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Die Imagination an die Macht

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John Lennons und Yoko Onos Song Imagine entstand im Sommer 1971 im Landhaus des Paares, Tittenhurst Park in Ascot, an der westlichen Peripherie von London. In diesem aristokratischen Ambiente hat das Künstlerehepaar den Song geschrieben und in einem dreiminütigen Videoclip inszeniert und zelebriert. Ein Mausklick, und er ist verfügbar.

Wenn das Piano mit den Anfangstakten beginnt, sieht man die beiden unter dem alten Baumbestand eines Parks im Nebel. Die Kamera zeigt sie von hinten. Ein junges Paar, schwarz gekleidet, Schulter an Schulter, Hand in Hand. Imagine there’s no heaven / It’s easy if you try… Wenn die Stimme einsetzt, kommen sie ins Offene, gehen auf die schneeweiße Hauptfassade eines georgianisch-klassizistischen Herrenhauses zu. No hell below us / Above us only sky… Lennon legt den Arm um die Schulter seiner Frau. Das Paar erreicht das von zwei Säulen verzierte Portal, hält einen Moment inne. Ein Schild kommt ins Bild: This is not here. Wir betreten, so verstehe ich diese Botschaft, nicht ein aristokratisches Herrenhaus, sondern einen Bezirk unseres Bewusstseins: den Sitz der Vorstellungskraft, den inneren Palast, wo die Träume von einer besseren Welt ihren Ursprung haben. Imagine all the people / Living for today… singt die Stimme, während die beiden im Eingang verschwinden. Ein abgedunkelter, halbrunder Raum. Allein durch die Schlitze der Vorhänge fällt etwas Licht. Imagine there’s no countries / It isn’t hard to do … Yoko Ono, nun in weißem knöchellangem Kleid, öffnet den ersten Vorhang, lässt Tageslicht herein. Nothing to kill or die for / And no religion too … Der Blick fällt auf den an einem weißen Steinway-Flügel sitzenden John Lennon. Imagine all the people / Living life in peace… Von links nach rechts die Fensterfront abschreitend öffnet Yoko Ono Vorhang um Vorhang, flutet den Raum mit Sonnenlicht. Imagine no possessions / I wonder if you can … Lennons feierlicher Gesichtsausdruck kommt groß ins Bild. Sein Blick wechselt zwischen Klaviertasten und Kameraauge. No need for greed or hunger / A brotherhood of man. Das frische Grün des Gartens dringt mit dem Licht in den Raum, während Yoko den nun hellen Raum durchschreitet und neben ihrem Gatten Platz nimmt. Imagine all the people / Sharing all the world… Das Paar ist hinter dem Flügel in der Totalen zu sehen. Ein weißes Stirnband bändigt ihr langes pechschwarzes Haar. Ihr Blick richtet sich nach innen, während er die letzte Strophe beginnt: You may say I’am a dreamer / But I’m not the only one … Sie blicken sich in die Augen. I hope someday you’ll join us / And the world will live as one. Ende des Liedes. Draußen zwitschert ein Vogel. Die Augen leuchten. Ein langer Kuss. Ende des Videos bei 3:14.

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Imagine wirkte als Hymne einer Generation. Warum? Zum einen war es die Melodie, vom Piano sostenuto gespielt und durch ein raffiniert-schlichtes Streicherarrangement untermalt, von Lennons kraftvoller Stimme gesungen. Der Komponist sprach selbstironisch vom »sugar-coat«, vom Zuckerguss des Songs. Die eingängige und eindringliche Musik verband sich organisch mit der revolutionären Botschaft des Textes. »Ein antireligiöser, antinationalistischer, antikonformistischer, antikapitalistischer Song«, sagte Lennon in einem Interview, »praktisch das Kommunistische Manifest.« Vor allem aber nahm der Song den Zeitgeist auf. Er formuliert die kulturrevolutionäre Gewissheit, dass eine andere Welt möglich ist.

Die Zukunft ist nie die bruchlose Fortsetzung der Gegenwart. Sie wird immer neu gemacht, freilich mit den geistigen und spirituellen Ressourcen der Vergangenheit. Jede schimmernde Perle wächst in einer harten, grauen Muschelschale heran. Das Neue kann nur im Schoß des Alten entstehen. Was jedoch immer wieder erstaunt: In jeder Renaissance, in jeder Epoche des Aufbruchs, erscheinen in verwandelter Gestalt die Bilder, die Grundideen und das Vokabular der Nachhaltigkeit.

Die Entdeckung der Nachhaltigkeit

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