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Die Schöpfung bewahren

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Der Mensch hat die Fähigkeit, vorauszublicken und vorzusorgen, verloren. Er wird am Ende die Erde zerstören. Das war Albert Schweitzers Befund. Er setzt voraus, dass der Mensch potenziell fähig ist, die Erde zu bewahren. Dem mittelalterlichen Denken war diese Vorstellung fremd. Die Bewahrung der Schöpfung galt als das Werk der »göttlichen Vorsehung«. Mehr als ein Jahrtausend lang – von Augustinus bis Luther – gehörte die Lehre von der »Providentia Dei« zum Fundament des christlichen Glaubens. Dieser theologische Fachbegriff vereinte ein ganzes Spektrum von Bedeutungen: Vorherbestimmung, Vorausschau, Vorsorge, Fürsorge. Dem Menschen war dabei eine untergeordnete Rolle zugewiesen. In der Epoche der Aufklärung kollabierte der Glaube an die Providentia. Aus seinen Trümmern aber, so meine These, stammen tragende Pfeiler des modernen Nachhaltigkeitsdenkens. Ein Blick auf das alte Gerüst ist deshalb höchst aufschlussreich.

Die Vorstellung existierte schon in der antiken Philosophie: Die große Zweckmäßigkeit und Schönheit sowohl in den allerkleinsten Dingen wie in den größten Zusammenhängen von Natur und Kosmos verweisen auf eine ordnende Kraft. In Anbetracht ihrer umfassenden Wirkung kann diese nur göttlichen Ursprungs sein. Bereits die griechischen Philosophen Anaxagoras, Platon und Epikur sprachen in diesem Zusammenhang von göttlicher »Vorsehung« und »Fürsorge« (tou theou pronoia). Die Philosophen der Stoa formten daraus ein Weltbild: »Alles ist wie ein heiliges Band miteinander verflochten … Aus allem zusammengesetzt ist eine Welt (unus mundus) vorhanden, ein Gott, alles durchdringend, ein Körperstoff, ein Gesetz«, schrieb der Philosoph auf dem römischen Kaiserthron, Marc Aurel. Eine Welt – unus mundus – schon damals! Der venunftbegabte Mensch ist in der Lage, die gegebene Ordnung als sinnvoll wahrzunehmen, ihre Schönheit zu genießen und sich in ihr einzurichten. Wohlgemerkt: sich in der Welt einrichten. Nicht: die Welt einrichten und sie nach dem Prinzip der Nützlichkeit »managen«.

In der frühen christlichen Theologie schließt die Providentia-Lehre unmittelbar an die Schöpfungsgeschichte an. Nach dem Entwurf von »unus mundus« und dem Schöpfungsakt (creatio) »aus dem Nichts heraus« (ex nihilo) hat Gott sein Werk keineswegs verlassen. Sein Wille bleibt in der Schöpfung präsent. Er wirkt mit seiner Allmacht und nach seinem Plan weiter in sie hinein. »Providentia« meint die conservatio – Erhaltung – der Welt und die Fortsetzung der Schöpfung. Gott sorgt für alle seine Geschöpfe, erhält sie auf Dauer in ihrer Existenz, führt sie ihrer Bestimmung, ihrem Telos, nämlich der Erlösung, entgegen. Schon ein Dokument aus der urchristlichen Gemeinde Roms, der sogenannte 1. Clemensbrief, geschrieben um das Jahr 100, handelt von der »Nachhaltigkeit« des göttlichen Willens:

Die Himmel, kreisend durch sein Walten, ordnen sich ihm in Frieden unter. Tag wie Nacht vollenden sie den von ihm angeordneten Lauf, ohne einander zu behindern. Sonne und Mond und die Chöre der Sterne durchlaufen entsprechend seiner Anordnung in Eintracht ohne jede Überschreitung die ihnen vorgeschriebenen Bahnen. Die fruchttragende Erde bringt nach seinem Willen und zu den entsprechenden Zeiten Nahrung hervor in Fülle für Menschen und Tiere und alle Lebewesen auf ihr, ohne dass sie jemals abweicht von dem, was durch ihn festgelegt ist.

