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Erinnerung
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Sande bei Wilhelmshaven

»Ich weiß nicht, ob ich es ohne diese kleine Erbschaft geschafft hätte«, sagte Martin Trevisan. »Ich verstehe auch gar nicht, wie Onkel Herbert darauf gekommen ist, mir das Geld zu vermachen. Ich hatte überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihm. Es war mir beinahe peinlich, als ich beim Notar in Cuxhaven saß und bei Gott, wenn ich das Geld für Paulas Behandlung nicht so dringend gebraucht hätte, dann weiß ich nicht, ob ich das Erbe überhaupt angetreten hätte.«

»Dann wäre es an den Staat gefallen und niemand hätte mehr etwas davon gehabt«, antwortete Peter Koch, Trevisans Freund aus alten Tagen, den er seit beinahe vier Monaten nicht mehr gesehen hatte.

»Der Staat … wenn ich sehe, wie er sich um seine Straftäter sorgt und wie er ihre Opfer behandelt, dann weiß ich nicht, wo hier die Gerechtigkeit bleibt«, sinnierte Trevisan bissig. »Ich bin froh, dass ich das Geld geerbt habe, sonst wüsste ich nicht, wie ich die Arztrechnungen bezahlen sollte. Außerdem hat er sich am Ende doch noch einen ganzen schönen Batzen geholt. Erbschaftssteuer nennt er diese halblegale Dieberei.«

Martin Trevisan hatte sich mit Peter Koch in der Scharfen Ecke in Sande getroffen, um über die alten Zeiten zu reden. Am heutigen Tage hatte er sein kleines Reihenhaus in Sande endgültig verkauft, denn dorthin würde er zusammen mit Paula ohnehin nie wieder zurückkehren. Nach seinem letzten Fall, bei dem seine Tochter in die Fänge eines Sektenführers geraten war, war nichts mehr so, wie es einmal war.

Die physischen Wunden, die er und seine Tochter erlitten hatten, waren schnell verheilt, doch die Leiden der Seele hatten sich erst Wochen später bemerkbar gemacht. Paula hatte sich mehr und mehr zurückgezogen und er hatte seine ganze Kraft und Überredungskunst aufbieten müssen, damit sie überhaupt noch zur Schule ging.

Angela hatte ihm damals geraten, mit Paula zu einem Psychologen zu gehen. Zuerst hatte er sich dagegen gesträubt, hatte gedacht, dass die Abkapselung seiner Tochter nur eine vorübergehende Episode bleiben würde. Doch als Paula immer öfter in der Nacht von Alpträumen geplagt um Hilfe schrie, ahnte er, dass er falsch lag. Er bat Angela, zu ihm zu ziehen, sich um ihn und Paula zu kümmern, doch sein Bitten war vergebens, Angela hatte nur ihre Karriere im Kopf. So zerbrach seine Beziehung und auch ihn überforderte die Situation immer mehr.

Als er schließlich mit Paula in der psychiatrischen Tagesklinik vorsprach, stellten die Ärzte bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung einhergehend mit Angstattacken und einer depressiven Grundstimmungen fest, die unbedingt eine umgehende Behandlung erforderlich machte. Trevisan war geschockt, wie sollte er sich als alleinerziehender Vater um seine kranke Tochter kümmern und auch noch seinen Beruf ausüben können? Als er mit Grit, seiner Ex-Frau, darüber sprach, musste er sich nur Vorhaltungen und Beschimpfungen anhören, die ihn zusätzlich belasteten. Er und seine Arbeit wären schuld daran, dass es Paula so schlecht ginge. Trevisan legte einfach auf und kämpfte.

Es war nicht einfach für ihn. Die Krankenversicherung stellte sich quer, zahlte lediglich eine ambulante Therapie, und Tante Klara, deren Ehemann einen Schlaganfall erlitten hatte und die ihn zu Hause pflegte, war nicht mehr in der Lage, ihnen zu helfen. Zu Anfang versuchte er es mit einer Pflegerin, doch Paula ließ keine Fremde an sich heran. Glücklicherweise fanden sie einen Heilpraktiker, der mit unkonventionellen Methoden große Erfolge aufzuweisen hatte und der Zugang zu Paula fand. Trevisan reduzierte seine Arbeitszeit, um möglichst viel Zeit mit ihr zu Hause verbringen zu können, doch auch das war keine dauerhafte Lösung. Die Zuzahlungen zu Paulas Behandlung, die nicht von der Krankenkasse gedeckt war, fraßen sehr schnell seine Rücklagen auf.

An einem Donnerstag, vor mehr als einem halben Jahr, war Trevisan im Büro zusammengebrochen. Erst im Krankenhaus kam er wieder zu Bewusstsein. Organisch war er für sein Alter bei bester Gesundheit, doch auch sein Seelenleben war aus allen Fugen geraten. Burnout nannte man die Krankheit auf neudeutsch und die Ärzte rieten ihm, sein Leben neu einzurichten. Dazu kam, dass Paulas behandelnder Heilpraktiker empfahl, aus Sande wegzuziehen. Er sprach von einer Spezialklinik in Hannover, einer Institution, die an die Psychiatrie in Langenhagen angegliedert war und in der Kinder und Jugendliche untergebracht waren, die an den gleichen Symptomen litten wie Paula. Es war aufgebaut wie ein Internat und es fand sogar regulärer Unterricht statt, so dass Paula weiter an ihrem Abitur arbeiten könne.

