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VIER URTEXTE Sonnengesang

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Laudato si, mi signore, cun tucte le tue creature, / spetialmente messor lo frate sole, / lo qual’è iorno, et allumini noi per loi … Gelobet seist Du, mein Herr, mit allen Deinen Geschöpfen, vor allem dem Herrn Bruder Sonne, der den Tag heraufführt und uns durch sich erhellt.

Der fromme Lobpreis versetzt uns in die Welt der mittelalterlichen Klöster und in die Zeit der Kathedralen. Genauer gesagt, in die Parallelwelt der Einsiedeleien auf durchsonnten Berghöhen, der endlosen staubigen Landstraßen Mittelitaliens, der Dorfarmut und ihrer barfüßigen Propheten. Canticum Solis, der Sonnengesang des Franziskus von Assisi, die mittelalterliche Ode an die Schöpfung, ist wie kein anderer Text aus dieser Epoche in unserem kulturellen Gedächtnis präsent. Sein »ökologischer« Gehalt ist schon häufig bemerkt worden. Der Sonnengesang enthält aber auch das begriffliche Grundgerüst der Nachhaltigkeit. Um in dem alten Erbe den modernen Diskurs wiederzuerkennen, muss man freilich zu den Quellen gehen.

Assisi liegt auf einem Hügel. Nähert man sich zu Fuß, baut sich die Stadt dramatisch vor einem auf: die wuchtige Klosteranlage auf dem westlichen Bergsporn, die rosig schimmernden Häuserfronten der Altstadt, die Ruine der Stauferburg auf der Hügelkrone, das steil ansteigende, bewaldete Massiv des Monte Subasio im Osten. Die Stadt in Umbrien, dem grünen Herzen Italiens, ist ein spirituelles Zentrum des alten Europa.

Dem »genius loci« ist man an zwei Plätzen außerhalb der Stadtmauern besonders nahe. Durch die Porta dei Cappucini, das höchstgelegene Stadttor, gelangt man auf ein zypressengesäumtes Sträßchen, dann auf einen Waldpfad, der den Rücken des Monte Subasio emporsteigt. Zwischen zwei felsigen Hängen liegt dort oben die Einsiedelei Santuario delle Carceri. Sie diente Franziskus als Rückzugsort. Ein Steinbett mit hölzerner Kopfstütze, auf dem er geschlafen haben soll, ist in dem Raum erhalten. In dem Steineichenwald oberhalb stößt man auf Grotten, in denen er gefastet und meditiert hat. Die alte Eiche an der steinernen Brücke nahebei ist der Baum, wo er der Legende nach den Vögeln gepredigt hat.

Der andere magische Ort: die schlichte, von Olivenhainen und Zypressen umgebene Klosteranlage von San Damiano am südlichen Abhang des Hügels, auf dem Assisi thront. Das damals baufällige Gebäude diente dem jungen Franziskus und seiner noch kleinen Schar als erste Unterkunft. Mit eigenen Händen hat er es instand gesetzt und dann seiner Anhängerin und Gefährtin Klara überlassen. Im Gärtchen ihres Klosters baute ihm Klara »aus Gesträuch und Rosenzweigen« ein Zelt, als er im Herbst 1225, schon auf die fünfzig zugehend, am Ende seiner Kräfte, von Augenschmerzen gepeinigt, zur Ruhe kommen wollte. Ein Jahr vor seinem Tod erlebt Franziskus in San Damiano einen »strahlenden Sonnenaufgang in der Seele«, wie der französische Franziskaner Eloi Leclerc schreibt. Im Zustand der Entrückung dichtet Franziskus seine Laudes creaturarum, den Sonnengesang. Codex 338 der Stadtbibliothek von Assisi, datiert mit 1279, ist die älteste erhaltene Handschrift. Ihre Sprache ist das »Volgare«, die frühitalienische Volkssprache, die sich schon deutlich vom lateinischen Ursprung entfernt hat.

Die Dichtung aus 50 Zeilen nimmt ihren Ausgang vom Allerhöchsten: Gelobet seist Du, mein Herr, mit allen Deinen Geschöpfen – cun tucte le tue creature. Aufschlussreich ist die Vokabel »tucte«. Der Aufstieg der Seele führt nicht über die Abwertung der materiellen Welt. Im Gegenteil. Die Seele öffnet sich zu allen Geschöpfen, zur ganzen Schöpfung. Von Anfang an bringen die Laudes creaturarum Fülle, Ganzheit, Einheit und immer wieder die Schönheit von scheinbar unbelebter Materie und lebendiger Natur ins Spiel. Tucte le tue creature – in der Sprache der Ökologie und Erdsystem-Forschung von heute: das Netz des Lebens.