Das Werk der Vorsehung übersteigt freilich alle menschliche Erfahrung. Folglich ist es nicht immer leicht zu durchschauen. Für diesen Sachverhalt bringt der Kirchenvater Augustinus die »unsichtbare Hand« ins Spiel. Gott, so schreibt er in seinem Buch »Über den Gottesstaat«, arbeite nicht wie ein Künstler, der seine Werke mit »körperlichen Händen« aus »irdischen Stoffen« gestalte, sondern »die Hand Gottes ist die Macht Gottes, die auch sichtbare Dinge auf unsichtbare Weise wirkt«. Auch hier ein Denkbild, das in säkularisierter Form weiterwirkte: Adam Smith hat sich aus dem Steinbruch der Providentia-Lehre bedient, als er 1776 die »unsichtbare Hand« des freien Markt für heilig erklärte.

Eins jedenfalls ist gewiss: Aus einem Kirschkern entsteht kein Apfelbaum, sondern immer nur ein Kirschbaum. Die Verlässlichkeit und Stetigkeit der Abläufe ist für den mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin ein Beweis für die teleologische, also zielgerichtete Struktur der Natur. Der Scholastiker, geboren 1225, in dem Jahr, als der Sonnengesang gedichtet wurde, sieht darin das Wirken einer zweckvollen »Leitung«. »Also«, folgert er, »muß es notwendig ein Wesen geben, durch dessen Vorsehung (providentia) die Welt geleitet wird (mundus gubernetur)«. Auf das Wort governa stießen wir schon im Sonnengesang. Bei Thomas wird gubernatio (Lenkung, Leitung, Regierung) zu einem Schlüsselbegriff. Gott lenkt das Einzelne und das Ganze zur Verwirklichung aller Möglichkeiten, die darin angelegt sind. »Der Aufbau der Wirklichkeit«, kommentiert der Theologe Udo Krolzik, »ist also in dem Streben der Naturdinge begründet, das zu sein, was sie von Natur aus sind.« Conservatio ist kein Stillstand, kein statisches Bewahren. Werden und Entwicklung sind eingeschlossen. Die gubernatio verleiht diesem Prozess eine zielgerichtete Dynamik.

Im Luthertum erlebte die Providentia-Lehre eine letzte Blüte. Da »im Himmel und auff Erden«, predigte Martin Luther 1537, »alles so wunderbarlich, ordentlich und gewis« geregelt sei, müsse »ein einig, ewig Göttlich wesen sein, welches alle ding erschaffen, erhelt und regieret.« Luther glaubte an die Ubiquität, die Allgegenwart des Göttlichen. Allerdings habe sich die göttliche Präsenz in »alle Creaturen verkrochen und versteckt«. Diese Anschauung wurde zu einem starken Antrieb für die naturwissenschaftliche Forschung. Noch Linné, Spross einer Dynastie lutherischer Landpfarrer, suchte in der Natur den Fußabdruck Gottes. Luthers Gott ist nämlich »verborgen«. Seine Vorsehung ist ein Akt der Gnade. Sein Zorn ist deren unberechenbare Komponente.

Befiehl du deine wege / und was dein hertze kränkt / der allertreusten pflege / Deß, der den himmel lenckt: / Der wolken, lufft und winden / gibt wege, lauf und bahn, / Der wird auch wege finden / Da dein fuß gehen kann.

So erscheint Bruder Wind 1653 im Lied eines Berliner Predigers. Der berühmte Choral Paul Gerhardts, von Johann Sebastian Bach einige Jahrzehnte später in die Matthäus-Passion eingearbeitet, enthält in Kurzfassung die lutherische Lehre von der Vorsehung. »He’s got the whole world in his hand« – das Spiritual der protestantischen Schwarzen im amerikanischen Süden verkündet noch dieselbe Botschaft.

