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Stummer Frühling
ОглавлениеSilent spring – Stummer Frühling. Eine geniale Metapher, Titel eines Buches der amerikanischen Meeresbiologin Rachel Carson. Ihr Thema war der Krieg des Menschen gegen die Natur. 1962 ist das Buch erschienen und trug weltweit zum Erwachen des Umweltbewusstseins bei. Stummer Frühling – das bezog sich auf ein zartes Klanggebilde, die so innigen, melodischen, von sehr hoch bis tief auf- und absteigenden Tonketten des Rotkehlchens. Das Tirilieren und Flöten dieses kleinen Singvogels, schon sehr früh morgens und noch spät abends vom Männchen, aber auch vom Weibchen zu hören, empfindet unsere Psyche als ganz besonders aufmunternd. In dieser Metapher ist die einfache Frage aufgehoben: Was verlieren wir, wenn – beispielsweise – der Gesang des Rotkehlchens aus unserer Umwelt (environment) verschwindet? Man kann mit Fug und Recht sagen: Der Entzug von Naturschönheit hat die moderne Umweltbewegung in Gang gesetzt.
Es war einmal eine Stadt im Herzen Amerikas, in der alles Leben in Harmonie mit seiner Umgebung zu leben schien. So setzt die Fabel für morgen im Anfangskapitel von Rachel Carsons Buch ein. Das Städtchen lag inmitten blühender Farmen mit Kornfeldern, deren Gevierte an Schachbretter erinnerten, und mit Obstgärten an den Hängen der Hügel, wo im Frühling Wolken weißer Blüten über die grünen Felder trieben… Das Bild einer heilen Welt, und dann der Schock: Eine seltsame Seuche tauchte in der Gegend auf und unter ihrem Pesthauch begann sich alles zu verwandeln. Der nächste Frühling kam. Es herrschte eine ungewöhnliche Stille… Die wenigen Vögel, die sich noch irgendwo blicken ließen, waren dem Tode nah; sie zitterten heftig und konnten nicht mehr fliegen. Es war ein Frühling ohne Stimmen… Schweigen lag über Feldern, Sumpf und Wald.
Die Idylle ist kontaminiert. Das Wort, das Rachel Carson hier benutzt, bedeutet im lateinischen Ursprung nicht nur verschmutzt oder vergiftet, sondern auch: befleckt, besudelt, entweiht. Silent Spring ist die erste frontale Attacke auf die »Todeselixiere« der chemischen Industrie, die ab Mitte der fünfziger Jahre von Flugzeugen aus an vielen Orten der USA flächendeckend versprüht wurden. Zur »Schädlingsbekämpfung«, zum »Schutz« von Pflanzen. Es waren vor allem Frauen, die sich Ende der fünfziger Jahre an die schon berühmte Naturschriftstellerin wandten. Eine Hausfrau aus dem Mittleren Westen schrieb ihr, dass nach einer DDT-Sprühaktion innerhalb eines Jahres sämtliche Rotkehlchen verschwunden seien. Eine Journalistin aus einer Kleinstadt an der Ostküste berichtete, wie nach einem solchen Gifteinsatz sieben Singvögel tot an ihrer Vogeltränke lagen. Eine New Yorker Waldorflehrerin, Besitzerin eines Gartens auf Long Island, in dem sie nach biologisch-dynamischen Verfahren Kräuter und Gemüse anbaute, schickte ihr die Prozessakten eines Gerichtsverfahrens. Sie hatte die Kontaminierung ihres Gartens bis vor den Obersten Gerichtshof gebracht.
Was war der Hintergrund? Um das Ulmensterben durch einen Pilzbefall, der in den fünfziger Jahren in den nordamerikanischen Parks und Alleen grassierte, in den Griff zu bekommen, hatten die Behörden um 1954 begonnen, massiv die Chemikalie DDT einzusetzen. Die Blätter der so behandelten Bäume aber dienten im Herbst den Regenwürmern zur Nahrung. Diese lagerten das Gift in ihrem Gewebe ab. Die Würmer wurden wiederum im Frühjahr von den heimkehrenden Singvögeln gefressen oder an ihre Brut verfüttert. Nahrungsketten wurden zu Todesfallen. Ein Frühling ohne den Morgen-Chorus der Singvögel in Wald, Feld und Garten. Wollen wir das? Wollen wir wirklich darauf verzichten? Ist dieses Naturphänomen nicht ein Element unseres emotionalen Wohlbefindens und damit unseres Wohlstands? Die Frage machte Rachel Carson zum Ausgangspunkt ihres Buches.
