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In der Klosterapotheke in Mardorf herrschte Hochbetrieb. Neben zwei Helferinnen stand auch der groß gewachsene Apotheker im Stress. Erst in der letzten Woche hatte Justin in einem Bericht gelesen, dass Allergien auf dem Vormarsch waren. Schaute man in die Gesichter der Kunden mit ihren verschwollenen und geröteten Augen, sah man deutlich, dass die Reportage nicht aus der Luft gegriffen gewesen war. Justin Belfort stellte sich in eine Ecke und wartete geduldig, bis sich der Verkaufsraum leerte.

Er musste lange warten, denn für jeden Kunden, der ging, betrat ein weiterer die Apotheke. Beinahe eine Stunde verging. Mehrmals wurde Justin von einer Angestellten nach seinen Wünschen gefragt, doch wenn er auf den Apotheker zeigte und sagte, dass er mit Herrn Thiele sprechen wolle, wurde er vertröstet. Er hatte Geduld, schließlich blieb ihm nichts weiter übrig, denn zu Hause würde ihn der Apotheker bestimmt nicht empfangen. Doch hier konnte er Justin nicht ausweichen.

Als nur noch zwei Kunden im Verkaufsraum waren, wagte er einen Vorstoß. Der Apotheker stand hinter der Ladentheke und füllte ein Formular aus, als er an ihn herantrat.

»Guten Tag, Herr Thiele, hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich?«, fragte Justin freundlich.

Ebenso freundlich blickte der Apotheker auf. »Sicherlich, womit kann ich Ihnen helfen?«

Justin Belfort zückte seinen Presseausweis. »Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten. Nur ein paar Fragen, ich fasse mich kurz. Ich finde das nämlich eine ganz schwache Leistung der Polizei und ich denke, Ihnen sollte Gelegenheit gegeben werden, so manches geradezurücken.«

Die Gesichtszüge des Apothekers waren plötzlich wie versteinert, das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden. Er beugte sich vor. »Verschwinden Sie!«, zischte er leise. »Verschwinden Sie, bevor ich die Polizei rufe.«

Justin hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin nicht von einem Klatschblatt, ich komme vom Direkt-Magazin aus Hannover und ich mache eine Reportage über ungelöste Kriminalfälle und Justizirrtümer. Deswegen bin ich hier. Sie haben doch sicherlich gehört, dass es eine überraschende Wendung im vermeintlichen Mordfall von Tennweide gegeben hat. Eines der Mädchen ist wieder ausgetaucht, lebend. Es ist mir ein Anliegen, den Fall der beiden Radfahrerinnen in meiner Reportage aufzubereiten, denn ich finde, es wurde viel zu wenig getan, um das Verbrechen aufzuklären. Schauen Sie sich unser Rechtssystem doch einmal an, es fehlt an allem, es gibt zu wenig Polizisten und auch die Kriminaltechnik hinkt der Entwicklung weit hinterher. Über die Justiz und ihre teilweise weltfremden Entscheidungen möchte ich gar nicht reden.«

Thiele runzelte die Stirn und seine abweisende Haltung lockerte sich ein wenig.

»Nur eine halbe Stunde Ihrer Zeit«, bat Justin. »Mehr nicht. Hören Sie mich bitte an, und wenn Sie dann immer noch der Meinung sind, dass Sie nicht über die Sache reden wollen, dann verschwinde ich und Sie sind mich los. Falls aber doch, dann könnten Sie den anderen Reportern, die angesichts der Wendung in diesem Kriminalfall sicherlich noch auftauchen werden, einfach sagen, dass Sie exklusiv mit dem Direkt-Magazin zusammenarbeiten. Wie wäre das?«

»Das mit dem Mädchen stimmt wirklich?«, fragte Thiele.

»Ja, es steht mittlerweile fest«, antwortete Justin. »Es gab einen DNA-Vergleich. Glauben Sie mir, ich spiele mit offenen Karten. Das Direkt-Magazin ist ein seriöses Blatt. Wir haben es nicht nötig, die Leute hinters Licht zu führen.«

Thiele überlegte, schließlich nickte er. »Gut, zwanzig Minuten. Kommen Sie mit nach hinten.«

Lächelnd folgte Justin Belfort dem Apotheker.

*

Kabel und Messsonden führten von dem reglosen Körper zu den Apparaten neben dem Bett auf der Intensivmedizinischen Station der Flensburger Diako-Kliniken. Der behandelnde Arzt betrachtete die Krankenakte. Die junge Frau lag im Koma. Bei ihrem vermeintlichen Unfall hatte sie mehrere Knochenbrüche und innere Verletzungen davongetragen, besonders gravierend waren die Kopfverletzungen. Eine Schädigung des Gehirns konnte man nicht ausschließen. Es blieb nicht viel mehr, als abzuwarten, ob der ausgemergelte Körper den Kampf ums Überleben gewinnen oder verlieren würde.

Hauptkommissar Freddy Seelmann vom Flensburger K 1 stand vor dem Bett und musterte den Arzt fragend.

