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Frau B. hat Demenz – was ist das eigentlich?

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„Wo geht’s denn in mein Zimmer?“, fragt Helene B. im breiten südbadischen Dialekt. Schelmisch blinzeln die klaren blauen Augen der 88-Jährigen über die kupferroten Ränder ihrer ovalen Brillengläser. Zum zehnten oder elften Mal an diesem Mittag die gleiche Frage: „Wo geht’s denn in mein Zimmer?“ Und sie wird heute wohl noch öfter nachhaken.

Es war in einer Nacht. Vor etwa zwei Jahren. Da klingelte das Telefon bei ihrem Sohn. Die Mutter Helene war dran: „Robert. Essen ist fertig. Kommt ihr?“

„Aber Mutter, es ist mitten in der Nacht“, gähnte Robert.

Im Laufe der Zeit wurde Helene B. dann im Alltag unsicherer – immer häufiger stürzte sie. Als die Hilfe von Angehörigen und ambulanter Pflege nicht mehr ausreichte, musste sie ihre Wohnung aufgeben. Sie lebt jetzt in einem Altenheim.

„Hilfst du mir?“, fragt sie mit ihrem verschmitzten Lächeln, das zum Mitlachen ansteckt.

Frau B. ist eine von mehr als einer Million Menschen in Deutschland mit Demenz. Wie kann man sich eine Demenz vorstellen? Im Laufe des Lebens wird ein Mensch reicher an Wissen, Worten, Fähigkeiten, Erinnerungen und inneren Bildern. Schätze stapeln sich wie ein Haufen Geldscheine auf. Von unten nach oben. Fegt die Demenz wie ein Wind über ein Leben hinweg, räumt sie diesen Stapel ab: von oben nach unten. Schein für Schein verschwindet. Zuerst hat Helene B. vergessen, was sie gerade eben gegessen hat. Dabei war es ihr Leibgericht: Fisch vom Bodensee.

Die dynamische, lebenslustige 88-Jährige hat viele solcher Scheine angehäuft, die nun fortgewirbelt werden: abenteuerliche Campingurlaube und rasante Fahrten auf dem Motorroller. Spritzige Wasserskifahrten und beschwingtes Segeln auf dem Bodensee. Ganze Erlebniswelten – fort! Gestohlen, geraubt, abhandengekommen. Einfach nicht mehr abrufbar.

Helene B. hält sich heute noch lachend den Bauch, wenn man sie an Szenen aus Filmen wie „Witwer mit fünf Töchtern“ mit Heinz Erhard erinnert. Schließlich arbeitete sie Ende der 1950er-Jahre als Platzanweiserin in einem Kino. Heute ist sie selbst darauf angewiesen, dass ihr jemand ihren Platz zeigt. Der Motorroller steht nun abseits. Die Fahrten waren zuletzt eher rasant statt amüsant. Früher blühte Frau B. auf, wenn sie an den Bodensee kam. Heute zieht ein Ausflug auf die Mainau fast spurlos an ihr vorbei. Die ehemalige Wasserratte sitzt auf dem Trockenen.

Wer Menschen mit Demenz etwas vorliest, berührt damit Altbekanntes. Geschichten wecken Erinnerungen an früher. Andachten, Rätsel, Gedichte, Redensarten und Gebete wollen an christliche Überbleibsel im Altgedächtnis andocken. Die unteren Scheine des Stapels sollen dadurch noch eine Weile erhalten bleiben. So sollen sich Menschen mit Demenz – nicht nur an frühere religiöse Erfahrungen erinnern. Vielmehr sollen sie auch jetzt – trotz Demenz – alte Erfahrungen erneuern können. Alltagsgeschichten können bei Menschen, die bisher dem Glauben gegenüber eher distanziert waren, auch noch in einer Demenz neu den Wunsch nach einer Gottesbegegnung wecken.

Helene B. sitzt nun in ihrem Rollstuhl und fragt mit ihrem unbeholfenen und zugleich charmanten Lachen: „Hilfst du mir?“ Vielleicht findet sich ja jemand, der Helene etwas vorliest, mit ihr rätselt oder betet.

Uli Zeller

Frau Krause macht Pause

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