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Graf von Choiseul-Gouffier – 1776
ОглавлениеReise ins Osmanische Reich – Von Lykien über Karien nach Didyma – Die Verlandung des Latmischen Meerbusens – Rekonstruktion des Grund- und Aufrisses des Apollontempels – Die Legende von den „Branchiden“ – Herodot, der Ionische Aufstand und die Perserzerstörung – Das Schicksal des Histiaios von Milet – Weiterreise nach Smyrna
Ende März 1776 schiffte sich der Graf von Choiseul-Gouffier auf der Fregatte „Atalante“ ein, um an einer Expedition nach Griechenland und Westkleinasien (Westtürkei) teilzunehmen. Im Alter von 24 Jahren hatte Marie-Gabriel-Auguste-Florent von Choiseul-Gouffier seine Heimatstadt Paris verlassen, um sich einen Jugendtraum zu erfüllen, nämlich die berühmtesten Gegenden des klassischen Altertums kennenzulernen. Unter ihrem Kapitän Marquis de Chabert stach die Atalante in Toulon in See. Über Sardinien, Malta und Sizilien erreichte man schließlich griechische Gewässer.
Nach einem Zwischenhalt auf der Peloponnes liefen die Franzosen einige Inseln der Kykladen an. Anschließend widmeten sie sich den Inseln, die Westkleinasien vorgelagert sind, wie Lemnos, Lesbos, Chios und Samos. Nachdem Choiseul-Gouffier und seine Begleiter die Insel Rhodos am 28. Juni 1776 verlassen hatten, gingen sie an der Südwestküste Kleinasiens beim antiken Telmessos (heute Fethiye) an Land (Karte 1). Von dort aus machten sich die Franzosen auf den Weg durchs Landesinnere. Sie suchten die bekannten antiken Stätten auf, kamen somit auch nach Didyma und Milet, und von dort reisten sie weiter über Ephesos nach Smyrna.
Die Ergebnisse der Expedition Choiseul-Gouffiers bis nach Smyrna beinhaltet der erste Band seiner „Voyage pittoresque de la Grèce“, der 1782 erschien. Leider sind darin zur Reise selbst nur wenige Angaben enthalten, aber dafür umso genauere Beschreibungen der besichtigten archäologischen Stätten:
Die Ruinen des lykischen Telmessos verließen die Franzosen am 30. Juni 1776 um 11 Uhr abends. Von dort aus begaben sie sich nach Nordwesten in Richtung der antiken Landschaft Karien, an die im Norden Ionien mit Didyma grenzt. Unterwegs wurden die Reisenden oft von den lokalen Würdenträgern eingeladen. Beim Aga des damaligen Moglah (heute Muğla) blieben sie eine Nacht. Sie bewunderten sein Haus und vor allem fielen ihnen die schwarzen Eunuchen auf, die den Harem des Agas bewachten.
Sein Weg nach Ionien führte Choiseul-Gouffier u.a. nach Stratonikeia (heute Eskihisar), Mylasa (heute Milas), Halikarnassos (heute Bodrum) und schließlich nach Iasos (heute Kıyıkışlacık). Von dort aus ging die Reise am heutigen Bafa Gölü vorbei nach Didyma. Von Iasos waren die Franzosen am 13. Juli 1776 um 2 Uhr morgens aufgebrochen. Wie schon mehrmals erwähnt, war der heute Bafa genannte See im Altertum kein See, sondern eine Meeresbucht, genannt Latmischer Meerbusen (siehe die Kapitel zu Cyriacus von Ancona sowie zu Wheler und Spon).
Ein Ziel der Reise des Grafen von Choiseul-Gouffier war es, den Beobachtungen seiner Vorgänger etwas hinzufügen und eventuelle Fehler zu verbessern. So machte er sich als einer der ersten darüber Gedanken, warum der Fluss Mäander mit seinen Sedimenten den Latmischen Meerbusen zu einem See verlanden ließ. Nach der letzten Eiszeit mündete der Mäander bei der Stadt Aydın (das antike Tralleis) etwa 50 Kilometer östlich seiner heutigen Mündung ins Meer (Karte 3). Seit Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. erhöhte sich der Sedimentgehalt des Flusses beständig und seine Mündung wanderte Richtung Westen. Choiseul-Gouffier schreibt, dass der Mäander von den Bergen Sedimente mitbringt, die er in flacheren Gebieten ablagert.