»Ich kann wirklich nicht sagen, wie lange es noch dauern wird, bis Sie mit ihr reden können«, sagte der Mediziner. »Wenn Sie überhaupt noch einmal zu Bewusstsein kommt. Medizinisch gesehen ist sie derzeit stabil, aber für eine Prognose ist es noch viel zu früh.«

»Sie könnte in der Vergangenheit vergewaltigt worden sein, steht im Bericht des Rechtsmediziners«, zitierte Freddy Seelmann aus seinem Notizbuch.

»Das kann gut sein. Sie hat Verletzungen im Vaginalbereich, die darauf schließen lassen. Aber die sind durchweg älter. Außerdem gibt es Hautveränderungen an den Handgelenken. Ich bin zwar kein Spezialist, aber sie könnten von einer Fesselung herrühren. Sicher bin ich mir da nicht, es könnten auch andere Gründe zur Vernarbung des Gewebes geführt haben.«

Da die junge Frau derzeit nicht geschäftsfähig war, hatte das zuständige Gericht der Sozialstelle der Stadt die Vormundschaft übertragen und eine Pflegerin bestellt, die das Krankenhaus und sämtliche behandelnde Ärzte von der Schweigepflicht entbunden hatte. Außerdem war über die Staatsanwaltschaft ein gerichtsmedizinisches Gutachten beantragt worden, das inzwischen auf Freddys Schreibtisch gelandet war. Nun war er ins Krankenhaus gefahren, um darüber mit dem Arzt zu sprechen.

»Und hochgradig süchtig ist sie«, fügte der Arzt hinzu, »was in ihrem Zustand natürlich für den Heilungsprozess nicht förderlich ist. Die Entgiftung ist noch nicht abgeschlossen.«

»Heroin, steht in meinen Unterlagen«, antwortete Freddy Seelmann.

Der Arzt legte das Krankenblatt der jungen Frau auf den Beistelltisch, auf dem inzwischen der Name Tanja Sommerlath vermerkt worden war. »Das deckt sich mit unseren Untersuchungen. Sind Sie schon einen Schritt weitergekommen?«

Freddy schüttelte den Kopf. »Außer Frage steht, dass sie bei hoher Geschwindigkeit aus einem Wagen auf die Straße stürzte. Der Rechtsmediziner hat ein Verletzungsmuster rekonstruiert, das den Verdacht aufwirft, dass sie hinausgestoßen wurde. Wir vermuten einen Bus oder einen Van mit Schiebetüren, denn bei dem angenommenen Tempobereich kriegen Sie eine herkömmliche Tür kaum auf. Wir gehen von einem Mordversuch aus, denn jeder kann sich vorstellen, was mit einem Körper geschieht, der bei einer derart hohen Geschwindigkeit auf die Straße geworfen wird. Da wird der Tod billigend in Kauf genommen.«

»Ich hoffe, dass Sie die Kerle kriegen, die das getan haben«, entgegnete der Arzt.

»Eine Frage noch, Herr Doktor. Gibt es Anzeichen dafür, dass man sie in einem Kellerverlies festgehalten hat?«

»Anzeichen?«, wiederholte der Arzt fragend. »Was für Anzeichen meinen Sie?«

»Keime, Bakterien, ich bin kein Fachmann«, entgegnete Freddy Seelmann. »Ich dachte nur, ein modriges und verschimmeltes Kellerverlies hinterlässt irgendwelche Spuren. Vielleicht in den Atemwegen oder der Lunge oder auch unter den Fingernägeln.«

Der Arzt nickte. »Ich verstehe, aber da muss ich leider passen. Ich kann nur sagen, dass sie im Allgemeinen in einem sehr schlechten gesundheitlichen Zustand ist und es wohl auch vor dem Vorfall nicht zum Besten mit der Hygiene stand. Außerdem ist sie auffallend blass, was durchaus dafür spricht, dass sie nicht viel Sonne zu sehen bekam.«

Freddy nickte. »Danke, und falls ich noch Fragen habe …«

»Sie können mich jederzeit anrufen, das ist kein Problem. Ich helfe gerne, wenn ich kann.«

*

»Bingo!«, rief Lisa und schaute vielsagend auf den Computerbildschirm.

»Was hast du denn?«, fragte Trevisan, der gegenüber Platz genommen hatte und ebenfalls auf den Bildschirm starrte.

»Spur 156«, sagte Lisa. »Die Aussage eines Gemischtwarenhändlers namens Staufert und der Wirtin einer Pension in Tennweide. Beide haben am Tattag einen langsam durch den Ort fahrenden VW-Bus gesehen. Einen alten, teils verrosteten Bus mit weißer Lackierung, der möglicherweise ein dänisches Kennzeichen hatte. GA und dann folgten vier oder fünf Zahlen, die Farbkombination könnte tatsächlich dänisch gewesen sein.«

Trevisan rief auf seinem Bildschirm die Spur 156 auf und las die Auszüge der beiden Zeugenaussagen, die ihre Angaben unabhängig voneinander gemacht hatten. »Hm«, brummte er, »ein dänischer Bus, das könnte passen.«

»Das meine ich aber auch«, triumphierte Lisa.

