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Mord an Mutter Erde
ОглавлениеMit blassem Gesicht erschien sie im Zeugenstand. Sie trug ein grünes Gewand. Aus ihren Augen strömten Tränen. Ihr Haupt wies Verletzungen auf, das Kleid hing zerrissen herab, und man konnte sehen, wie ihr Leib vielfach durchbohrt war … voller Wunden und blutbespritzt … Keine Spur mehr von Anmut und Schönheit.
Wieder ist die Rede von mater terra. Diesmal geht es jedoch um Vergewaltigung und Mord, diesmal ist sie Opfer. Eine kleine Erzählung, im Latein der Humanisten geschrieben, versetzt den Leser in die Zeit der Renaissance – und in eine Boomzeit des europäischen Frühkapitalismus. Anno 1477, ein halbes Jahrhundert bevor der Konquistador Pizarro an der Küste Perus landete und sich mit 180 Mann auf die Suche nach dem Goldland der Inka machte, stampfte man im silberreichen sächsisch-böhmischen Erzgebirge ein mitteleuropäisches »Eldorado« aus dem Boden. Angeekelt von dem Silberrausch um ihn herum, verfasste ein Pädagoge namens Paulus Niavis (Paul Schneevogel) im nahen Chemnitz eine allegorische Erzählung. Sie berichtet von einer Gerichtsverhandlung. Die Anklage lautet auf Vergewaltigung der Erde. Das 1492 erschienene Büchlein trug den Titel »Iudicium Iovis – das Gericht Jupiters, gehalten im Tal der Schönheit …«
Im Dresdner Museum für Mineralogie und Geologie sind noch Wahrzeichen aus der Zeit, von der Paulus Niavis erzählt, zu sehen: zwei zerklüftete Brocken, die matt silbern glänzend in der Vitrine liegen. Der eine ist faustgroß. 600 Gramm gediegenes Silber. Der andere wiegt an die sieben Kilo und besteht hauptsächlich aus Silberglanz. Die beiden Erzstufen stammen aus der Zeit des großen »Berggeschreys«, des spektakulären Silberfunds des Jahres 1477 im westlichen Erzgebirge. Der Überlieferung nach sind sie Bruchstücke von dem sagenhaften Tisch aus massivem Silber, an dem Herzog Albrecht mit seiner Gefolgschaft »in der erden schoß«, in einem Stollen der Schneeberger Fundgrube St. Georg gespeist haben soll. Vielleicht sind es aber auch nur Geschenke der erzgebirgischen Montanunternehmer an den Landesherrn bei dessen Rückkehr von einer Pilgerfahrt ins Heilige Land. Der plötzliche Reichtum hatte seine Schattenseiten. Der Silberrausch lockte Tausende von Bergknappen »auf den Schneeberg«. Fieberhaft treiben sie Schächte und Stollen in die Flanken der Berge, roden Wälder, leiten Bachläufe um und vergiften sie mit den blei- und arsenhaltigen Abwässern der Bergwerke. Rauchschwaden aus zahllosen Holzkohlenmeilern und Schmelzhütten verpesten die Luft. Der kurze Silberrausch hinterlässt tiefe Narben im Antlitz der Landschaft.
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Im Frühsommer 2009 machte ich eine Wanderung zu den Erinnerungsorten. Von der Anhöhe im Süden der Stadt hat man einen wunderbaren Panoramablick auf Schneeberg: Die barocke Stadtanlage liegt auf einer Erhebung in einer weiten Talsenke der nördlichen Erzgebirgsausläufer. Dort wo der Turm der spätgotischen Hallenkirche aufragt, wurden 1477 die ersten Stollen und Schächte in den Berg getrieben. Heute ist man stolz auf diese Geschichte. Ein Bergbaulehrpfad verbindet die Relikte: kunstvoll gemauerte Schächte, liebevoll renovierte Huthäuser, ein Pochwerk für die Erzaufbereitung, ein Teich, der das Aufschlagwasser für die Gruben staute.
Meine Route führte in den nächsten Tagen an der Mulde entlang zum Erzgebirgskamm, dann von Johanngeorgenstadt weiter auf tschechischer Seite über das Hochplateau nach Jáchymov, dem alten St. Joachimsthal. Drei Wandertage in einer großartigen Mittelgebirgslandschaft: stiller Hochwald, Aussichtsberge, Forellenbäche, Moore, bizarre Felsen. Am nackten Gestein der Berghänge tritt hier und da die Kontaktzone zwischen dem Granit und dem anstehenden Grauwacke-Gestein zutage. Dort bildeten sich im Schoß der Erde die Gänge von Silber und anderen Metallen. Im Gelände stößt man immer wieder auf Spuren des alten Bergbaus: das lautlos fließende Wasser eines Floßgrabens, ein zugemauertes Stollenmundloch, trichterförmige Vertiefungen im Waldboden oder kegelförmige Erhebungen im Gelände – Relikte von eingestürzten Grubenbauen, Abraumhalden und alten Schachtanlagen. Manches davon geht auf jene Boomjahre um 1500 zurück. Alles ist überwachsen, von üppiger Vegetation bedeckt.