Anfänglich stand Trevisan diesem Gedanken skeptisch gegenüber, doch nach dem er sich eingehend damit befasst hatte – er war zu dieser Zeit krankgeschrieben – freundete er sich mit dem Gedanken an, zumal die Klinik bei ihren Patienten mit ausgezeichneten Heilerfolgen aufwarten konnte. Einziges Manko an dieser Geschichte war, dass die Krankenkasse nur einen Teil der Behandlungskosten übernahm und er monatlich beinahe zweitausend Euro beisteuern musste.

Genau zu diesem Zeitpunkt starb Onkel Herbert, Trevisans Patenonkel, der in Cuxhaven gelebt hatte, alleinstehend gewesen war und es als Geschäftsführer und Inhaber einer Import-Export-Kette zu einem sehr ansehnlichen Guthaben gebracht hatte. Für Trevisan war dies ein Wink des Schicksals. Er bewarb sich um einen Platz für Paula in der Langenhagener Klinik und erhielt bald eine Zusage.

Es war ein tränenreicher Tag, als er Paula im Klinikgebäude, einem ehemaligen Bauernhof, ablieferte. Hinzu kam, dass er sie in der achtwöchigen Eingewöhnungsphase nicht besuchen und auch sonst keinen Kontakt zu ihr haben durfte.

Trevisan hatte diese Zeit gut genutzt. Er trat seine dreiwöchige Kur in Bad Bergzabern an und ersuchte seine Dienststelle um Abordnung nach Hannover. Kriminaloberrat Beck und die Kriminaldirektorin Schulte-Westerbeck setzten sich sehr für ihn ein, so dass er zunächst für ein Jahr zum Landeskriminalamt abgeordnet wurde. Sein neues Tätigkeitsfeld im Dezernat 32 umfasste die Ermittlungen nach Vermissten, die Identifizierung unbekannter Toter und die Überprüfung von ungelösten Fällen aus dem ganzen Land auf neue Anhaltspunkte und Ermittlungsansätze und war ein typischer Bürojob. Mittlerweile war er in eine Vierzimmerwohnung in Davenstedt gezogen, einem ruhigen Stadtteil von Hannover, wo er Paula nahe sein konnte. Schon die ersten Monate ihres Aufenthalts hatten eine Besserung ihres Zustandes zur Folge, so dass sie mittlerweile zweimal im Monat das Wochenende bei Trevisan verbringen durfte.

Heute war er nach Sande zurückgekehrt, um dieses Kapitel endgültig abzuschließen und das kleine Reihenhaus an eine junge Familie zu verkaufen, die sich für den fairen Preis und Trevisans Entgegenkommen nach dem Notartermin mit einem Essen revanchiert hatte. Aber der Abend sollte seinem langjährigen Freund Peter Koch vorbehalten bleiben, denn schon morgen würde er wieder nach Hannover zurückkehren, um seiner neuen Tätigkeit nachzugehen.

Peter hatte zwei weitere Biere bestellt und klopfte Trevisan aufmunternd auf die Schulter. »Du schaffst das schon«, sagte er. »Du hast schon ganz andere Dinge geschultert.«

Trevisan griff nach dem Bier und prostete Peter zu. »Dein Wort in Gottes Ohr.«

»Und wie läuft es bei der Arbeit?«

Trevisan lächelte. »Ich kann noch nicht viel dazu sagen. Ich bin vorerst nur vier Stunden im Büro und wurde durchs Haus geschickt, um die Abteilungen kennenzulernen. Berufliches Eingliederungs-Management nennt sich das. Soviel ich bislang mitbekommen habe, geht es in meiner neuen Abteilung hauptsächlich darum, Bilder von Vermissten auf Milchtüten zu kleben und auf die drei Birken im Hof zu achten, damit sie nicht weglaufen. Ich muss erst einmal die Leute dort richtig kennenlernen. Bislang bin ich in meiner neuen Abteilung nur auf eine junge, flippige Kollegin gestoßen, die sich den ganzen Tag ihre Fingernägel manikürt. Ich glaube, mir wird schon ein klein wenig die Arbeit auf der Straße fehlen.«

»Vielleicht ist das trotzdem ganz genau das Richtige für dich. Du hattest schließlich ein Burnout-Syndrom.«

»Ich komm schon wieder auf die Beine. War einfach alles zu viel. Paula, die Arbeit und die Sache mit Angela. Na ja, zumindest Paula kommt wieder langsam in Schwung. Sie hat in der letzten Mathearbeit eine glatte Eins geschrieben. Wenn sie so weitermacht, dann wird sie mir langsam unheimlich.«