Die Beschreibung dieses Vorganges ist richtig. Die Ursache dafür war der Mensch, der ab der späten Bronzezeit größere Flächen rodete und vermehrt Ackerbau betrieb. Der Regen konnte nun leicht größere Mengen Erde wegspülen und in die Flüsse transportieren. Im Laufe der klassischen Antike nahm die landwirtschaftliche Nutzung in Westkleinasien stark zu und der Latmische Golf verlandete immer schneller, bis sich zwischen dem 10. und 13. Jh. aus seinem Rest ein See gebildet hatte (heute Bafa Gölü). Unter dem Grafen von Choiseul-Gouffier wurde die erste Landkarte angefertigt, die diesen Vorgang und seine verschiedenen Phasen zeigt (Abb. 21).
Abb. 21: Bafa Gölü. Blick nach Nordwesten zur ehemaligen Ausfahrt aus dem Latmischen Meerbusen mit dem Mykale-Gebirge im Hintergrund.
Auf dem Weg nach Didyma folgten der Graf und seine Begleiter der heutigen Straße, die westlich des ehemaligen Latmischen Meerbusens und östlich des Grion genannten Gebirges (heute İlbir Daği) nach Nordwesten führt. Bevor sie Didyma erreichten, machten sie noch einmal Rast in einem Dorf namens Yeşilköy (Türkisch für „grünes Dorf “). Diese Siedlung lag nur wenig südlich von Palatia (Milet) und dort gab es eine ergiebige Quelle. An dieser Quelle hofften die Franzosen, eine ruhige Nacht verbringen zu können. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht, weil es Unmengen Moskitos aufgrund der vielen Wassertümpel gab. Wie Choiseul-Gouffier berichtet, ließen sich die Insekten auch durch den Rauch eines gewaltigen Feuers nicht vertreiben.
Die Quelle lag südwestlich des schon erwähnten Dorfes Auctui (heute Akköy, siehe das Kapitel zu Chandler, Revett und Pars). Denn dort begannen in der Antike Wasserleitungen, die Frischwasser nach Milet führten. Auch heute ist dort noch eine Raststätte an der Straße, an der die Gartenbesitzer, die Erzeugnisse ihrer bewässerten Anlagen verkaufen. Bevor aber damals die französischen Reisenden nach Milet weiter ritten, besuchten sie den famosen Tempel des Apollon von Didyma:
Die Beobachtungen des Grafen von Choiseul-Gouffier zum Apollontempel von Didyma wurden bisher wenig beachtet. Freilich hat er manche Dinge von seinen Vorgängern einfach übernommen, wie z.B. die Zeichnungen eines Pilasterkapitells, des Greifenfrieses (Abb. 22) und des korinthischen Kapitells aus dem Werk von Richard Chandler „Ionian Antiquities“ (siehe das Kapitel zu Chandler, Revett und Pars). Doch einige Überlegungen des Grafen waren 1782 durchaus neu.
Abb. 22: Greifenfries und Pilasterkapitell mit Ranken des hellenistischen Apollontempels.
Zunächst einmal ließ er als erster einen Grund- und einen Aufriss des Apollontempels erstellen. Beide sind natürlich mit Fehlern behaftet, da ein Großteil des Tempels nicht offen zutage lag und niemand seinen einzigartigen Grundriss erahnen konnte. Choiseul-Gouffier setzte die Entdeckung Richard Chandlers, dass es sich beim Apollontempel um einen dekastylen Dipteros handele, in rekonstruierte Pläne um. Richtig umgab er den Bau mit einer doppelten Ringhalle, die aus 10 x 21 Säulen bestand. Falsch war seine Vermutung, dass es auf der Ostseite eine dritte innere Säulenstellung gegeben hätte. Folglich rekonstruierte er den Naos auch um ein Säulenjoch kürzer als er wirklich war. Jedoch hatte man mit dem Tempelaufriss zum ersten Mal eine rekonstruierte Ansicht der Tempelfront vorliegen, die einen Eindruck von der Größe des 27 m hohen Bauwerkes vermittelte (Abb. 23).