Kurz vor Jáchymov überquert mein Weg die 1000 Meter hohe Basaltkuppe des Plešivec (Plessberg). Von dort oben schweift der Blick den ganzen Kamm des Gebirges entlang bis zur Doppelspitze von Fichtelberg und Keilberg, hinab in die engen Waldtäler von Jáchymov und Hroznětín (Lichtenstadt) und nach Süden in die Ebene des Eger-Grabens. Irgendwo hier am Fuß des Plessbergs hat Paulus Niavis 1492 »das Tal der Schönheit« verortet, den Schauplatz des Gerichtsverfahrens, von dem er erzählt.
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Die Handlung: Ein Eremit aus Lichtenstadt gerät in der Nähe seiner Klause in eine Gerichtsverhandlung der antiken Götter. Unter Vorsitz von Jupiter halten sie ein Tribunal über »homo montanus«, den Bergmann. Die Anklage: Schändung der Mutter Erde durch Eindringen in ihre Eingeweide, die Gebärmutter – die Matrix. Die Erde, so ihre Anwälte Merkur und Minerva, trägt Jahr für Jahr Früchte, mit denen sie alle Lebewesen ernährt und erhält (alit atque sustentat) … »Aber mit dieser Güte nicht einverstanden, dringt der Mensch in die Eingeweide seiner Mutter ein, durchwühlt ihren Leib, verletzt und beschädigt alle inneren Teile. So zerfleischt er schließlich den ganzen Körper und lähmt dessen Kräfte völlig.« Kann sich die Erde, fragt der Ankläger, angesichts dieser »Raserei der Menschen« auf Dauer behaupten und ihren Platz stets weiter einnehmen? Direkt an den Angeklagten gewandt, ruft Merkur: Du Mörder! Schau sie dir an! Die, die dich nicht nur nährt und am Leben erhält (nutrit et in vita conservat), sondern dich auch nach deinem Tod in ihren Schoß aufnimmt, aus dem du gekommen bist … In dir ist keine Spur von Liebe zu der, die dich gebar?
»Homo montanus«, der Beschuldigte, zeigt keinerlei Unrechtsbewusstsein. Er argumentiert kühl ökonomisch. Die Güter seien ungleich unter den Regionen der Welt verteilt. Um sie auszutauschen, bräuchte man Geld, also Silber. Dieses Metall, das die Götter den Menschen gegeben hätten, habe die Erde in ihrem Schoß aufgespeichert und damit dem Menschen willkürlich entzogen. Sein gewaltsames Eindringen sei also gerechtfertigt. Nicht alles, was über die »tägliche Notdurft« hinausgehe, sei verwerflicher Luxus. Mit dem Silber könne man auch den Armen helfen und die Ordnung erhalten. Ohne bergmännische Arbeit könne es »keinen Staat und geselliges Zusammenleben« geben. Der Verkehr unter den Menschen würde aufhören. »Wie Tiere würden wir wieder in den Wäldern hausen«. Den Zustand seines Opfers nimmt Montanus nicht wahr. Den Vorwurf, die eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören, übergeht er.
In der Erzählung aus dem Erzgebirge erscheint – wie im »Sonnengesang« zwei Jahrhunderte zuvor – die Natur als lebensspendende Mutter Erde. Doch sie muss nun gegen den Eingriff des Menschen verteidigt werden. Denn mit seiner – modern ausgedrückt – »Schockstrategie« vernichtet er seine eigenen Lebensgrundlagen. Auch in diesem Text aus der frühen Neuzeit taucht eingekapselt in Schlüsselwörter der Providentia-Lehre das Vokabular der Nachhaltigkeit auf: sustentare und conservare. Geschickt übernimmt der Angeklagte diese Rhetorik in seine eigene Verteidigung: Den Anspruch, diesen Erdball zu bebauen und zu bewahren (colere tuerique) und damit das göttliche Gebot zu erfüllen, reklamiert er kurzerhand für sich selbst.
Damit kommt er durch. Es sei die »Bestimmung der Menschen«, so die Urteilsbegründung der Götter, »dass sie die Berge durchwühlen.« Aber das Urteil enthält eine ernste Warnung: mater terra werde früher oder später zur Selbsthilfe greifen. Die Leiber der Eindringlinge würden verschlungen, durch böse Wetter erstickt, durch vielerlei Gefahren bedroht. Mit dieser düsteren Vorausschau endet die Erzählung von 1492, dem Jahr, als Kolumbus in der Neuen Welt landet. Die Vergewaltigung von mater terra erreicht eine neue Stufe.
