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Trevisan war gegen vier Uhr eingeschlafen. Als ihn der Wecker um acht unsanft aus dem Tiefschlaf riss, brauchte er eine Weile, um sich zurechtzufinden. Gestern Abend hatte er beinahe eine Stunde lang mit Paula telefoniert, die in Irland mit ihrer Therapiegruppe auf dem Shannon eine Bootstour machte und gegen Abend Banagher, das erste Etappenziel, erreicht hatte. Sie fühlte sich wohl. Trevisan hatte aufgeatmet, denn zu Beginn der Woche hatte sie sich noch traurig angehört. Diesmal hingegen hatte sie beschwingt geklungen und sogar gescherzt.

Nach dem Telefonat hatte er sich ein einfaches Mahl zubereitet und sich dann die drei Ordner angesehen, die er aus dem Büro mitgenommen hatte. Kriminaloberrat Volkmar Dittel, der Leiter der Sonderkommission, war im Jahr 2001 pensioniert worden, doch er lebte noch immer in der Nähe von Hannover. Trevisan hatte sich die Adresse aus dem Telefonbuch notiert. Ein Gespräch mit dem Mann würde nicht schaden. Trevisan lümmelte sich auf die Couch, hatte eine CD mit klassischer Musik eingelegt und arbeitete sich Blatt für Blatt durch die Ordner mit den Ermittlungsergebnissen der Soko Radtour. Er hatte einen Notizblock bereitgelegt, um auftauchende Fragen oder Unklarheiten zu notieren. Als er sich todmüde in sein Bett schleppte, war dieser Block vollgeschrieben mit Unstimmigkeiten und Rätseln.

Natürlich waren die Ermittler damals davon ausgegangen, dass die beiden Mädchen unweit des Bannsees ermordet und ihre Leichen irgendwo in der Umgebung versteckt worden waren. Es gab am Steinhuder Meer zahlreiche Moore, Wasserläufe und Tümpel. Doch der Fund des Rucksacks bei Walsrode hatte damals diese Theorie erschüttert. Das Auftauchen der jungen Frau in der Nähe von Flensburg hatte nun alles durcheinandergebracht und sämtliche Vermutungen der Ermittler von damals über den Haufen geworfen. Jetzt erschienen manche Dinge in einem ganz anderen Licht und warfen neue Fragen auf.

Ausgestattet mit den drei Ordnern betrat Trevisan gegen zehn Uhr die Dienststelle in der Schützenstraße und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Lisa saß bereits am Computer im Soko-Raum und übertrug Daten in die Datenbank.

»Guten Morgen, Chef.« Sie blickte nur kurz auf, bevor sie weiter auf die Tastatur tippte.

»Was machst du gerade?«, fragte Trevisan.

»Spur Nummer 64«, murmelte sie. »Antragungsspuren am Fahrrad des Opfers Sommerlath, bestehend aus Torf und feuchter Erde, Lage Pedal rechts, unten.«

»Ich sehe, du hast dich mit dem Programm schon angefreundet«, scherzte Trevisan.

»Es fehlen drei Ordner.«

Trevisan trat neben sie und stellte die Ordner auf dem langen Konferenztisch ab. »Ich frage mich, wieso die Täter die Räder neben einem Waldweg sichtbar liegen ließen. Sie hätten sie doch einfach nur in eine Torfgrube werfen müssen. Und wenn sie überhaupt keine Spuren hinterlassen wollten, dann wäre es doch auch möglich gewesen, sie einfach mitzunehmen.«

»Mitzunehmen?«, wiederholte Lisa ungläubig.

»Es ist eine Sache, jemanden umzubringen und die Leiche abzutransportieren – auch zwei Leichen lassen sich gut in einem Kofferraum unterbringen. Aber wenn ich zwei Menschen entführen will, die sich das bestimmt nicht gefallen lassen, dann muss ich ausreichend Manpower und Platz haben.«

Lisa dachte angestrengt nach. »Zwei Täter und ein Bus, ein Transporter oder so ähnlich«, folgerte sie nach einem Moment.

»Das wäre eine Möglichkeit und da könnte ich auch die Räder entsorgen und müsste sie nicht auf einem Waldweg in Tatortnähe liegen lassen.«

»Woher willst du wissen, dass die Räder in Tatortnähe lagen?«, fragte Lisa.

»Das Kettchen eines der Mädchen«, antwortete Trevisan. »Der debile Sohn des Apothekers hat die damaligen Ermittler an eine Stelle geführt, die an einer kleinen Lichtung liegt, Luftlinie etwa dreihundert Meter südlich des Bannsees. Und in der Nähe lagen auch die Räder in einem Gebüsch neben einem unwegsamen Waldweg, den man nur mit einem Schlepper befahren kann und wo sie ein Landwirt fand.«

»Das ist doch einfach. Es waren zwei Täter. Einer bleibt beim Wagen und bewacht die Opfer und der andere bringt die Räder weg.«

»Wie oft bist du schon Rad gefahren?«, fragte Trevisan.