Die Blickachse des Textes verläuft vertikal. Die Anordnung seiner Bilder führt von ganz oben nach ganz unten. Vom Allerhöchsten über die Sonne, den Mond und die Sterne durchquert sie die Lufthülle der Erde, die Atmosphäre, und erreicht die Biosphäre, die Gewässer und den Erdboden. 750 Jahre vor dem Foto von blue marble imaginiert dieser kosmische Lobgesang den Blick von oben auf den Planeten.

Doch Franziskus spricht nicht einfach von Sonne, Mond, Wind, Wasser, Feuer … Die Rede ist stets von frate sole, sora luna, frate vento, sora aqua, frate focu. Alles ist Bruder oder Schwester. Mensch und Naturphänomene haben gleichen Ursprung und gleichen Rang. Sie sind Geschöpfe eines gemeinsamen Vaters. Hier geschieht etwas Bedeutendes: Die franziskanische Perspektive hebt die Trennung zwischen Mensch und übriger Schöpfung auf. Sie vollzieht einen radikalen Bruch mit machtvollen Traditionen des antiken und christlichen Denkens – und fordert mindestens ebenso radikal die westliche Moderne heraus. Sich die Natur untertan zu machen, das war – und ist – im Mainstream der Tradition legitim, ja sogar ein Gebot. Für uns ist es Normalität. Der neue Mensch einer franziskanischen solaren Zivilisation dagegen akzeptiert und feiert seine eigene Naturzugehörigkeit. In dieser Versöhnung liegt die spirituelle Basis für die »Kommunion«, für eine universale geschwisterliche Gemeinschaft von Menschen und Mitwelt.

Herausgehoben ist die Sonne. Sie ist nicht nur frate. Als unendliche Quelle des Tageslichts, der Energie, des Lebens ist sie gleichzeitig messor – Herr oder (legt man das grammatikalische Geschlecht des deutschen Wortes zugrunde) Herrin. Die Sonne zieht besondere Attribute auf sich: schön, strahlend, glanzvoll. Sie ist Quelle von Freude und ästhetischem Genuss. Ja, sie ist sogar wie in so vielen Kulturen der Welt Dein Gleichnis, o Höchster, Symbol der Gottheit. Sonne und Mond sind komplementär. Wie Tag und Nacht, hell und dunkel, Klarheit und Geheimnis. Sora luna e le stelle, Mond und Sterne, gehören noch zum himmlischen Bereich. In der Schwärze des Kosmos wirkt das Funkeln der Gestirne kostbar und schön (pretiose et belle), erscheint der Mond, sein Zyklus, seine sanfte Energie als besonders geheimnisvoll und anziehend.

Mit der anschließenden Strophe tritt die Bildfolge des Textes in die Sphäre der vier irdischen Elemente Luft, Wasser, Feuer, Erde ein. Gelobet seist Du, mein Herr, durch Bruder Wind. Ihm zugeordnet sind die Luft, die Wolken, heiteres und jedes Wetter. Die Rede ist also von der Lufthülle der Erde in ihren verschiedenen Erscheinungsformen – also vom Klima. Genau an dieser Stelle taucht im Sonnengesang zum ersten Mal das Ursprungswort von sustainability auf: sustentamento. Franziskus lobt Gott für die Phänomene der Atmosphäre, durch welche Du Deinen Geschöpfensustentamentogibst« (per lo quale a le tue creature dai sustentamento), also Halt, Unterhalt, Nachhalt. Wobei sustentamento (im modernen Italienisch: sostentamento) all das bezeichnet, was zur Erhaltung und zum Fortbestehen von Lebewesen und Dingen notwendig ist: Lebensunterhalt, Existenzgrundlagen. Ihre dauerhafte Sicherung ist eine Gabe Gottes. Er gewährt sie nicht allein durch Bruder Wind. Genauso haben Schwester Wasser (charakterisiert als sehr nützlich, demütig und kostbar) und Bruder Feuer (schön, angenehm, robust und stark) ihren Anteil.