Abb. 23: Rekonstruktionszeichnung der Front und des Grundrisses des hellenistischen Apollontempels (Graf von Choiseul-Gouffier, 1776).
Laut Choiseul-Gouffier war der hellenistische Apollontempel von Didyma eines der größten Gebäude ionischer Ordnung, die die Griechen je bauten. Damit hatte er vollkommen recht, nur der Artemistempel von Ephesos und der Heratempel von Samos übertrafen den didymäischen Bau. Die Forscher vor Choiseul-Gouffier hatten sich immer gefragt, wie solch ein Riesentempel wohl überdacht gewesen sein konnte. Eine antike literarische Quelle überliefert dazu, dass der Apollontempel nie ein Dach erhielt, weil er einfach zu riesig war (Strabon Geographica 14,1,5).
Der Graf äußerte jedoch die Vermutung, dass es sich um einen sogenannten hypäthralen Bau gehandelt haben könnte. Dieser Begriff bedeutet auf Griechisch „unter freiem Himmel“, das heißt der Apollontempel wäre von Anfang an ohne Dach geplant gewesen. Und tatsächlich war das der Fall, denn das Innere des Naos bildete ein hofartiger Raum, der in den antiken Bauberichten auch Sekos genannt wird (Griechisch für „Einfriedung, Umzäunung und Heiligtum“).
In einer anderen Sache irrte Choiseul-Gouffier: Er nahm an, die schon beschriebenen Pilasterkapitelle mit Greifen- oder Rankenverzierung (siehe Abb. 22) hätten nicht den Innenhof geschmückt, sondern die Anten des Tempels. So kam er zu der Vermutung, der Sekos wäre rundherum durch korinthische Säulen an den Wänden untergliedert gewesen. Das war aber nur an der Ostwand des Innenhofes der Fall (siehe das Kapitel zu Wheler und Spon). Des Weiteren platzierte er den Greifenfries außen um den Naos herum statt innen. Das geschah wohl in Anlehnung an den Parthenon der Athener Akropolis, dessen Naos außen u.a. mit dem berühmten Fries zum Festumzug an den Panathenäen versehen ist. Überhaupt sind auch spätere Rekonstruktionen des Tempelgrundrisses und -aufrisses oft von denen anderer bekannter Tempel geprägt. Aber damit lag man meist falsch, weil der Grundriss des Apollontempels einmalig und ohne Parallele ist (Plan 3).
Der Graf wusste jedoch, wie vorläufig seine Überlegungen waren. Deshalb machte er einen neuen, bis dahin nicht geäußerten Vorschlag: Man müsste die Möglichkeit haben, die riesigen Ruinen „umzugraben“. Erst dann könne man sich ein Urteil über ihren ursprünglichen Zustand erlauben. Choiseul-Gouffier war somit der erste, der die Ausgrabung des Apollontempels in Betracht zog. Die frühesten Ausgrabungen sollten Landsleute von ihm beinahe 100 Jahre später, nämlich 1873 durchführen (siehe das Kapitel zu Rayet und Thomas).
Wie schon seine Vorgänger hatte der Graf von Choiseul-Gouffier eingehend die antiken literarischen Quellen zu Didyma und seinem Apollontempel studiert. Bereits erwähnt wurde, dass Didyma in der Antike auch unter dem Namen Branchidai bekannt war (siehe das Kapitel zu Chishull). Apollon hatte seinem Liebling Branchos die Sehergabe verliehen. Angeblich hätte es deswegen ein Priestergeschlecht mit dem Namen „Branchiden“ in Didyma gegeben, welches das Orakelheiligtum unabhängig von Milet verwaltete. So lautet eine Theorie. Sie basiert auf einer Geschichte, die der Alexander-Historiker Kallisthenes vermutlich erfunden und der Geograph Strabon überliefert hat (Strabon Geographica 11,11,4; 14,1,5; 17,1,43):
Die Familie der Branchiden hätte im Gegensatz zu den meisten Griechen ein gutes Verhältnis zu den Persern gehabt. Als sich die Milesier 479 v. Chr. wiederholt gegen die Perser wendeten, sollen die Branchiden den Tempelschatz von Didyma an den persischen Großkönig Xerxes übergeben haben und ihm in seine Heimat gefolgt sein. Zuvor hätte Xerxes noch den Apollontempel von Didyma zerstören lassen. Die Branchiden sollen sich in der Landschaft Sogdiana (heute in Usbekistan) angesiedelt haben. Als Alexander der Große diese Gegend 329 v. Chr. eroberte, soll er die Stadt der Branchiden zerstört haben, weil er ihren Tempelraub und Verrat unter Xerxes missbilligte.
