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ОглавлениеTrevisan hatte bis acht Uhr geschlafen und war nach der Morgentoilette und einem ausgedehnten Frühstück ins Büro gefahren. Ein schwerer Gang lag heute vor ihm, er hatte einen Termin bei den Reubolds in Minden ausgemacht. Der Vater der verschwundenen Melanie war nicht begeistert gewesen, als Trevisan angerufen und um ein Gespräch gebeten hatte.
»Na ja, dann kommen Sie eben, es ändert ja sowieso nichts«, hatte Robert Reubold schließlich eingelenkt.
Trevisan hatte die Mutlosigkeit und die Verzweiflung aus seiner Stimme herausgehört. Er dachte an damals, als er erfahren hatte, dass seine Tochter Paula entführt worden war, das Gefühl war ihm nicht unbekannt.
Im Büro schaute er noch bei Lisa vorbei, die vor ihrem Computer saß und die Pressemeldung für die örtlichen und überregionalen Zeitungen schrieb. Trevisan setzte sich kurz zu ihr und kritzelte auf einen Notizzettel, welche Fragen sie ausformulieren sollte und welche Details von Nutzen waren und der Presse bekannt gegeben werden konnten.
»Wenn du fertig bist, dann schicke alles gleich an die Pressestelle«, sagte Trevisan.
»Willst du nicht vorher noch mal drüberschauen?«, fragte Lisa ungläubig.
»Du hast mehr Erfahrung in solchen Sachen«, antwortete Trevisan. »Oder hast du damit ein Problem?«
»Smisek wollte alles sehen und abzeichnen. Nichts verließ die Abteilung, bevor er nicht seinen Haken darunter gemacht hatte. Und meistens war er mit nichts zufrieden und wir bekamen die Berichte rot gefärbt wieder zurück.«
Trevisan lächelte. »Hatte wohl den falschen Beruf, hätte Lehrer werden sollen.« Er klopfte Lisa auf die Schulter. »Ich geh dann mal, Robert Reubold wartet auf mich.«
Er fuhr mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage und schnappte sich den Dienstwagen des Dezernats, einen blauen VW Passat. Die Fahrt nach Minden über die Bundesstraße dauerte länger als angenommen. Mit dichtem Verkehr hatte Trevisan an diesem Samstagvormittag nicht gerechnet.
In Minden suchte er die Goethestraße auf dem Ortsplan, den er sich ausgedruckt und entsprechend markiert hatte. Vor dem Mehrfamilienhaus parkte er am Straßenrand. Die Reubolds wohnten in dritten Stock. Einen Aufzug gab es nicht, so dass Trevisan erst einmal durchatmete, als er an der Wohnungstür ankam. Er klingelte und wartete geduldig, bis ein Mann öffnete, unrasiert und in Jogginghose und Unterhemd. Die nackenlangen, grauen und ungepflegten Haare hingen ihm wirr ins Gesicht.
»Robert Reubold?«, fragte Trevisan.
»Ja, das bin ich.«
Trevisan schätzte ihn auf Anfang fünfzig. »Ich bin Martin Trevisan vom Landeskriminalamt wir haben miteinander telefoniert.«
Robert Reubold nickte nur, ließ die Wohnungstür offen und verschwand im dunklen Gang. Trevisan folgte ihm. Schuhe standen kreuz und quer und Kleidungsstücke lagen herum. Staub hatte sich auf der kleinen Kommode abgesetzt. Trevisan folgte dem Mann in die Küche, wo sich schmutziges Geschirr auf der Spüle türmte. Robert Reubold zeigte auf einen Stuhl und ließ sich mit einem Seufzer auf der Eckbank nieder. Zwei leere Bierflaschen standen auf dem Tisch.
»Ich bin noch nicht zum Aufräumen gekommen«, sagte er knurrig, als Trevisan den Raum gemustert und eine Armada von weiteren leeren Bierflaschen hinter der Tür entdeckt hatte.
»Ist Ihre Frau ebenfalls hier?«, fragte Trevisan.
Reubold schüttelte den Kopf. »Als sie von Tanja erfuhr, ist sie sofort nach Flensburg gefahren.«
Trevisan nickte. »Das kann ich verstehen, aber Tanja liegt im Koma. Die Ärzte meinen, es kann Wochen, sogar Monate dauern, bis sie wieder zu sich kommt.« Den Rest verschwieg Trevisan. Es war durchaus möglich, dass Tanja überhaupt nicht mehr aufwachen würde. Aber er war nicht hierher gekommen, um Hoffnungen zu zerstören.