»Hast du wieder mal was von Angela gehört?«

Trevisan nickte. »Sie hat vor drei Wochen angerufen.«

»Sie hat deine neue Nummer?«

»Auf dem Handy, sie ist in Kanada und jagt Grizzlybären mit der Kamera.«

»Wird das wieder mit euch beiden?«

Trevisan schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich glaube nicht, aber wir bleiben Freunde. Weißt du, wenn man in einer Partnerschaft lebt, auch wenn es eine lockere Beziehung ist, dann muss man zusammenstehen. Ich hätte damals eigentlich erwartet, dass Angela ihre Karriere ruhen lässt und zu uns zieht, um uns über diesen … dieses Chaos hinwegzuhelfen, aber ihr war ihre Arbeit und ihre Freiheit wichtiger. Mit solch einem Menschen möchte ich nicht meine letzten Tage auf dieser Welt verbringen, auch wenn man ihr Verhalten vielleicht rational verstehen kann, weil Angela nie der Typ war, der sich in einer festen Bindung vereinnahmen lässt. Für mich sieht eine echte Partnerschaft anders aus.«

Peter prostete Trevisan zu. »Andere Mütter haben auch schöne Töchter.«

»Und ich habe die schönste Tochter der Welt«, entgegnete Trevisan.

*

Justin Belfort hatte sein Gepäck aus dem roten Audi geholt, das Fahrzeug verschlossen und in der kleinen Pension eingecheckt, in der ihn eine alte Dame mit grauem, zu einem Zopf gebundenen Haar hinter dem Tresen wortkarg empfangen hatte. Der Klosterkrug war Pension, Restaurant und Dorfkneipe zugleich. Über die Redaktion hatte er das Zimmer angemietet und sich angesichts des kalten Empfangs auf sein Zimmer zurückgezogen.

Die beiden Fahrräder der Mädchen waren unweit des Bannsees, einem Biotop im Wald, nördlich von Tennweide von einem Landwirt gefunden worden. Der Polizist, bei dem er es gemeldet hatte, wohnte hier in Tennweide. Er arbeitete in dem kleinen Polizeistützpunkt in Mardorf, der auch für Tennweide und die Umgebung zuständig war. Außerhalb der Saison verrichteten die Beamten des Polizeistützpunktes Mardorf auf der Polizeistation in Steinhude ihren Dienst. Genau dort würde Justin Belfort mit seinen Recherchen beginnen, doch heute wollte er noch das Tageslicht nutzen und dem Bannsee einen Besuch abstatten.

Er verstaute das Gepäck in seinem Zimmer, griff er nach seiner Kamera, schloss die Tür ab und ging hinunter zur Rezeption.

»Zwischen sechs und sieben Uhr gibt es Abendessen«, knurrte die Frau hinter dem Empfangspult.

»Können Sie mir sagen, wie ich hier am schnellsten an den Bannsee komme?«, fragte Justin.

Die Frau legte ihre Stirn in Falten. »Was wollen Sie denn dort?«

Justin hatte nicht vor, zu früh zu offenbaren, welche Gründe ihn nach Tennweide geführt hatten. »Ich will mich nur in der Gegend umsehen und ich hörte, dass es im Wald einen idyllischen Flecken geben soll, der Bannsee genannt wird.«

»Fahren Sie doch ans Steinhuder Meer«, antwortete die Wirtin. »Alle tun das.«

Justin Belfort grinste und bedankte sich. Er verließ den Klosterkrug und setzte sich in seinen Wagen. Das Navigationsgerät würde ihm schon den Weg weisen.

*

Magda Töngen, die alte Wirtin und Inhaberin des Klosterkruges, schaute dem jungen Mann nach, bis er mit seinem roten Audi in die Mardorfer Straße eingebogen war, und schüttelte den Kopf. Sie verließ die schummrige kleine Rezeption und betrat den Gastraum im linken Teil des Gebäudes. Drei Männer saßen in dem ansonsten leeren Raum an einem runden Tisch, tranken Bier und spielten Skat.

Sie trat an den Stammtisch und griff nach einem leeren Bierglas. »Noch eins?«

Der Mann mit den grauen Haaren, etwa Mitte fünfzig, schaute von seinen Karten auf und nickte.

Zögernd sagte die Wirtin: »Da ist wohl wieder so ein Spinner hier, der sich für den See und die verschwundenen Mädchen interessiert.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte der Grauhaarige.

»Sein Zimmer hat irgendeine Zeitungsredaktion gebucht. Und jetzt hat er mich nach dem Weg zum Bannsee gefragt. Hört das denn nie auf …«

»Wie heißt der Kerl?«

»Er hat sich als Justin Belfort aus Hannover eingetragen«, antwortete die Wirtin. »Diese Kerle tauchen hier auf, stellen dumme Fragen und schnüffeln überall herum. Das macht uns allen das Geschäft kaputt.«

»Ich werde mich darum kümmern. Schreib mir mal auf, welche Adresse er angegeben hat«, antwortete der Gast, der Thomas Klein hieß und Leiter des kleinen Polizeistützpunktes in Mardorf war, in dessen Zuständigkeitsbereich Tennweide lag.

Der Sohn des Apothekers

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