In der „Beschreibung Griechenlands“ des Pausanias (etwa zwischen 160 und 180 n. Chr. geschrieben) ist ebenfalls zu lesen, dass Xerxes Didyma bei seinem Rückzug nach Persien 479 v. Chr. heimsuchte. Außerdem hätte Xerxes die Kultstatue von Didyma, den berühmten Bronze-Apollon des Kanachos mit nach Ekbatana (heute im Iran) genommen (Pausanias 1,16,3; 8,46,3).
Die meisten Althistoriker halten die Überlieferungen von Strabon und Pausanias, die die sogenannten Branchiden betreffen, für unwahr. Warum Didyma dennoch Branchidai hieß, ist nicht bekannt. Denn auch die Legende von Branchos als Liebhaber des Apollon ist lediglich eine hellenistische Erfindung. Aber vielleicht beruht sie ja auf einem älteren Kern. Strabon und Pausanias schrieben über Ereignisse, die sich Jahrhunderte vor ihrer Zeit ereigneten. Es gibt jedoch Zeugnisse zur Perserzerstörung von Didyma, die nur kurz danach verfasst wurden. Sie stammen von Herodot (ca. 485 bis 425 v. Chr.), der auch als „Vater der griechischen Geschichtsschreibung“ bezeichnet wird. Sein Geburtsort war Halikarnassos (heute Bodrum) in der damaligen Landschaft Karien, an die im Norden Ionien mit Didyma grenzt. Herodot beschäftigt sich in seinem Werk ausführlich mit den Kriegen zwischen den Persern und den Griechen.
Am Ende des 6. Jhs. v. Chr. war Milet eine blühende Metropole, die damals auch als „Kleinod Kleinasiens“ bezeichnet wurde (Herodot 5,28). Die Stadt lag zwar im Herrschaftsbereich der Perser, sie wurde jedoch von einem milesischen Tyrannen regiert; eine Herrschaftsform ähnlich der des Königtums. An den persischen Großkönig mussten jedoch Abgaben entrichtet werden. 499 brach der berühmte Ionische Aufstand gegen die Perser aus, zu dem der milesische Tyrann die Ionier angestiftet hatte.
Sein Name war Histiaios von Milet. Obwohl er dem Perserkönig Dareios einmal geholfen hatte, wurde er von ihm in seiner Residenz Susa gefangen gehalten. Deshalb hatte Histiaios seinen Schwiegersohn Aristagoras als stellvertretenden Tyrann in Milet eingesetzt. Ihn wollte er dazu bringen, einen Aufstand der Ionier gegen die Perser anzuzetteln. In einem gewöhnlichen Brief konnte Histiaios dem Aristagoras dies aber nicht mitteilen, weil ihn ja die Perser gelesen hätten. So verfiel Histiaios auf folgende List, die ebenso wie das bisher gesagte bei Herodot überliefert ist: Er nahm einen Boten, rasierte seinen Kopf kahl, schrieb die Botschaft auf den Kopf und wartete bis dessen Haare wieder nachgewachsen waren. Dann schickte Histiaios den Boten zu Aristagoras nach Milet mit der Anweisung, er solle ihm den Kopf kahlscheren. Das tat Aristagoras, las die Nachricht und wiegelte anschließend die Ionier gegen die Perser auf. Obendrein versuchte er noch andere griechische Verbündete zu gewinnen, wie z.B. die Athener (Herodot 5,11.24f.35f.).