Fakten- und materialreich belegt sie die verheerende Wirkung von DDT und anderen Chemikalien auf das Leben im Boden, im Wasser und in der Luft. Mit demselben Zorn prangert die Autorin – beim Schreiben des Buches war sie bereits unheilbar krebskrank – das Strontium 90, die Strahlung aus dem Fall-out der Atombombenversuche, an. Ihre Botschaft: Die Natur schlägt zurück – wenn wir nicht sehr schnell umdenken, die Kontaminierung unserer Welt einstellen und zu den Prinzipien zurückkehren, nach denen die Natur selbst arbeitet. Rachel Carsons Buch befreite die junge, in einer Nische agierende wissenschaftliche Ökologie aus dem Elfenbeinturm und popularisierte deren wesentliche Botschaft: In der Natur ist alles mit allem verbunden.
Nach dem Erscheinen von Silent Spring wurde Rachel Carson in einer beispiellosen, von der chemischen Industrie gesteuerten Medienkampagne als hysterisch, als Lügnerin, Fälscherin und Kommunistin diffamiert. Sie musste sich die Frage gefallen lassen, warum sich eine kinderlose Frau über das Erbgut Sorgen mache. Rachel Carson starb im Frühling 1964. Acht Jahre später, 1972, kündigte der Vertreter der US-Regierung auf dem Stockholmer Umweltgipfel der UN ein Verbot des Einsatzes von DDT in der Landwirtschaft an. Ökologie war zum Anliegen einer weltweiten Bewegung geworden. Der faszinierende Blick auf den blauen Planeten verband sich mit der liebevollen und besorgten Wahrnehmung der Nahräume: Die exquisiten Tonketten des Rotkehlchens draußen im Garten sind im gesamten bisher bekannten Universum einzigartig.
Von der Ökologie her hat sich Rachel Carson dem Begriff der Nachhaltigkeit angenähert. Sie schreibt von der Erhaltung der Erde für zukünftige Generationen. Alles Leben müsse einen Zustand der Anpassung und Balance mit seinen Umgebungen suchen. Das war ihr lebenslanges Thema. Schon 1953 hatte sie in einem Leserbrief an die Washington Post den Raubbau an den Ölvorkommen im Meeresboden angeprangert: Der wahre Reichtum der Nation liegt in den Ressourcen der Erde: Boden, Wasser, Wälder, Mineralien und Wildleben. Sie für die gegenwärtigen Bedürfnisse zu nutzen und gleichzeitig ihre Erhaltung für zukünftige Generationen sicherzustellen, erfordert ein sorgfältig ausgewogenes und langfristig angelegtes Programm. Die Substanz der Brundtland-Formel, formuliert mehr als drei Jahrzehnte vorher von einer prominenten Ökologin und Journalistin.
Dem »Stummen Frühling« hat Rachel Carson eine Widmung vorangestellt: Für Albert Schweitzer, der sagte: Der Mensch hat die Fähigkeit verloren, vorauszublicken und vorzusorgen. Er wird am Ende die Erde zerstören. Gegen den Strich gelesen, enthält das Zitat eine wunderbare Bestimmung von Nachhaltigkeit. Es ist die Fähigkeit, vorauszublicken und vorzusorgen.
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Im August 1965, drei Jahre nach Erscheinen des »Stummen Frühlings«, fand in der Universitätsstadt Boulder in den Rocky Mountains eine kleine, wenig beachtete wissenschaftliche Tagung statt. Ihr Titel: »Ursachen des Klimawandels«. Das Klima des Planeten, so die anwesenden Experten, sei ein prekäres System mit einem gefährlichen Potenzial zu dramatischen Veränderungen, anfällig für menschliche Interventionen. Der Tagungsleiter Roger Revelle war wie Rachel Carson Meeresforscher. Seine ersten wissenschaftlichen Daten hatte er gewonnen, als er 1946 im Auftrag der US-Navy die Folgen der Atombombentests im Bikini-Atoll in der Südsee untersuchte. Ein Jahr nach der Konferenz von Boulder, 1966, hielt Revelle an der Harvard Universität eine Vorlesung. Im Hörsaal saß ein 18-jähriger Student aus Tennessee namens Al Gore.
Wiederum vier Jahre später, im Sommer 1970, mitten in der kurzen Ära der Mondflüge, feierte das junge Amerika in den Parks der Großstädte und in der wilden und freien Natur des Landes Earth Day. 20 Millionen Menschen protestierten gegen die Zerstörung ihrer Umwelt.
In Deutschland hatte DER SPIEGEL im November 1969 die öffentliche Aufmerksamkeit für das neue Thema entfacht. Titel der Story: Apokalypse 1979 – Der Mensch vergiftet seine Umwelt. Ein Stein war ins Rollen gekommen.