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Die Pyramide der Bedürfnisse

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1970 erschien in den USA eine Neuausgabe von Abraham Maslows psychologischem Standardwerk »Motivation und Persönlichkeit«. Das Buch, schon in den 1950er Jahren in kleinen Kreisen berühmt, traf nun den Zeitgeist. Maslows Theorie der Grundbedürfnisse hat man in Form einer Pyramide abgebildet. Sie besteht aus fünf Ebenen, die von unten nach oben Bedürfnisse in eine durchlässige Hierarchie bringen. Die Basis bilden die unabweisbaren, das Überleben sichernden körperlichen Bedürfnisse: Nahrung, Wasser und Luft, ein Dach über dem Kopf, die Befriedigung der sexuellen Triebe. Sind diese grundlegenden Bedürfnisse angemessen befriedigt, ist das Grundvertrauen gelegt, sie stets angemessen befriedigen zu können, treten sie im Bewusstsein des Individuums zurück. In den Vordergrund rückt ein neues Bedürfnisensemble: das Streben nach Sicherheit und Geborgenheit, körperlicher Unversehrtheit, Stabilität und Angstfreiheit. Dann folgt die Ebene, auf der die soziale Akzeptanz des Individuums durch seine Umwelt höchste Bedeutung erlangt. Hier geht es um ein Netz liebevoller zwischen menschlicher Beziehungen, um Zuneigung, Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und um deren Zusammenhalt. Im Anschluss daran wird der Wunsch nach Herausbildung eines stabilen Selbstwertgefühls mächtig. Respekt und Wertschätzung durch andere rücken in den Vordergrund. Wobei der Respekt, den man sich tatsächlich verdient hat, das Gefühl der Selbstachtung am sichersten stabilisiert. Das Bedürfnis nach Schönheit und das Interesse an Wissen und Erkenntnis kommen ins Spiel.

An der Spitze der Pyramide steht das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung (self-actualization). Es wird zu einer wesentlichen Trieb kraft von Fühlen, Denken und Handeln und kann sogar alle anderen Bedürfnisse zurücktreten lassen. Es bezieht sich auf das zutiefst humane Streben nach einem erfüllten Leben. Mit Nietzsches Lebenskunst-Motto »Werde, der du bist« umreißt Maslow die Bedeutung des neuen Begriffs. Ein Musiker müsse Musik machen, ein Künstler malen, ein Dichter schreiben, um im Einklang mit sich selbst zu leben. Selbstverwirklicher seien Menschen, die sich und ihre Umwelt mit allen Schwächen und Stärken präzise wahrnähmen und grundlegend akzeptierten. Sie verfügten über innere Autonomie und ein stabiles Gemeinschaftsgefühl, über eine große Offenheit und die Fähigkeit, die Fülle des Lebens wahrzunehmen und zu genießen. Sie seien von überzogenen Scham- und Schuldgefühlen unbelastet und vom Urteil anderer unabhängig. Sie seien jedoch fähig, tiefe Bindungen zu anderen Menschen und zur Natur einzugehen. Der Widerspruch zwischen Selbstbezogenheit und Selbstlosigkeit verschwinde. Selbstverwirklicher widmeten ihr Leben der vollständigen Entwicklung und Ausschöpfung ihrer Anlagen, Möglichkeiten und Potenziale. Fremden und unbekannten Erscheinungen würden sie nicht mit dem Gefühl der Furcht und der Abwehr, sondern mit Neugier, Staunen und Ehrfurcht begegnen. Sie seien problemzentriert und an Lösungen interessiert. Das Geheimnisvolle, das Neue, das Fremde würde sie anlocken und begeistern. Sie folgten der inneren Stimme und einer Berufung, die in der Regel von außen, aus der Gesellschaft komme. Das Streben nach Exzellenz, nach Gipfelerfahrungen und dem Erlebnis der Einheit mit Natur und Kosmos seien wesentliche Elemente von Selbstverwirklichung.

Das Konzept war nicht neu. Maslow hatte es bei dem 1933 in die USA emigrierten deutschen Neurologen und Psychiater Kurt Goldstein gefunden. Der Grundgedanke aber war schon im Bildungsideal der deutschen Klassik angelegt. Wilhelm von Humboldt hatte ihn ausformuliert: Die Entwicklung aller Keime …, die in der individuellen Anlage eines Menschenlebens liegen, halte ich für den wahren Zweck des menschlichen Daseins.

In bewusster Abkehr von den klassischen Schulen der Psychotherapie richtete Maslow den Fokus auf die Faktoren, die seelische Gesundheit und ein gelungenes Leben ausmachen. Unter diesem Aspekt suchte er Versuchspersonen aus. Er ging in die Indianerreservate und interviewte Menschen, die noch nach dem traditionellen Wertekanon ihres Stammes lebten. Er untersuchte die Biografien starker Persönlichkeiten, unter anderem die von Albert Schweitzer, Spinoza und Goethe.

Alle fünf Ebenen seiner Pyramide erfassen Bedürfnisse, die jeder Mensch verspürt. Eine aufsteigende Linie führt zu den »Metabedürfnissen«. Die Stufe der Selbstverwirklichung sei zwar nicht allen möglich, für die Gestaltung einer »good society« sei jedoch entscheidend, dass jeder die gleiche Chance bekäme, einen Zugang zur jeweils höheren Stufe zu bekommen. Hier liegt das dynamische Prinzip in Maslows Hierarchie der Bedürfnisse. Im menschlichen Organismus und im menschlichen Geist existiere eine Tendenz zum inneren Wachstum, zur Verwirklichung aller seiner Fähigkeiten, zu Gipfelerfahrungen. Erst diese Art Wachstum »über sich hinaus« ermögliche Reichtum des inneren Lebens und tieferes Glück. Das gute Leben hängt nun nicht mehr von der Befriedigung der biologischen Grundbedürfnisse durch ein immer größeres Quantum an Waren ab. Entscheidend werden die sinnstiftenden immateriellen Güter, Aktivitäten und Ziele. Armutsbekämpfung ist nicht mehr nur die Beseitigung des Mangels an Gütern und Dienstleistungen. Es geht jetzt auch darum, die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen und Identitäten zu erhalten und allen Menschen vielfältige Möglichkeiten zu eröffnen, ein erfülltes Leben zu führen.

Maslows Theorie der Bedürfnisse verband sich in den frühen siebziger Jahren mit dem aufkeimenden Umweltbewusstsein. Aus dieser Kombination ging ein neues politisches und kulturelles Konzept hervor, das seitdem zum festen Bestandteil des Nachhaltigkeitsdenkens gehört: Quality of life – Lebensqualität.

Der Brundtland-Bericht griff das neue Denken auf. Wenn die Bedürfnisse der jetzigen Generation gegen die der zukünftigen Generationen abgewogen werden, sind dort stets die basic needs im Sinne Maslows gemeint, nicht etwa der »Bedarf« einer Überflussgesellschaft. Nachhaltige Entwicklung erfordert es, die Grundbedürfnisse aller zu befriedigen und die Möglichkeit, sich den Traum von einem besseren Leben zu erfüllen, auf alle auszuweiten.

Die Entdeckung der Nachhaltigkeit

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