»Du hast schnell dazugelernt. Du siehst also, wie hilfreich dieses Programm ist. Damit man die Dinge zusammenführen kann und den Überblick behält.«

Lisa kam zu Trevisans Schreibtisch und setzte sich locker auf die Schreibtischkante. »Wenn der Hintergrund nicht so traurig wäre, dann würde es mir sogar richtig Spaß machen. Das ist ja wie Rätselraten.«

Trevisan legte den Kopf schräg. »Mein Gott, ich frage mich, was ihr die ganze Zeit über in dieser Abteilung getrieben habt.«

»Ich sagte doch schon, wir haben Bilder von Vermissten auf Milchtüten geklebt.«

»Im Ernst?«

»Natürlich nicht. Aber Fahndungsplakate, Fahndungshinweise und die ganze Öffentlichkeitsarbeit, das war schon ein wesentlicher Teil unserer Arbeit.«

»Das ist gar nicht schlecht.« Trevisan kratzte sich am Kinn. »In der Akte steht, dass damals die Öffentlichkeitsfahndung nach den beiden Mädchen von der Staatsanwaltschaft angeordnet wurde, und diese Anordnung ist bislang nicht widerrufen. Im Gegenteil, es erging ein neuer Ermittlungsauftrag, das heißt, alle früheren Maßnahmen im Zusammenhang mit diesem Fall leben wieder auf. Deshalb will ich, dass du zwei Hochglanzfotos der Mädchen zu einem Fahndungsplakat zusammenstellst. Wir fragen, ob die Mädchen nach ihrem Verschwinden irgendwo gesehen worden sind. Vielleicht meldet sich auch jemand, der jetzt etwas zu sagen hat und damals schwieg, aus welchem Grund auch immer. Zusätzlich Berichte in den örtlichen Medien und im Raum Flensburg. Auch das dänische Grenzgebiet und Padborg müssen wir mit einbeziehen. Kümmere dich bitte gleich morgen früh darum, wenn ich zu den Reubolds fahre.«

»Aber ist das nicht eine Zumutung für die Familien der Vermissten?«, wandte Lisa ein. »Ich meine, da kommt doch alles wieder hoch und die alten Wunden werden erneut aufgerissen.«

»Denkst du, die Eltern kommen jemals über den Verlust ihrer Kinder hinweg?«, fragte Trevisan. »Glaub mir, es ist ein Schmerz, der ewig in dir bohrt. Solange du lebst, wirst du ihn nie vergessen. Und ich weiß, wovon ich rede.«

»Entschuldige, ich habe nicht daran gedacht.«

»An was hast du nicht gedacht?«

»Deine Tochter«, antwortete Lisa. »Ich weiß, was euch damals passiert ist und … und es tut mir leid.«

»Schon gut«, entgegnete Trevisan, ein kurzer Gedanke galt Paula, doch er wischte das Bild weg. Er wusste, es ging ihr gut und er brauchte jetzt alle Konzentration für diesen Fall. »Manchmal tut es auch gut, wenn man sich kümmert. Vergiss nicht, die Leichen wurden nie gefunden und jetzt taucht plötzlich eines der Mädchen wieder auf. Was, glaubst du, geht gerade in den Köpfen der Eltern von Melanie vor? Ich kann es dir sagen: Die Hölle ist für sie zurückgekehrt, viel schlimmer noch als zuvor, alles andere würde mich wundern. Vielleicht hilft es ihnen wenigstens ein klein wenig, wenn sie merken, dass wir das Schicksal der beiden nicht vergessen und abgeheftet haben.«

Lisa knabberte an einem Kugelschreiber. »Wenn ich daran denke, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Vielleicht sitzt jetzt gerade ein Mädchen irgendwo in einem kalten Verlies, vergewaltigt und geschunden, und wartet darauf, dass wir ihr helfen.«

»Leider sind die Eltern von Tanja bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, fuhr Trevisan fort. »Wenn sie jemals wieder auf die Beine kommt, dann wartet schon der nächste Schicksalsschlag auf sie. Also, machen wir uns an die Arbeit. Kümmere dich bitte um die Plakate, ich muss telefonieren.«

»So, mit wem denn?«

»Du bist ganz schön neugierig«, feixte Trevisan. Die jugendliche Unbekümmertheit seiner neuen Kollegin tat ihm gut. »Ich kenne da jemanden in Dänemark, der uns vielleicht bei Spur 156 weiterhelfen kann.«

Lisa warf ihren Stift auf den Schreibtisch. »Die Plakate … Din A4 oder Din A3?«

»Am besten beide Formate. Aber die Bilder müssen groß sein, ich will, dass sie mindestens siebzig Prozent des Plakats ausmachen.«

Lisa salutierte. »Aye, Käpt’n, wird gemacht.«

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