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ZWEI

EIN SPERRIGER BEGRIFF

Begriffsverwirrung

Was assoziieren wir mit dem Wort Nachhaltigkeit? Ist es glasklar oder nebulös? Ist es vor allem ein Lichtblick, mit positiven Erwartungen besetzt? Oder ist es ein Langweiler? Setzt es Fantasien frei? Klärt es Zusammenhänge? Oder verschleiert es Abhängigkeiten? Wie auch immer man in seinem eigenen Wortschatz damit umgeht, man sollte möglichst genau wissen, wovon die Rede ist.

In den letzten Jahren ist die Klage über die »inflationäre Verwendung«, die Verwässerung, die Begriffsverwirrung zum Mantra geworden. Aus meiner journalistischen Arbeit kenne ich Leute, die das Wort nicht in den Mund nehmen, ohne dabei mit gekrümmten Zeige- und Mittelfingern Gänsefüßchen in die Luft zu malen. Das Wort ist in das mediale Feuerwerk der Reklamesprache geraten. »Nachhaltigkeit der Diät«, »nachhaltige Befreiung der Kopfhaut von Schuppen«, »nachhaltiger Ausbau der Kapitalkraft« – nichts ist unmöglich. In der Schweiz weihte man einen Monat vor dem Kopenhagener Klimagipfel »die nachhaltigste Autobahn aller Zeiten« ein.

Was meint, wer von »nachhaltigem Wachstum« spricht? Stetiges Wachstum des Bruttosozialprodukts oder eines Firmenimperiums mit allen damit verbundenen ökologischen und sozialen Kollateralschäden? Das Wachstum grüner Strukturen innerhalb einer womöglich schrumpfenden Ökonomie? Manchmal ist gedankliche und sprachliche Schlamperei im Spiel. Allzu oft freilich werden bewusst Nebelkerzen gezündet. »Greenwashing« nennt man das in den USA. In Anlehnung an das biblische »seine Hände in Unschuld waschen« – oder auch an die im Kalten Krieg aufgekommene Redewendung von der »Gehirnwäsche«. Aus der Verwirrung lässt sich Kapital schlagen.

Der Trick ist simpel, aber nicht ganz einfach zu durchschauen. Denn das Wort führt im Deutschen ein Doppelleben: einmal als allgemeinsprachliches Wort, dann als politischer Begriff. Was bedeutet »nachhaltig« auf der Ebene der Gemeinsprache? Zunächst einmal tatsächlich nichts weiter als »nachdrücklich«, »intensiv«, »dauerhaft«. Siehe Goethes Wortwahl im »Wilhelm Meister«-Roman von 1796: »Er schien nunmehr zum ersten Male zu merken, daß er äußerer Hülfsmittel bedürfe, um nachhaltig zu wirken.« So weit, so gut. Das Verwirrspiel setzt da ein, wo die Ebenen verwischt werden. Wo man in der Sache im Rahmen der alltags sprachlichen Bedeutung bleibt, jedoch suggeriert, man meine die neue, ökologisch aufgeladene Bedeutung des Begriffs. Eine schlich te Gewinnerwartung für die nächsten zwei, vielleicht drei Jahre mutiert so zu einer nachhaltigen, will sagen: ökologisch verantwortlichen und sozial gerechten Rendite. Fatal ist es, wenn »Nachhaltigkeit« gegen vermeintlich überzogene Forderungen von Umweltschützern in Anschlag gebracht wird: Man erklärt den Bau eines Kohlekraftwerks zur »nachhaltigen« Lösung, weil es sauberer sei als das alte und Arbeitsplätze erhalte.

Wo der Begriff seiner Substanz beraubt ist, lässt sich damit wenig – oder alles – machen. Noch den banalsten Vorgang, ja sogar die rücksichtsloseste Plünderung des Planeten, kann man mit diesem entkernten Begriff als »nachhaltig« ausgeben.

Das Wort ist auf den ersten Blick nicht sonderlich attraktiv. »Nach« und »halt«, »-ig« und »-keit« – das klingt statisch, sperrig, irgendwie dröge. Selbst unter Experten ist das Unbehagen weit verbreitet. Bei einer Fachtagung in Berlin hörte ich vor einigen Jahren den damaligen grünen Umweltminister händeringend an das Auditorium appellieren, ihm eine bessere Übersetzung für sustainability zu liefern. Nachhaltigkeit sei schwerfällig, nicht vermittelbar, einfach »nicht sexy«. Aber was ist, wenn sustainability historisch eine Übersetzung von Nachhaltigkeit war – und nicht umgekehrt? Bei meinem Gang durch die Wälder der Aufklärung komme ich darauf zurück. Und was ist, wenn in der »Sperrigkeit« des Begriffs Nachhaltigkeit gerade sein subversives Potenzial liegt?