»Als Kind sehr oft.«

»Es ist nicht leicht für eine einzelne Person, zwei Räder über unwegsames Gelände zu schieben«, antwortete Trevisan. »Es war noch nicht dunkel und ganz in der Nähe ist ein Campingplatz, der damals gut belegt war. Das ist ein hohes Risiko, wenn man jemanden entführen will.«

»Woher weißt du, dass es hell gewesen ist?«, fragte Lisa, während Trevisan die graue Stellwand zurechtrückte und darauf eine topographische Karte von der Gegend um den Bannsee hängte.

»Der Bauer sagte aus, dass er die Räder bei Anbruch der Dämmerung fand«, erklärte Trevisan. »Gestartet sind die Mädchen an diesem Tag gegen elf Uhr in Neustadt, das liegt hier.« Er zeigte auf die Karte. »Knapp acht Kilometer, das schafft man innerhalb einer halben Stunde. Also gehen wir davon aus, dass sie etwa um 11.30 Uhr in der Nähe von Tennweide waren. Nienburg war ihr nächstes Etappenziel, bis dahin braucht man mit einem Rad etwa drei Stunden. Sie hatten für alle ihre Unterkünfte Abendessen gegen sieben Uhr vereinbart, so war es in Hagenburg im Hotel Schneevoigt und auch in Neustadt im Maro. Auch für den Posthof galt diese Vereinbarung, aber dort sind sie nie angekommen.«

»Wahrscheinlich waren sie am Steinhuder Meer baden, schließlich war das eine Vergnügungstour«, warf Lisa ein.

»Das glaube ich auch. Sie hatten Badeanzüge dabei und eine Bedienstete vom Maro in Neustadt hat ausgesagt, dass sie nach einem Trockenraum gefragt haben. Ich glaube sogar, dass sie darüber die Zeit vergessen hatten und deshalb über die Waldwege in Richtung Nienburg fuhren.«

»Wie kommst du zu der Annahme?«

»Man hätte auch über Tennweide und Mardorf nach Nienburg fahren können. Die Strecke ist gut fünf Kilometer weiter. Aber sie fuhren durch den Wald, obwohl man sich dort auch gut verirren kann. Ich denke, sie hatten es eilig, nach Nienburg zu kommen, deswegen wählten sie die kürzere Route. Das könnte bedeuten, dass sie zwischen 16 und 18 Uhr auf ihre Entführer trafen.«

»Das mag schon sein, aber wie bringt uns das weiter?«, fragte Lisa mit verwirrtem Blick.

Trevisan lächelte. »Die Tatzeit einzugrenzen, ist sehr wichtig. Denn wenn wir einen Verdächtigen haben, dann ist so ein Zeitfenster für die weiteren Ermittlungen von Bedeutung.«

Lisa schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ja, sicher, das Alibi.«

»Das Alibi!«, bestätigte Trevisan und griff nach einem Edding-Stift. 16-18 Uhr schrieb er neben die Karte auf die Tafel.

Lisa wandte sich wieder dem Computer zu.

»Wie weit bist du?«

»Es fehlen noch 264 Spuren«, antwortete sie.

»Heute Mittag ist Zeit dazu. Wir treffen uns in einer halben Stunde mit einem Pensionär und ich hätte dich gerne dabei.«

Lisa sprang von ihrem Stuhl auf. »Gerne. Ich war noch nie im Außendienst.«

*

Justin Belfort hatte lange geschlafen und beinahe das Frühstück verpasst. Nach mehren Tassen Kaffee, Buttertoast und Marmelade verschwand er wieder auf sein Zimmer. Er überspielte die Fotos des gestrigen Tages auf seinen Laptop und fasste stichwortartig die Aussagen von Bauer Tjaden in einem Script zusammen. Anschließend suchte er in seinem Notizbuch nach der Adresse der Klosterapotheke in Mardorf, die Rudolf Thiele leitete. Er hatte sich vorgenommen, heute das Gespräch mit dem Mann zu suchen und wusste, dass es nicht leicht werden würde. Svens Vater hatte bislang alle Gespräche mit Journalisten abgeblockt. Justin hatte sich eine Strategie zurechtgelegt, in der er Sven die Opferrolle zudachte und das damalige Fehlverhalten der Polizei in den Vordergrund rückte. Es musste ihm einfach gelingen, den Apotheker zu überzeugen, denn ohne dessen Einverständnis würde er nicht einmal in Svens Nähe kommen. Also bereitete er sich akribisch auf das Gespräch mit Rudolf Thiele vor und ging noch einmal alle Fakten durch, die ihm hilfreich erschienen.

Kurz nach elf schnappte er sich seinen Fotoapparat und das kleine Aufnahmegerät und gab an der Rezeption seinen Schlüssel ab. Diesmal stand eine Angestellte hinter dem Empfangspult, der er bislang noch nicht begegnet war.

»Einen schönen Tag«, rief ihm die junge Frau hinterher, als er den Klosterkrug verließ und zu seinem Auto ging.

Bereits von Weitem bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Der Wagen neigte sich nach links. Als er näher kam, erkannte er den Grund dafür. Der vordere Reifen war luftleer. Er fluchte. Vielleicht war er gestern auf dem Waldweg in einen Nagel gefahren? Er umrundete das Auto und blieb verdutzt stehen. Auch im hinteren Reifen fehlte Luft.