Die Frage war nun, wie man die Perser überwinden konnte. Dazu machte Hekataios von Milet einen besonderen Vorschlag. Er meinte, die Polis Milet sollte sich die Tempelschätze aus Didyma holen und damit eine Schiffsflotte bauen, um die persische Flotte zu vernichten. Besonders erwähnt hier Herodot die Stiftungen des sagenhaft reichen Lyderkönigs Kroisos in Didyma (zu Kroisos siehe auch das Kapitel zu Chishull). Doch der Vorschlag von Hekataios wurde abgelehnt (Herodot 5,36). Zu Ruhm kam er dennoch, denn er war der erste Autor einer griechischen Geschichte. Des Weiteren verfasste Hekataios ein Werk mit dem Titel „Erdbeschreibung“. Aus seinen Büchern zitierte später auch Herodot.
Derselbe überliefert ferner, dass das Heer der aufständischen Griechen nach Sardis marschierte, wo der Satrap (persischer Gouverneur) seinen Sitz hatte. Die Burg von Sardis konnten die Griechen nicht erobern, aber dafür brannten sie die Stadt ab und den wichtigsten Tempel, nämlich den der Kybele. In der Antike verschonte man normalerweise die Heiligtümer, das war eine Art ungeschriebenes Gesetz. Die Griechen hielten sich aber nicht daran. Deshalb schworen die Perser Rache und verbrannten auf ihren späteren Feldzügen viele griechische Heiligtümer (Herodot 5,102.105). Dazu gehörten auch das Apollonheiligtum von Didyma und die Akropolis von Athen.
Im sechsten Jahr des Aufstandes, 494 v. Chr., rückten die Perser schließlich gegen Milet vor. Milet vorgelagert war eine kleine Insel mit dem Namen „Lade“ (Karte 2). Dort fand die entscheidende Seeschlacht statt, die die Griechen verloren (Herodot 6,7–17). Heute ist diese ehemalige Insel nur noch ein Hügel unweit der Mündung des Flusses Mäander. Die Sedimente des Mäanders haben sein Tal verlanden und so aus der Insel Lade im Laufe der Jahrhunderte einen Hügel in einer weiten Ebene werden lassen.
Nach der Seeschlacht belagerten die Perser Milet und eroberten es. Sie zerstörten die Stadt und deportierten die Überlebenden in ihre Hauptstadt Susa. Wie Herodot weiter schreibt, plünderten die Perser auch das Apollonheiligtum von Didyma und verbrannten es (Herodot 6,18–20). Dabei nahmen die Perser die Tempelschätze mit, zu denen auch die bronzene Kultstatue des berühmten spätarchaischen Bildhauers Kanachos von Sikyon gehörte (diese antike Stadt lag auf der Peloponnes, etwa 20 Kilometer nordwestlich von Korinth). Die Statue wird von Plinius dem Älteren im 1. Jh. n. Chr. genau beschrieben: Ein nackter Apollon, der in der linken Hand seinen Bogen hält und in der rechten einen Hirsch, der beweglich war (Naturalis historia 34,19). Dargestellt ist die Bronzestatue auf diese Weise häufig auf kaiserzeitlichen Münzen Milets und auf einem Relief vom Theater der Stadt Milet aus dem 2. Jh. n. Chr. (Abb. 24). Diese am Ende des 6. Jhs. v. Chr. geschaffene Apollonstatue wurde um 300 v. Chr. unter dem hellenistischen König Seleukos I. nach Didyma zurückgebracht und im neuen Naiskos des Apollontempels aufgestellt (siehe das Kapitel zu Wiegand und Knackfuß zu den Jahren 1912/13).
Abb. 24: Silberne Tetradrachme geprägt in Milet zwischen ca. 128 bis 132 n. Chr Auf der Vorderseite Kaiser Hadrian und auf der Rückseite eine stilisierte Ansicht des hellenistischen Apollontempels von Didyma. In dessen Mitte die Kultstatue, der Kanachos-Apollon, mit einem Hirsch in der rechten und einem Bogen in der linken Hand.