Im Umfeld des Kopenhagener Klimagipfels von 2009 führten manche Thinktanks und Medien ein neues Vokabular ein. Von nun an soll eine klimagerechte Strategie den Weg in eine postkarbone Zivilisation bahnen. So notwendig der Übergang zu einer CO2-neutralen Entwicklung ist – dieses Vokabular kann das Wortfeld der Nachhaltigkeit ergänzen, den Hauptbegriff jedoch keineswegs ersetzen.

Eine kleine Szene aus »Alice hinter den Spiegeln«, Lewis Carrolls Kinderbuch aus dem England des 19. Jahrhunderts, beschreibt den Mechanismus von semantischen Machtspielen aller Art: »›Wenn ich ein Wort gebrauche‹, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, ›dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.‹ ›Es fragt sich nur‹, sagte Alice, ›ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.‹ ›Es fragt sich nur‹, antwortete Goggelmoggel, ›wer der Stärkere ist, weiter nichts.‹ Alice war zu verwirrt, um darauf noch eine Antwort zu finden…«

Wortkörper

Sustainability, hållbar utveckling, desarrollo sostenible, chi xu fa zhan, Nachhaltigkeit – im globalen Dorf ist das Wort allgegenwärtig. Speist man es nur in ein paar Sprachen als Suchbegriff bei Google ein, bekommt man innerhalb von Sekunden etliche Millionen Treffer. Es gibt, nimmt man das Internet als Messlatte, nicht viele Themen, die am Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts die Menschheit so stark beschäftigen.

Der moderne Begriff hat jedoch tiefe Wurzeln und eine lange Tradition. Alte Wörter sind in der Regel mit den vergangenen Bedeutungen aufgeladen. Diese archäologischen Schichten möchte ich freilegen, um an das Potenzial heranzukommen, das sich dagegen sperrt, mit unserer gegenwärtigen Normalität gleichgeschaltet zu werden. Dazu ist es notwendig, mehrsprachig zu verfahren. Werfen wir zunächst einen Blick auf den Wortkörper in der Gestalt, wie er 1987 im Brundtland-Bericht der UN definiert ist: Sustainable development.

Was genau bedeutet sustainable? Der eine Bestandteil der Wortbildung ist schnell erklärt. -able heißt können, fähig sein. Im Deutschen haben wir dafür das Suffix -bar. Holz kann brennen. Es ist brennbar. Komplexer ist das Verb sustain. Das Oxford English Dictionary aus den sechziger Jahren, also vor der neuen Begriffsbildung, behandelt es in mehreren Spalten und belegt es seit dem Mittelalter. Unter Punkt 4 erscheint die uns interessierende Bedeutungsebene. Sustain meint hier to keep in being. Übersetzt wäre das etwa im Dasein halten. Eine andere Umschreibung lautet: to cause to continue in a certain state, also: bewirken, dass etwas in einem bestimmten Zustand fortdauert. Dann: to keep or maintain at the proper level or standard etwa: auf dem angemessenen Stand erhalten. Und to preserve the state of, den Zustand von etwas bewahren. Demnach wäre sustainable wortgetreu zu übersetzen mit aufrechterhaltbar oder auf Dauer bewahrbar. Oder schlicht: tragfähig.

Die englische Sprache ist, salopp gesagt, eine Kreuzung aus Plattdeutsch und Vulgärlatein. Sustain ist ein Wort lateinischen Ursprungs. Im lateinischen Wörterbuch finden wir mit annähernd gleicher Bedeutung die Verben sustinere und sustentare. Die Grundwörter sind jeweils sub (unter) und tenere (halten, tragen). Für die deutsche Übersetzung bietet das Wörterbuch an: aushalten, aufrechterhalten, tragen, stützen, bewahren, etwas zurückhalten. Mit dem letzten Eintrag sind wir ganz dicht an nachhalten.

Wohl unterscheiden sich die Blickwinkel der beiden Wörter. Während sustentare mehr die Anordnung der Dinge im Raum, nämlich das Tragende, die Tragfähigkeit einer Struktur ins Visier nimmt, betont nachhalten die Zeitleiste, nämlich die Anlegung einer ausreichenden Reserve für die Zukunft. Semantisch aber – auf ihrer Bedeutungsebene – sind sich sustinere, sustainable und nachhalten, nachhaltig sehr nahe. Und das ist kein Zufall.

Das allgemeinsprachliche Wort nachhaltig ist im Deutschen schon sehr früh zu einem fachsprachlichen Terminus geworden. Vor fast 250 Jahren avancierte es zum Leitbegriff des deutschen Forstwesens. Es bezeichnet seitdem die Verpflichtung der Forstwirtschaft, Reserven für künftige Generationen nachzuhalten. Mitte des 19. Jahrhunderts übersetzte man nachhaltige Forstwirtschaft ins Englische: sustained yield forestry. In dieser sprachlichen Form und mit klar umrissener Bedeutung gelangte es in die internationale forstliche Fachsprache und kurz nach Gründung der Weltorganisation auch in das Vokabular der Vereinten Nationen. Dort diente es wiederum drei Jahrzehnte später als Vorbild und Blaupause für die moderne Begriffsbildung sustainable development. Von den verschlungenen Wanderwegen des Wortes seit seiner Prägung in der Epoche der Frühaufklärung wird noch die Rede sein.