»Das ist meiner Frau egal, sie lässt sich nicht davon abbringen. Sie tut, was sie will.«
»Und was haben Sie gedacht, als Sie hörten, dass Tanja aufgetaucht ist?«
Der Mann fuhr sich über seine fettigen Haare. »Ich glaube nicht, dass es Tanja ist, ich glaube, sie ist genauso tot wie meine Meli. Wenn ich dieses Schwein erwische, dann schlage ich es mit eigenen Händen tot.« Robert Reubold biss sich auf die Lippen und versuchte, seine starke Erregung zu unterdrücken.
»Gab es denn seit ihrem Verschwinden irgendwelche ungewöhnlichen Vorfälle? Anrufe, ohne dass sich jemand meldete, irgendetwas dieser Art?«
Reubold zog die Nase hoch. »Nachdem sie meine Meli geholt hatten, gab es ständig Anrufe, diese Presseheinis ließen uns keinen Tag in Ruhe und auch die Polizisten. Wissen Sie, an diesem Tag habe ich aufgehört zu leben. Und bei Elsa ist auch alles kaputtgegangen.«
»Elsa ist Ihre Frau?«
»Ja, wir sind verheiratet, aber sie ist nicht mehr meine Frau. Sie ist nur noch hier, weil ihr die Energie fehlt, die Koffer zu packen. Seit dem Tag, als Meli verschwand, ist alles zwischen uns kaputt. Da ist nur noch … Leere.« Robert Reubold zeigte auf die Bierflaschen. »Das ist das Einzige, was mir geblieben ist.«
»Arbeiten Sie noch im Verwaltungsamt?«, fragte Trevisan, um die Situation ein klein wenig zu entspannen, doch offenbar war dies die falsche Frage gewesen. Robert Reubold legte den Kopf auf seine auf dem Tisch verschränkten Arme und begann hemmungslos zu schluchzen.
»Zweimal war ich schon auf Entzug«, stammelte er. »Ein drittes Mal wird es nicht geben. Sie streben die Verrentung an, ich bin seit über zwei Jahren arbeitsunfähig, aber danach fragt kein Mensch. Diese Schweine haben mir meine Tochter gestohlen und mein ganzes Leben zerstört.«
Trevisan schluckte und schwieg, bis sich Robert Reubold langsam beruhigt hatte. Schließlich wischte sich der Mann mit dem Unterarm die Tränen weg und schaute auf. »Weshalb sind Sie eigentlich hier?«
»Ich wollte mit Ihnen sprechen und mir ein Bild machen, außerdem wollte ich Sie zu Tanja befragen. Ihre Eltern sind leider bei einem Unfall …«
»Ich weiß, sie haben es besser gemacht als Elsa und ich. Sie haben einen Schlussstrich gezogen.«
»Sie glauben, sie haben sich umgebracht?«
»Ich weiß es«, antwortete Robert Reubold trocken. »Meli und Tanja kannten sich seit der fünften Klasse, sie sind zusammen aufgewachsen. Sie wohnte ein paar Blocks weiter. Sie haben alles gemeinsam gemacht, sie sagten sogar, dass sie gemeinsam Medizin studieren wollten und dann kam diese Radtour, diese gottverdammte Radtour. Ich war von Anfang an dagegen, aber wenn sich die Mädels etwas in den Kopf gesetzt hatten … Ich hätte sie aufhalten müssen.«
»Sie konnten nichts tun«, versuchte Trevisan zu beruhigen, denn schon wieder kullerten Tränen über Reubolds Wange.
»Wir haben alle zusammen die Tour bis ins Kleinste geplant. Die Übernachtungen, die Tourenpläne … Sie hätten längst schon fast in Nienburg sein müssen, als es passierte.«
»Woher wissen Sie, wann es passiert ist?«, fragte Trevisan.