Dass die Milesier und die Tempelschätze wirklich nach Susa transportiert wurden, bezeugt ein archäologischer Fund. Bei Ausgrabungen in Susa wurde nämlich ein sogenanntes Bronzeastragal gefunden, welches eine Weihinschrift an Apollon im ionischen Alphabet trägt. Diese übergroße bronzene Nachbildung eines Gelenkknochens vom Schaf wiegt beeindruckende 93 Kilogramm und befindet sich heute im Louvre. Die Gelenkknochen des Schafes benutzte man im Altertum als Spielsteine, aber ebenso für Würfelorakel, die Apollon erteilte. Weil außerdem die Weihinschrift auf dem Bronzeastragal in Form und Inhalt denen gleicht, die im 6. Jh. v. Chr. in Didyma üblich waren, kann das wertvolle bronzene Weihgeschenk nur aus Didyma stammen.
Für den Tyrannen Histiaios, der die Milesier zu ihrem Aufstand anstachelte, zahlte sich dies nicht aus: Wie Herodot berichtet, kam er zwar frei, wurde den Persern aber wieder gefährlich, sodass sie ihn schließlich wieder gefangen nahmen. Damit er ihnen nicht erneut gefährlich werden konnte, kreuzigte der Satrap von Sardis den Histiaios und schickte seinen eingesalzenen Kopf zum Großkönig nach Susa (Herodot 6,29f.).
An diesen Geschichten Herodots sind viele Zweifel möglich, aber es gibt auch Hinweise, die für ihre Richtigkeit sprechen. Dass Histiaios wirklich lebte und ein bedeutender Mann in Milet war, scheinen die Ausgrabungen in Didyma zu zeigen: Denn dort trat ein Marmorblock mit einer Weihinschrift eines Histiaios an Apollon zutage (Abb. 25). Dass es sich dabei um den Tyrannen Histiaios handelte, ist wahrscheinlich. Er stiftete dem Apoll von Didyma eine Statue am Ende des 6. Jhs. v. Chr., die er vom Zehnten seiner Einnahmen finanzierte. Interessanterweise wurde die Inschrift Mitte des 19. Jhs. gefunden und Charles Th. Newton sah sie 1858 zum letzten Mal bei seinen Ausgrabungen an der Heiligen Straße in Didyma. Danach war sie über 100 Jahre verschollen, ehe dieses historisch wertvolle Fragment 1987 bei Abrissarbeiten an der Heiligen Straße wiedergefunden wurde.
Abb. 25: Wiederherstellungsversuch und Übersetzung der Histiaios-Inschrift nach Wolfgang Günther: „Histia[ios] hat (dieses Votiv) [als Zehnten] dem Apollo[n geweiht].“
Damit sind zwei Dinge deutlich geworden: Erstens gehörte das Apollonheiligtum von Didyma in spätarchaischer Zeit sicher zu Milet. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Belegen: Denn die Perser hätten keinen Grund gehabt, Didyma zu verwüsten, wenn es nicht zu Milet gehört hätte. Dies war eine weitere Bestrafung dafür, dass sich Milet am Ionischen Aufstand beteiligt hatte. Außerdem ist es dadurch und durch die zeitnahen Überlieferungen Herodots so gut wie sicher, dass Didyma bereits 494 und nicht erst 479 v. Chr. von den Persern geplündert und verbrannt wurde.
Überdies erwähnt Herodot an keiner Stelle seines Werkes – in dem Didyma wahrlich oft vorkommt –, dass es dort eine Priesterdynastie namens Branchiden gegeben hätte, die das Heiligtum unabhängig von Milet verwaltete. Es spricht dagegen alles dafür, dass die mächtige Polis Milet die Verwaltung und Finanzierung von Didyma sicherstellte. Die Überlieferungen des späteren Schriftstellers Strabon sind also – wie oben schon dargestellt – hinsichtlich der Branchiden unzutreffend, das heißt eine solche Dynastie gab es wohl niemals. Die Geschichte des sogenannten Branchidenfrevels erfand der Alexander-Historiker Kallisthenes wahrscheinlich (von Strabon wiederaufgenommen), um Alexander als gerechten Herrscher darzustellen, der Religionsfrevel und Verrat nicht duldete.