Formelsammlung

Eine verbindliche und alles umfassende Definition von Nachhaltigkeit gibt es nicht. Dafür ist der Begriff zu komplex und zu dynamisch. Stattdessen sind einige Formeln in Umlauf gekommen, also mehr oder weniger verkürzte, näherungsweise Bestimmungen. Vier solcher Formeln haben den Diskurs bis heute geprägt: Am bekanntesten ist eine Stelle aus dem Brundtland-Bericht der UN von 1987: Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, welche die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Das ist im Wortlaut die weltweit am häufigsten zitierte Formulierung der Grundidee. Nennen wir sie Formel eins.

Das Dreieck der Nachhaltigkeit ist eine Denkfigur, die nach dem Erdgipfel von Rio 1992 gebräuchlich wurde: Ökologie, Ökonomie und soziale Gerechtigkeit sind die drei Eckpunkte eines Dreiecks. Sie sind stets im Zusammenhang, also vernetzt zu denken.

Schlicht und anschaulich ist Formel drei: Nicht mehr Holz fällen als nachwächst. So erklären Forstleute seit 300 Jahren ihren, den klassischen Begriff von Nachhaltigkeit. Damit versucht man heute, auch das erweiterte und erneuerte Konzept anschaulich zu machen.

Formel vier: Die Schöpfung bewahren ist ein Rückgriff auf die Schöpfungsgeschichte der Bibel mit ihrem Gebot, die Erde zu bebauen und zu bewahren. Die Schöpfungsmythen anderer Kulturen haben ganz ähnliche Gebote.

Jede dieser Formeln erfasst Wesentliches. Aber wie bei allem Formelhaften besteht die Gefahr der Verkürzung und der Abnutzung. Tausend Mal gehört und gelesen, verlieren sie vollends ihre inspirierende Kraft.

Doch diese vier Leitsätze lassen sich hervorragend als Navigationssystem nutzen, um in die Geschichte des Begriffs und damit in seine Tiefenschichten einzudringen. Unsere Zeitreise führt in die scheinbar heile Welt der mittelalterlichen Klöster und die Zeit der Kathedralen (Formel vier). Von dort geht es in die geometrisch vermessenen Wälder der Aufklärung (Formel drei), dann in die Epoche unserer Kulturgeschichte, als man »zurück zur Natur« wollte und dabei den Zusammenhang von Ökologie und Ökonomie entdeckte (Formel zwei). Sie kehrt zurück in unsere Gegenwart der umfassenden Krise, der Erdpolitik und der großen Transformation (Formel eins).

*

Unsere Reise beginnt in der so turbulenten und kreativen Zeit um 1968. Warum da? Das hat mit den geistigen und spirituellen Defiziten der Gegenwart zu tun. Wir haben keine große Erzählung mehr, keine Visionen, die uns beflügeln und antreiben. Dieses Vakuum ist nicht gut. Um die Klimakatastrophe noch im letzten Moment abzubremsen, sagen uns die Experten, bräuchten wir ein neues »Apollo-Projekt«: eine überwölbende Idee, die in kürzester Zeit große Potenziale aktiviert für etwas, das wir machen, koste es, was es wolle. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts war das die Vision, noch in diesem Jahrzehnt Menschen auf den Mond zu bringen – und zurück. Wir brachen auf, um den Mond zu erkunden, aber tatsächlich entdeckten wir die Erde. Der berühmte Satz des Astronauten Eugene Cernan brachte die unverhoffte, die eigentliche Wirkung des Apollo-Projekts zum Ausdruck. So wie in der harten, grauen Schale der Muschel eine zarte, leuchtende Perle entsteht, entsprang einer wachstumsbesessenen, technikgläubigen, expansionistischen Kultur aus der Umkehrung des Blicks ein neuer, erdverbundener zivilisatorischer Entwurf. Sein Leitmotiv wurde: Nachhaltigkeit. Sein Fundament war die Überzeugung: Die Erde ist der schönste Stern am Firmament. Daran lässt sich anknüpfen.

Arbeit am Begriff geht stets Hand in Hand mit der Lust am Bild. Die Bilder – und Ikonen – aus den kulturrevolutionären Bewegungen der sechziger Jahre sind noch präsent. Im kollektiven Gedächtnis der Menschheit abgespeichert, millionenfach reproduziert im Cyberspace des Internet. Mit ein paar Mausklicks lässt sich eine kleine, faszinierende Galerie abrufen. Earthrise – Erdaufgang ist ein erster Suchbegriff.

Die Entdeckung der Nachhaltigkeit

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