Читать книгу Der Sohn des Apothekers - Ulrich Hefner - Страница 12

7

Оглавление

Rudolf Thiele, der Apotheker von Mardorf, zog den Vorhang des kleinen Fensters im Nebenraum zu und warf einen skeptischen Blick aus dem Fenster.

»Nehmen Sie Platz!«, forderte er Justin Belfort auf. »Ich werde Ihnen erzählen, wie es war und ich möchte, dass Sie sich ein Bild von meinem Sohn Sven machen können. Glauben Sie mir, diese Polizisten hatten überhaupt kein Interesse, den Fall zu lösen. Das war eine einzige Hexenjagd. Sie hatten ihn zum Sündenbock abgestempelt, weil er sich nicht wehren konnte.«

Thiele atmete tief ein. »Wissen Sie, in einem kleinen Dorf zu leben, ist nicht leicht, wenn man ein Außenseiter ist. Da verschwanden zwei Mädchen, das ist schlimm genug, die Behörden standen unter Druck und hatten nichts, rein gar nichts in der Hand. Da liegt es ja nahe, dass man sich das schwächste Opfer sucht und unter Mordverdacht stellt. Es ging sogar so weit, dass man mich verdächtigte, die Spuren des Verbrechens beseitigt zu haben. Es wurde nie ausgesprochen, aber ich wusste, was die Polizisten dachten. Allen voran unser Dorfpolizist, der war am schlimmsten. Er würde dem Sven diese Tat zutrauen, hat er behauptet. Dabei ist Sven der sanftmütigste und sensibelste Mensch, den ich kenne. Ich sage das nicht, weil er mein Sohn ist, ich sage es, weil es die Wahrheit ist.«

Justin Belfort hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen auf seinem Block. »Ihr Sohn ist von Geburt an behindert?«

»Ja, er ist schwer intelligenzgemindert. Er ist jetzt zweiundzwanzig Jahre alt und hat den Verstand eines kleinen Kindes, aber er ist kein Ungeheuer.«

»Wie kam es, dass er sich an diesem Tag im Wald aufhielt, war er oft dort draußen?«

»Sven liebt die Natur und er weiß, dass er auf den Wegen bleiben und sich vom Moor fernhalten muss«, antwortete Thiele. »Wissen Sie, ich bin den ganzen Tag in der Apotheke und meine Frau war damals schwer krank. Sie ist vor zwei Jahren gestorben. Wir hatten jemanden, der auf ihn aufpasst, nur eben nicht rund um die Uhr. Aber wir konnten ihn doch nicht einfach einsperren. Er hat sich auch nie weiter als bis zum Bannsee von zu Hause entfernt. Er hat gewusst, dass wir das nicht wollen und er hat sich daran gehalten.«

»Das heißt, er war an diesem Tag im Wald?«

»Ich war nicht zu Hause, ich hatte zu tun. Aber ich sagte schon, er war viel da draußen unterwegs und wir hielten ihn auch nicht zurück.«

»Es wurde ein Kettchen bei ihm gefunden, das einem der Mädchen gehörte.«

»Es war ein Anhänger mit dem Symbol eines Schutzengels, Melanie war auf der Rückseite eingraviert. Die Eltern haben es erkannt. Aber Sven weiß nicht, woher er es hat. Er ist ein Sammler, er sammelt alles, was er auf dem Weg findet. Vom Kronkorken bis zu glitzernden Steinen. Vor allem, wenn es glänzt. Das sind seine Schätze, verstehen Sie. Ich habe einmal den Fehler begangen, als er mit zwei Kronkorken und einer verbeulten Getränkedose nach Hause kam, und ihm die Sachen weggenommen. Deswegen hat er alles vor mir versteckt. Wie er zu dem Kettchen kam, kann ich nicht sagen.«

»Ich denke, Ihr Sohn hat die Polizisten in den Wald geführt und gezeigt, wo er das Kettchen fand?«

»Sie haben ihn unter Druck gesetzt. Ich kenne meinen Sohn. Er hätte alles getan, was sie von ihm verlangten. Ich würde aber nicht darauf wetten, dass es tatsächlich die Stelle war, an der die Kette lag.«

»Hat man Sie jemals mit dem Vorwurf konfrontiert, an der Tat beteiligt gewesen zu sein? – Zumindest beim Verstecken der Opfer, denn dazu wäre Sven wohl alleine nicht in der Lage gewesen, oder?«

»Ich sagte doch, den Vorwurf selbst hat man nie ausgesprochen, immer nur angedeutet, aber er war deutlich zu spüren. Auch im Dorf hat man mich geschnitten, Sie glauben gar nicht, wie das ist.«

Rudolf Thiele schlug die Hände vor das Gesicht. Für einen kurzen Augenblick schwieg er, ehe er sich wieder aufraffte und weitererzählte. »Jahrelang leben Sie mit den Menschen in einem Ort zusammen und plötzlich wird man ausgestoßen, nur weil die Behörden einen Erfolg vorweisen müssen. Niemand redet mehr mit einem, sie wenden ihre Blicke ab und schauen zu Boden. Es ist die Hölle.«