»So eine verfluchte Scheiße!«, brüllte er. Deutlich waren die Einstiche in der Wandung des Reifens zu erkennen.

»Etwas nicht in Ordnung?«, ertönte eine Stimme hinter ihm.

Justin Belfort fuhr herum und schaute in das fragende Gesicht des Polizisten, der ihn am Vortag kontrolliert hatte. Er zeigte auf den Reifen. »Finden Sie das etwa in Ordnung?«

»Das kommt davon, wenn man gesperrte Wege fährt …«

»Hören Sie, Oberkommissar Klein – das ist doch Ihr Name, oder? Das sieht ein Blinder mit einem Krückstock, dass hier jemand mit einem Messer am Werk war. Ich glaube nicht, dass Sie als Gesetzeshüter so etwas billigen können. Das geht entschieden zu weit.«

»Sie haben recht, das geht wirklich zu weit, aber Sie gehen hier manchen Leuten auf den Geist«, erklärte Oberkommissar Klein. »Viele leben davon, ihre Ferienwohnungen im Sommer an Touristen zu vermieten. Die haben kein Interesse daran, den Mordfall wieder in den Schlagzeilen zu sehen. Wissen Sie, damals, nachdem das Verbrechen bekannt wurde, standen beinahe die Hälfte aller Ferienwohnungen leer. Sogar auf dem Campingplatz reisten besorgte Gäste ab, weil hier ein Mädchenmörder sein Unwesen trieb. Das kommt bei den Leuten, die hier leben und ihr Geld sauer verdienen müssen, nicht besonders gut an. Und jetzt, wo halbwegs Gras über die Sache gewachsen ist, kommen Sie daher und wühlen alles wieder auf. Da kommen solche Dinge schon mal vor.« Klein zeigte auf die beiden Reifen.

»Haben Sie schon mal was von Pressefreiheit gehört? Ich glaube nicht, dass ich in einem Land leben und arbeiten will, in dem man die Arbeit der Presse unterdrückt. Und ich glaube auch, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, zu erfahren, was damals hier passiert ist.«

»›Ein Recht darauf‹», wiederholte der Polizist verächtlich. »Eine Sonderkommission hat monatelang ermittelt, über hundert Leute waren im Einsatz. Die ganze Gegend wurde mehrfach durchsucht. Sogar ein Düsenjet der Bundeswehr ist über das Gebiet geflogen. Sie haben Aufnahmen mit einer hochauflösenden Spezialkamera gemacht, aber von den Mädchen gab es keine Spur. Und jetzt, nachdem eins davon über zweihundert Kilometer von hier wieder aufgetaucht ist, muss doch wohl auch Ihnen klar sein, dass niemand im Ort mit der Sache zu tun hat. Wissen Sie, was ich glaube? Das Ganze war ein großer Zufall. Da sind ein paar Rocker zufällig durch unsere Gegend gefahren und haben sie einfach so mitgenommen. Niemand aus diesem Ort und niemand aus der Gegend hat etwas mit der Sache zu tun. Das war einfach nur Schicksal. Und deshalb sind Sie hier auch an der falschen Adresse. Fahren Sie nach Dänemark, dort sind Sie richtig, denn …«

»Wie kommen Sie auf Dänemark?«, fragte Justin Belfort.

Klein lächelte ungläubig. »Kommen Sie, Sie haben doch sicherlich auch schon von diesen Rockern bei Padborg gehört, die ein paar Frauen festhielten und zur Prostitution zwangen. Es gibt nicht wenige aus unseren Reihen, die da einen Zusammenhang vermuten. Das Mädchen, das man in Flensburg aufgegriffen hat, war übrigens hochgradig süchtig, wussten Sie das?«

»Und wenn schon.«

»Mann, sehen Sie das nicht?! Diese Rocker fahren zufällig hier durch und zwei junge Mädchen laufen ihnen über den Weg. Mitten im Wald, mitten in der Einsamkeit. Die Kerle sind absolut skrupellos. Sie schlagen zu, entführen die beiden und halten sie gefangen. Sie zwingen sie zur Prostitution und machen sie süchtig, damit sie nicht weglaufen können. Diese Leute sind abartig. Ihnen liegt nichts an einem Menschenleben. Und dann gelingt es einem der Mädchen zu entkommen. Dabei springt sie aus einem fahrenden Wagen. Für mich klingt das absolut plausibel.«

Justin Belfort rieb sich über das Kinn. »So könnte es gewesen sein«, murmelte er.

»Was ist jetzt mit der Anzeige?«, fragte Klein und zog einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche. Er zeigte auf die zerstochenen Reifen des Wagens.

»Das bringt doch sowieso nichts«, entgegnete Justin.

Oberkommissar Klein steckte seinen Kugelschreiber wieder ein und nickte kurz. »Einen Reifenhändler gibt es in Neustadt.«

Justin atmete tief ein. »Danke«, sagte er und machte sich auf den Weg zurück in den Klosterkrug.

Der Sohn des Apothekers

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