Conservatio est actio DEI externa, qua ex mera bonitate omnia, quae sunt, sustentat. Die Conservatio ist die nach außen gerichtete Tat Gottes, die aus reiner Güte alles, was da ist, erhält … Die Vokabeln conservatio und sustentare – Anklang an den Sonnengesang, Vorgriff auf den Nachhaltigkeitsdiskurs des 20. Jahrhunderts – finden sich in einem theologischen Traktat aus dem Jahre 1682. Sein Verfasser, Abraham Calov, galt als »Mathematiker der Religion« und Gralshüter der lutherischen Orthodoxie an der Universität zu Wittenberg. Seine Autorität reichte weit. Bis hinauf zu den Universitäten von Uppsala und Dorpat. Calov war »spiritus rector« des frommen Paul Gerhardt, Zeitgenosse der freien Geister Kepler und Descartes. Am Vorabend der Aufklärung erscheint die christliche Providentia-Lehre als hoch entwickeltes System. Ihr begriffliches Gerüst wird mit allen Stützpfeilern, Verstrebungen und Stellschrauben noch einmal in voller Größe sichtbar.

Der Oberbegriff »providentia« benennt die Handlung und die Fähigkeit, in die Zukunft hinein zu denken. Die Voraussicht führt zu einem Vorherwissen der Dinge. Das Vorausgesehene, das dem Gewollten entspricht, bedarf der Sorge, dass es auch eintritt, also der Vorsorge. Diese bedingt wiederum ein dem angestrebten Ziel angemessenes Handeln (actio) in jedem gegebenen Moment. Die Struktur des providentiellen Handelns ist hochkomplex. Sie hat drei tragende Elemente. Grundlegend ist die conservatio (synonym: sustentatio, das franziskanische sustentamento). Hier geht es um die Erhaltung, die Bewahrung aller Dinge in ihrem durch die Schöpfung festgelegten Existenzvollzug. Sie ist Fortsetzung der Schöpfung und verhindert den Rückfall ins Nichts – annihilatio –, die Vernichtung.

Die gubernatio meint die Leitung und Lenkung aller Abläufe, die Regierung über die Dinge. Ein Bestandteil ist die cura, die Sorge und Fürsorge, auch der pflegliche Umgang mit der Schöpfung. Zeichen der göttlichen gubernatio sind die gesetzmäßigen Erscheinungen in der Natur: Die Gleichmäßigkeit der kosmischen Bewegungen, die regelmäßige Abfolge der Jahreszeiten, der Wasserkreislauf, die Generationenfolge in den Naturreichen.

Drittes Element von Providentia ist der concursus, das Zusammenkommen oder Zusammenspiel der verschiedenen Wirkursachen. Hier geht es um die Beziehung zwischen göttlichem Wirken (actio externa), dem Wirken der Naturkräfte und dem freien menschlichen Handeln. Das göttliche Wirken ist prima causa, erste Ursache. Naturkräfte und menschliche Mitarbeit (cooperatio) sind secundae causae, zweitrangige Ursachen, aber durchaus mit Spielräumen, eigenen Wirkungen und Nebenwirkungen. Schließlich behandelt die Lehre vom concursus auch noch die kitzlige Frage, wie das Böse beim Gang der Dinge mitwirkt. Die göttliche gubernatio wechselt zwischen den Optionen: Zulassung (permissio), Hinderung (impeditio), Ausrichtung auf göttliche Ziele (directio) und Begrenzung (terminatio) des Bösen.

Mehr als 1500 Jahre hatte dieses kunstvolle Gedankengebäude Bestand. Dann geriet die Zeit aus den Fugen, und der Bau kollabierte. Eckdaten des Zusammenbruchs waren das Jahr 1666, als Newton im Obstgarten seines Elternhauses beobachtete, wie ein Apfel zu Boden fiel, und das Jahr 1755, als ein Erdbeben Lissabon zerstörte und Zehntausende in den Tod riss – Fromme und Ketzer, Säuglinge und Greise ohne jeden Unterschied. Die neue Physik mit ihrer Erkenntnis, dass die Schwerkraft den Gang und Fortgang im Universum lenkt und im Lot hält, war das eine. Das andere war die schlichte Frage: »Unde malum?« Woher kommt das Böse? Beides zusammen brachte den Glauben an die göttliche Vorsehung zum Einsturz. Selbst die Theologie verabschiedete sich davon.