Der Graf von Choiseul-Gouffier nahm neben der Darstellung von Herodot zur persischen Zerstörung Didymas auch die von Strabon und Pausanias mit auf. Eine Wertung der Quellen nach heutigen wissenschaftlichen Maßstäben war dem Grafen nicht möglich. Damit erging es ihm wie seinen Vorgängern, die ebenfalls meist unreflektiert die literarischen Quellen zitierten, so z.B. Richard Chandler.
Nachdem die Franzosen Didyma besichtigt hatten, reisten sie wieder nach Norden und machten in Milet Station. Von den Ruinen der einstigen Metropole waren sie jedoch enttäuscht. Einzig das Theater hinterließ bei ihnen einen bleibenden Eindruck. Wie schon in den vorangegangenen Kapiteln geschildert, erging es den Reisenden vor Choiseul-Gouffier nicht anders. Obwohl Milet in archaischer Zeit sehr bedeutend und in hellenistischer und römischer Zeit ebenfalls zu einigem Ansehen gelangt war, enttäuschten seine Ruinen und die später ausgegrabenen Reste die meisten Besucher, die mit hohen Erwartungen kamen. Auch den heutigen ergeht es oft nicht anders: Sie nehmen von der antiken Stadt lediglich den Eindruck des riesigen Theaters mit und im Sommer zusätzlich den der unerträglichen Hitze in der Mäanderebene.
Von Milet aus führte der Weg der Franzosen über Priene und Ephesos nach Smyrna. Die Zusammensetzung seiner Bevölkerung verdient hier wieder Beachtung, weil sie damals so vielfältig war: Von den 10.0000 Einwohnern Smyrnas wären etwa 60–65000 Türken, 21000 Griechen, 10.000 Juden, 5–6000 Armenier und rund 200 Europäer gewesen. Dieses bunte Völker- und Religionsgemisch verließen Choiseul-Gouffier und seine Begleiter bald, um den Nordwesten Kleinasiens zu erkunden. Dazu gehörte z.B. Pergamon (heute Bergama). Intensiv befasste sich der Graf ferner mit Troja und seiner Umgebung. Er versuchte die naturräumlichen Gegebenheiten und die noch vorhandenen Ruinen, den Beschreibungen in den Werken Homers (Ilias und Odyssee) zuzuordnen.
Diese Arbeit beschäftigte den Grafen noch viele Jahre nach seiner Reise 1776. Aufgrund seiner wissenschaftlichen Verdienste wurde er 1783 in die Académie française berufen. Anschließend war er von 1784 bis 1791 französischer Botschafter in Konstantinopel, welches als Standort für seine Forschungen einen günstigen Ausgangspunkt bot. Die Französische Revolution kam ihm jedoch nicht gelegen. 1792 wurde er als Botschafter abgelöst und ging nach Russland ins Exil. 1802 konnte er unter Napoleon wieder nach Frankreich zurückkehren. Schließlich wurde er 1814 unter Ludwig XVIII. sogar Innenminister. Doch dieses Amt hatte der Graf von Choiseul-Gouffier nicht lange inne, denn im Juni 1817 starb er in Aachen.
Die Ergebnisse seines Wirkens wurden in drei Bänden seiner „Voyage pittoresque de la Grèce“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Didyma wird darin schon im ersten Band von 1782 abgehandelt. Der zweite erschien 1809 und der dritte posthum 1822. Neben dem ältesten Grund- und Aufriss des Apollontempels ist auch die erste Karte zur näheren Umgebung Didymas mit Milet aufgenommen. Dass der Apollontempel als hypäthraler Bau geplant und ausgeführt wurde, das heißt ohne Dach, stellt eine Erkenntnis von Choiseul-Gouffier dar. Am interessantesten ist jedoch, dass er aufgrund der Ungereimtheiten bezüglich des Grundrisses des Apollontempels vorschlägt, Ausgrabungen durchzuführen. Um damit selbst schon anzufangen, fehlten ihm aber offensichtlich Zeit und Mittel.