Der Sonnengesang wird nun zum Gesang der Erde. Gelobet seist Du, mein Herr, durch unsere Schwester Mutter Erde. Wie die Sonne ist auch die Erde – und damit ist hier vor allem das Erdreich, der Humus, der Mutterboden gemeint – doppelt hervorgehoben. Sora nostra mater terra. Sie ist nicht allein our fair sister wie in dem Doors-Song von 1967. Aber auch nicht nur magna mater, die große Mutter, wie in archaischen Kulten, oder Gaia, Erdgöttin. Die mütterliche Erde bekomme bei Franziskus zusätzlich das »Gesicht einer Schwester«, schreibt Eloi Leclerc, und damit eine neue – ewige – Jugendlichkeit. »Das Gefühl von Abhängigkeit und Verehrung, das der Mutter zukommt, wird hier durch das Gefühl geschwisterlicher Zuneigung nuanciert.« Die Erde ist eben auch Schwester und somit Tochter desselben Vaters, selbst ein Geschöpf.

In ihrer Eigenschaft als Mutter hat sie freilich eine besondere Macht. Mater terra, la quale ne sustenta et governa et produce diversi fructi con coloriti flori et herba. Sie ist die Erde, die uns trägt (sustenta = erhält, aufrechterhält) und regiert (governa = lenkt, leitet) und vielfältige Früchte mit bunten Blumen und Kräutern erzeugt. Ein zweites Mal greift Franziskus auf eine Form von sustentare zurück. Was gibt uns Halt und Nachhalt? Es ist der von Gott geschaffene Erdboden im Zusammenspiel mit der Lufthülle des Planeten. Wir nennen das heute: Biosphäre. Sie bringt unfehlbar Früchte, Fruchtbarkeit, Biodiversität und – damit verknüpft – Farbe und Schönheit hervor. Solange wir uns von ihr leiten (governa) lassen. Die Bilder von Fülle und Vielfalt verbinden sich untrennbar mit der Begrifflichkeit von sustentamento.

Von diesem Punkt aus verstehen wir erst den Kern des franziskanischen Weltbildes: sein Armutsideal. Die Freude an der Fülle des Lebendigen ringsum ist Antrieb, den »Verbrauch« von »Ressourcen« auf ein Minimum zu reduzieren. Besitz ist Ballast. Verzicht ist Befreiung. Nehmt nichts mit auf den Weg, heißt das Gebot im Neuen Testament (Lukas 9, 3). Imagine no possessions, sang John Lennon. Wer die Besitzlosigkeit zum Konzept macht, muss wissen, was ihn ohne die Sicherheit des Besitzes trägt. Was auf Dauer tragfähig bleibt, sagt uns der alte Text, ist eine geschwisterlich behandelte Natur. Im Vertrauen auf diesen sicheren Halt sind neue Bilder des guten Lebens zu entwerfen. Der franziskanische Minimalismus ist ein Weg, die Integrität der Mitgeschöpfe – aller Geschöpfe –, ihre Schönheit, ihre Robustheit, ihre bunte Vielfalt, zu erhalten und so auf Dauer erleben und behutsam genießen zu können. Der freiwillige Verzicht, nicht der erzwungene, öffnet einen Zugang zur glanzvollen Fülle des Lebens. Die franziskanische Pyramide der Bedürfnisse: einfach leben, egalitär, im Einklang mit der Schöpfung, offen für die Stimme des Allerhöchsten. Das Credo freilich ist: Nachhaltigkeit wird nicht vom Menschen gemacht, sondern ihm gewährt. Sie ist Gabe und Gnade Gottes. Das Fundament franziskanischer Theologie ist die Lehre von der göttlichen Vorsehung.

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Das letzte Wort des Sonnengesangs lautet: humilitate – Demut. Nackt ausgestreckt auf nackter Erde sterben war Franziskus’ letzter Wille. So ist er der Legende nach Bruder Tod begegnet. Seinen Sterbeort, die schlichte Capella del Transito im Waldtal unterhalb von Assisi, hat man im 17. Jahrhundert mit einer monumentalen Barockbasilika überwölbt.

Zur selben Zeit suchte nördlich der Alpen der französische Aufklärer Descartes nach einer Philosophie, die »für das Leben nützlich« ist. Wie Franziskus beschäftigte er sich mit den Elementen. Er wollte »die Kraft und Wirkung des Feuers, des Wassers, der Luft, der Gestirne, der Himmel und aller übrigen Körper in unserer Umwelt« erforschen, um sie »zu allem möglichen Gebrauch zu verwerten«. Seine Idee: Die Menschen »zu Herrn und Eigentümern der Natur zu machen.«. Ein härterer Kontrast zum franziskanischen Ideal ist kaum denkbar.

Die Entdeckung der Nachhaltigkeit

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