeren Säulenhallen war das Dach ein Satteldach. Deshalb hatte man bei solchen Bauten das Innere in zwei Schiffe gegliedert und in der Mitte trug eine weitere Säulenreihe den Dachfirst. Zu dieser Form der Hallen scheint auch die dorische Stoa von Didyma gehört zu haben.
Richard Chandler könnte nun Reste der Rückwand und östlichen Seitenwand dieses Baues gefunden haben, als er 1764 in Didyma weilte. Dafür sprechen nicht nur der Grundriss der von William Gell registrierten Fundamente, sondern vor allen Dingen die Fundorte der Bauteile der dorischen Säulenhalle. So wurden z.B. bei den Ausgrabungen an der Heiligen Straße (wenig westlich des vermuteten Hallenstandorts) immer wieder Werkstücke und Fragmente der dorischen Stoa gefunden. Noch näher daran kamen bei Ausgrabungen an der heutigen Moschee (die ehemalige Hauptkirche) Bauteile zum Vorschein, die zur dorischen Halle gehörten; einige sind sogar noch an der Moschee verbaut, wie z.B. ein Friesblock an der südwestlichen Ecke und ein dorisches Kapitell auf der Nordseite (Abb. 33).
Abb. 33: Ein hellenistisches dorisches Kapitell verbaut unter einer Säule der ehemaligen Kirche des heiligen Charalambos (heute Moschee).
All diese Erkenntnisse passen zu den Grabungs- und Forschungsergebnissen der letzten Jahre. Denn bei ihnen kamen unmittelbar nördlich der Moschee die Fundamente des Artemistempels zum Vorschein (siehe das Kapitel zu Bumke). Nun kann man durch Gells Karte vermuten, dass sich parallel zum Artemistempel etwa 20 bis 30 m nördlich von ihm eine große dorische Halle befunden haben könnte, denn für viele griechische Heiligtümer ist eine solche Lagebeziehung typisch.
Die Teilnehmer der zweiten Expedition der Society of Dilettanti nach Didyma kamen 1812 zu einigen wichtigen Ergebnissen: Nach dem Grafen von Choiseul-Gouffier erstellten die Engländer den zweiten rekonstruierten Grundriss des hellenistischen Apollontempels. Als erste erkannten sie, dass es zwischen dem Pronaos und dem Innenraum des Tempels einen zweiten, kleineren Raum gab (Abb. 34). Der Pronaos wird ja in Didyma als „Zwölfsäulensaal“, der zweite Vorraum als „Zweisäulensaal“ und der Innenhof als „Sekos“ bezeichnet. Die Funktion oder gar die Gestalt des Zweisäulensaales konnten die englischen Gelehrten jedoch nicht erschließen, weil dieser Bereich mit am höchsten verschüttet war. Ausgrabungen oder das „Umgraben“ des Tempels, wie es Choiseul-Gouffier vorschlug, zogen sie jedoch nicht in Betracht.
Abb. 34: Rekonstruierter Grundriss des hellenistischen Apollontempels (John P. Gandy, 1812).
Im Übrigen wunderten sich Gell, Gandy und Bedford zu Recht über die niedrigen Architrave des Apollontempels. Sie wären viel zu klein für den Tempel. Diese Schlussfolgerung war richtig, weil bis zum damaligen Zeitpunkt noch keine Architrave und sonstige Gebälkteile ausgegraben waren, die von den äußeren Säulen des Tempels stammten. Alles, was man kannte, waren die Architrave auf den beiden stehenden Säulen der Nordseite. Bei ihnen handelt es sich jedoch um Säulen der inneren Säulenreihe, auf denen niedrige Architrave mit nur zwei Fascien lagen, die gleichzeitig zur Kassettendecke gehörten (siehe das Kapitel zu Chandler, Revett und Pars). Diese Architrave waren freilich zu niedrig als Außenarchitrave, die – wie üblich – drei Fascien besaßen. Aber solche sollten erst bei den französischen Ausgrabungen am Ende des 19. Jhs. zutage treten (siehe das Kapitel zu Haussoullier und Pontremoli).
Am Ende des Jahres 1812 kehrten William Gell, John P. Gandy und Francis Bedford von Kleinasien nach Athen zurück und im Frühjahr 1813 segelten sie heim nach England. Die drei Engländer erfüllten ihren Missionsauftrag, die Ergebnisse der ersten Expedition zu überprüfen und Fehler zu beseitigen. Besonders wichtig wurde für die nächste Zeit und bis heute ihr Lageplan von Didyma. Denn er zeigt, wie stark Jeronda damals schon wieder besiedelt war.