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Eine verblüffende Entdeckung: Die präkolumbianische Kultur der Anden hat ein Gegenstück zu der kleinen Geschichte aus dem Erzgebirge. Eduardo Galeano, der Chronist Südamerikas, dokumentiert sie in seinem Epos »Erinnerung an das Feuer«. Die Episode spielt am »Cerro Rico«, dem »reichen Berg« von Potosí im heutigen Bolivien: »Als vor der Eroberung, zu Zeiten des Inka Huaina Capac, einmal ein Pickel in die Silberadern des Berges drang, erscholl gräßliches Getöse und erschütterte die Welt. Damals sprach der Berg zu den Indianern: Dieser Reichtum soll anderen gehören.« Die unerhört reichen Silbervorkommen dieses Berges wurden von den Inkas nie angetastet. Das Bild von mater terra hatte eine Entsprechung in ihrer Kultur: Pachamama ist die Erdgöttin, die gemeinsam mit Tuta Inti, dem Sonnengott, die Welt regiert, allen Kreaturen das Leben schenkt und sie nährt. Erst die Konquistadoren begannen mit der Ausbeutung der Minen von Potosí. Europa wurde von den Silberbarren überschwemmt. Der erzgebirgische Bergbau geriet in eine lang andauernde Krise. Die Abhänge des »Cerro Rico« aber, schreibt Galeano, färbten sich binnen kurzer Zeit rot von Menschenblut. Die Zahl der Opfer gnadenloser Ausbeutung ging in die Millionen.
Im Herbst 2009 hatte der bolivianische Präsident Evo Morales einen Auftritt vor der UN-Vollversammlung in New York. Er sprach über Pachamama – Mutter Erde. »Für die indigene Bewegung, sagte er, ist die Harmonie mit Mutter Erde etwas Heiliges. Mutter Erde schenkt uns das Leben … Wenn wir über das Wohlergehen unseres Volkes reden, dafür arbeiten und kämpfen, dann müssen wir zuerst das Wohlergehen von Mutter Erde garantieren.« Rückkehr zu den eigenen kulturellen Wurzeln? Oder das Manöver eines Populisten? Wenn es um die Exploration der Erdölvorkommen geht, agiert das staatliche Konsortium »Petro Andina« auf indianischem Territorium so rücksichtslos wie seine Vorgänger.
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Auch unsere Erzählung aus dem Erzgebirge fand eine Fortsetzung, die in die Gegenwart hineinreicht. Die Landschaft ist mit kaum vernarbten Wunden übersät. Die Wanderung über den Gebirgskamm führt vorbei an eingezäunten, mit schütterem Baumgrün bewachsenen, spitzkegeligen Halden und Hügeln aus rötlichem Abraumgeröll. Im Besucherbergwerk von Johanngeorgenstadt holt der Museumsführer einen schwärzlich glänzenden Stein aus der Vitrine und bringt einen Geigerzähler zum Ticken: Uranerz. Bis zum Zusammenbruch des Ostblocks gehörte die Region am Erzgebirgskamm zu den größten Uranproduzenten der Erde.
Die Geschichte dieses unheimlichen Elements ist von Anfang an mit dem Erzgebirge verknüpft: An den Erzstufen aus dem »Berggeschrey« von 1477 fand man mit modernen Untersuchungsmethoden Spuren von Uran. Aus Proben von Pechblende, die er aus Johanngeorgenstadt und St. Joachimsthal bezogen hatte, isolierte der Berliner Chemiker Martin Klaproth 1792 ein bis dahin unbekanntes Element und nannte es: Uran. Gut 100 Jahre später wies die polnische Forscherin Marie Curie an Material aus Jáchymov eine Strahlung nach, die sie als Radioaktivität bezeichnete. Mit Uran aus Johanngeorgenstadt wurde 1949 die erste sowjetische Atombombe gezündet. In den ersten Jahren des Kalten Krieges errichtete der sowjetische Geheimdienst in den Tälern und auf den Höhen des Erzgebirges eine hermetisch abgeriegelte Sperrzone zur Ausbeutung der Uranvorkommen. Der »nukleare Winter« – Horrorvision der frühen 1980er Jahre – wäre nicht zuletzt mit radioaktivem Material aus dem Erzgebirge in Gang gesetzt worden. Zum Glück ist es nicht so weit gekommen. Sonst hätte sich das düstere Menetekel von Minerva und Merkur, den Anwälten von mater terra, in letzter Instanz erfüllt.
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Ironie der Geschichte: Der aus dem erzgebirgischen Feinsilber der ersten Boomzeit geprägte »Joachimsthaler Guldengroschen« gab dem mitteleuropäischen »Taler« seinen Namen. Nach diesem Geldstück wiederum wurde 1776 der US-Dollar, die spätere Leitwährung der Globalisierung, benannt. In dem wuchtigen Renaissance-Bau der Münze von Jáchymov ist heute ein Museum untergebracht. Am Eingang steht eine Stanze. Mit einem kräftigen Hammerschlag kann sich der Besucher selbst einen Joachims-Thaler prägen. Der ist allerdings aus Blech.