»Es weiß niemand genau, aber ein Polizist meinte, es soll nach drei Uhr mittags gewesen sein. Das Abendessen in Nienburg war bestellt, sie hätten es nicht mehr rechtzeitig dorthin geschafft. Sie müssen aufgehalten worden sein.«
»Oder sie haben die Zeit vergessen.«
»Sie haben abgekürzt, die Route sah nur Hauptstraßen vor. Ich wollte nicht, dass sie durch unbelebte Gegenden fuhren. Ich wollte, dass sie dort bleiben, wo es genügend Menschen gibt. Man weiß ja nie, welchen Spinnern man begegnet.«
Trevisan nickte. »Das kann ich verstehen. Gibt es eigentlich noch jemanden hier im Ort, der Tanja nahestand?«
Robert Reubold schaute Trevisan fragend an. »Wie meinen Sie das?«
Trevisan fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich meine, wenn Tanja aufwacht. Ihre Eltern sind tot und es gibt nur noch eine Tante, die in Amerika lebt. Ich meine eine Vertrauensperson, die Tanja wiedererkennen könnte, damit sie wenigstens ein bekanntes Gesicht sieht, falls sie jemals wieder zu sich kommt.«
Robert Reubold nickte. »Ich verstehe. Die einzige Bezugsperson dürfte Elsa sein, meine Frau. Die Sommerlaths hatten nur wenig Kontakt hier.«
Trevisan erhob sich und streckte Reubold seine Hand entgegen. »Ich wünsche Ihnen, dass Sie das Leben wieder in den Griff kriegen und auch mit Ihrer Frau wieder zusammenkommen, mehr bleibt einem nicht im Leben. Und ich verspreche Ihnen, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, um Ihre Meli zu finden.«
Robert Reubold winkte ab. »Das hat Ihr Vorgänger auch versprochen. Aber ich habe nie mehr von ihm gehört.«
Trevisan nickte. »Ich finde schon hinaus«, sagte er, als Reubold sich erheben wollte.
*
»Sie sitzen in U-Haft und wurden auf verschiedene Gefängnisse verteilt«, berichtete Sina. »Drei sitzen im Staatsgefängnis von Horsens, zwei in Ringe und der Haupttäter im Sicherheitstrakt von Nyborg, das ist am anderen Ende von Dänemark.«
»Im Staatsgefängnis, sagst du?«, fragte Justin. »Weißt du, wer die Ermittlungen führt?«
Sina blätterte ihren Notizblock um. »Die Reichspolizei ist da federführend. Ein Chefinspektor Mats Brandstrup ist der Ermittlungsführer und ein Polizeimeister Will Viksom taucht in den Akten auf. Die Polizei in Esbjerg ist daran nicht beteiligt. Für die regionale Polizei ist die Sache wohl zu heiß und die Fäden werden direkt in Kopenhagen gezogen. Man befürchtet Aktionen, es gibt offenbar noch weitere Splittergruppen, die über ganz Dänemark verstreut sind.«
Justin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Verdammt, die Reichspolizei, da kommen wir nicht ran. In Esbjerg kenne ich jemanden, der bei der zuständigen Stelle für den Bezirk Syd- or Sonderjyllands arbeitet. Aber bei der Reichspolizei beißt man sich die Zähne aus, da wird es gleich politisch. Hast du sonst noch was für mich?«
Sina erhob sich und trat von hinten an Justin heran. Sanft streichelte sie ihm über das blonde, wellige Haar. »Wenn du brav bist.«
Justin ergriff ihre Hand und schob sie beiseite. »Sina, wir sollten Arbeit und Privatleben trennen.«
»Was soll man trennen?«, fragte eine dunkle Frauenstimme. Justin fuhr zusammen und Sina zog blitzschnell ihre Hand zurück. Monika Keppler, die Chefredakteurin, hatte den Raum betreten.
»Die Verbrecher«, antwortete Justin, während Sina sich abwandte und zu ihrem Platz zurückkehrte. »Die Rocker. Sie sitzen in unterschiedlichen Gefängnissen und die Reichspolizei leitet die Untersuchung.«
Monika Keppler, die scherzhaft von der Belegschaft der Redaktion Alices Schwester genannt wurde, in Anlehnung an Alice Schwarzer, verzog ihre Mundwinkel. »Da haben wir keine Chance«, sagte sie mit ihrer tiefen, maskulinen Stimme.
»Ich habe noch die Adresse, wo die Mädchen festgehalten wurden«, berichtete Sina kleinlaut. »Lejvejen 5 in Padborg, das ist ein altes Gehöft und steht nun leer.«
Justin erhob sich. »Immerhin etwas. Ich fahre morgen hin.«
»Du bleibst!«, befahl Monika Keppler. »Du kümmerst dich weiter um dieses Dorf. Nina und Henry übernehmen Padborg. Sie sollen ein paar Nachbarn fragen und ein paar Bilder machen. Mehr ist in Dänemark sowieso nicht zu holen. Aber ich will, dass du mit diesem debilen Jungen Kontakt aufnimmst und ein paar schöne Fotos machst. Ich habe deine Notizen gelesen und halte die Aussage dieses Apothekers für sehr wichtig. Das mit dem Behördenirrtum sollte der Kern der Reportage werden, meinst du nicht auch, Justin?«
Justin zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.«
Monika Keppler lächelte. »Deswegen habt ihr mich«, sagte sie, ehe sie sich umwandte und den Raum verließ.
»Verdammte Scheiße«, fluchte Justin. »Das ist meine Geschichte!«
Sina lächelte. »Jetzt wohl nicht mehr«, sagte sie schnippisch.