Wer an die Providentia glaubt, braucht keinen Nachhaltigkeitsbegriff. Denn die Zukunft liegt in Gottes Hand. Wo aber dieser Glaube ins Wanken gerät, tut sich ein Abgrund auf. »Es rettet uns kein höh’res Wesen«. Was tritt an diese Stelle? Sind Gott und die Natur identisch? Ist die Evolution eine Art »Vorsehung der Natur«? Kann der Mensch die »gubernatio«, die Lenkung der Natur übernehmen? Findet die menschliche Ratio in den Naturgesetzen den Schlüssel zur Herrschaft über die Erde? Wenn die »prima causa« (Gott) ausfällt, wie agieren dann die »secundae causae«? Wie gestaltet sich die »cooperatio« zwischen Mensch und Natur? Im Einklang miteinander? Oder wird der Mensch zum Sachwalter von Voraussicht und Vorsorge? Aber wie? Als familiärer »Hausvater«, der seinen gesamten Haushalt zum Wohle aller, einschließlich der Knechte, der Tiere im Stall und Pflanzen auf dem Feld, treuhänderisch verwaltet und verbessert der nachfolgenden Generation übergibt? Soll ein starker, ein absolutistischer Staat diese Rolle übernehmen? »Etat Providence« sagen die Franzosen noch heute für »Wohlfahrtsstaat«. Oder regelt die »unsichtbare Hand« des Marktes alles? Im großen Schmelztiegel der Frühaufklärung befanden sich alle diese Ideen noch in Gemengelage dicht beisammen. Bis sich die Geister schieden.

Und heute? Das Vokabular der Providentia-Lehre ist urplötzlich zurück – im globalen Diskurs der Nachhaltigkeit. Greifen wir ein paar Stellschrauben des Gerüsts heraus: Der alte Zentralbegriff conservatio blieb im Englischen und Französischen fast bruchlos erhalten. Im Sinne von bewahrender Nutzung wurde er zum Gegenbegriff von Raubbau und Umweltzerstörung. Ein internationales Netzwerk von Naturschützern und Ökologen, die »International Union for Conservation of Nature« (IUCN), setzte 1980 conservation kurzerhand mit sustainable development gleich. Denkfabriken der internationalen Politik diskutieren vehement über global governance oder earth system governance, die alte Idee der gubernatio – Lenkung – in neuem Gewand. Kongresse in aller Welt befassen sich mit einem »Kapitalismus 3.0«, der eine neue Integration ökologischer und sozialer Wirkkräfte beinhaltet. Das hieß früher concursus. Und was sagt uns: terminatio – Begrenzung des Bösen? Heute streitet man über Grenzwerte für toxische Belastung, über die Begrenzung des CO2-Ausstoßes pro Kopf, und – wieder – über die Grenzen des Wachstums. Nicht zuletzt entwerfen Filme und Bücher immer neue Bilder der annihilatio, der Vernichtung des Planeten. Die existenzielle Angst vor der Apokalypse, die den Glauben an die Vorsehung unterschwellig begleitete, ist nicht gebannt.

Providentia – ein alter Hut? Kein Zweifel, die Säkularisierung der Idee ist unumkehrbar. Statt an »He’s got the whole world in his hands« glauben wir eher der Botschaft »The world in your hands« aus den Werbespots der globalen Kreditkartenunternehmen. Die Frage, ob die Bewahrung der Schöpfung gelingt, ist jedoch keineswegs entschieden. Der Philosoph Jürgen Habermas empfahl kurz nach den Terroranschlägen von 9/11 der säkularen Gesellschaft, sich ein »Gefühl für die Artikulationskraft religiöser Sprachen« zu bewahren. Denn dort ließen sich »Ressourcen der Sinnstiftung« entdecken. Mit dem Gebot, der Mensch solle die Erde bebauen und bewahren (Genesis 2, 15), ist in der Bibel ein Urtext von Nachhaltigkeit formuliert. In der hebräischen Fassung heißt es an dieser Stelle abad (bebauen, bedienen) und schamar (pflegen, behüten, bewahren). Hier sind wir ganz dicht an der Formel sustain und developnachhaltige Entwicklung.

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