»Warum sind Sie nicht weggezogen?«

»In Tennweide steht mein Haus, in Tennweide wurde ich geboren und dort bin ich aufgewachsen«, konterte der Apotheker. »Ich werfe nicht die Flinte ins Korn. Ich lasse mich nicht so einfach vertreiben. Tennweide ist zwar nicht der Nabel der Welt, aber es ist meine Heimat.«

»Ich verstehe«, antwortete Justin. »Und wie ist das Verhältnis heute?«

Der Apotheker zeigte auf die Tür. »Die Menschen in Tennweide sind mir inzwischen egal. Ich bin die meiste Zeit hier in meiner Apotheke. Und die Leute kommen jetzt wieder. Damals war ich schon kurz davor, schließen zu müssen. Wenn die Feriengäste nicht gewesen wären, hätte ich keine andere Wahl gehabt. Es war eine lange Durststrecke und dann starb auch noch meine Frau. Sie hatte eine Lebensversicherung. Ich konnte meine Apotheke retten und für Sven ein anständiges Pflegeheim finden. Im Dorf konnte er nicht mehr bleiben.«

»Sie haben sicherlich gehört, dass eines der Mädchen vor ein paar Tagen in der Nähe der dänischen Grenze wieder auftauchte. Sie wurde möglicherweise aus einem fahrenden Wagen geworfen. Können Sie sich einen Reim darauf machen?«

Rudolf Thiele schüttelte den Kopf. »Ich habe davon gehört, nur: Ich will nicht, dass sich das Ganze deshalb jetzt wiederholt. Die Polizei soll die Mörder endlich zur Strecke bringen, damit ein für alle Mal Ruhe herrscht. Sie können mir glauben, wenn einmal so ein Gerücht die Runde macht, dann wird man diesen Makel nie mehr los. Es sei denn, das Verbrechen wird endlich restlos aufgeklärt.«

»Ich verstehe.« Justin packte seinen Block ein. »Wäre es möglich, mit Ihrem Sohn zu sprechen?«

Der Apotheker hob abwehrend die Hand. »Nein, das auf keinen Fall. Sven hat die Sache damals stark mitgenommen. Ich bin froh, dass er einigermaßen darüber hinweg ist.«

»Danke, Herr Thiele, Sie haben mir sehr geholfen.«

Der Apotheker reichte Justin die Hand. »Bitte, und schreiben Sie, dass wir nichts, rein gar nichts mit der Sache zu tun haben und jeden Tag dafür beten, dass die Verbrecher endlich gefasst werden.«

»Das werde ich tun«, sagte er und folgte dem Apotheker zur Tür.

Als Justin Belfort in seinen Wagen stieg, den er auf dem Parkplatz der Apotheke abgestellt hatte, befiel ihn das eigenartige Gefühl, dass er beobachtet wurde. Er blickte sich um, doch außer zwei Radwanderern, die gegenüber der Apotheke standen und eine Straßenkarte studierten, war niemand zu sehen. Justin schüttelte das bedrückende Gefühl ab und ließ sich in seinen Fahrersitz fallen. Kurz blickte er in den Rückspiegel, doch die Straße war frei. Er schnallte sich an und startete den Wagen.

*

Trevisan zog sich in sein Büro zurück und holte sein Notizbuch aus der Schreibtischschublade. Er blätterte, bis er auf die Nummer der Kommissarin Holt von der Polizei in Arhus stieß. Bedächtig wählte er die Telefonnummer, nachdem er einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte. Es dauerte eine Weile, bis sich Kristina Holt meldete.

»Hallo, hier ist Martin Trevisan aus Deutschland.«

»Hallo, Martin, wie geht es dir«, antwortete die dänische Kollegin, die er kennengelernt hatte, als er gegen den Sektenführer ermittelt hatte.

»Den Umständen entsprechend«, antwortete Trevisan. »Ich bin derzeit beim Landeskriminalamt in Hannover, nachdem es mich erwischt hat.«

»Was heißt erwischt?«, fragte Kommissarin Holt.

Trevisan erzählte ihr seine Geschichte. Schließlich hatte er ihr sein Leben zu verdanken, nachdem der Mann damals versucht hatte, Paula und ihn zu töten.

»Das tut mir leid. Ich hoffe, dass es deiner Tochter bald wieder besser geht. Und natürlich auch dir.«

Trevisan nickte. »Ich komme eigentlich schon wieder ganz gut zurecht. – Ich habe da eine Sache, wo ich deine Hilfe bräuchte. Es geht um eine Geschichte, die schon ein paar Jahre zurückliegt. Wir suchen einen alten weißen VW-Bus, ich denke, ein T3- oder T4-Modell, mit einem dänischen Kennzeichen. Möglicherweise wurden zwei deutsche Mädchen hier in der Nähe von Hannover entführt und nach Dänemark verschleppt. Es könnte eine Rockerbande dahinterstecken, die kürzlich bei Padborg verhaftet wurde.«

»Padborg«, wiederholte Holt. »Das ist im Grenzland, da ist das Polizeiamt in Esbjerg zuständig. Hast du Details?«

»Ich würde sie dir zusenden, außerdem noch das Teilkennzeichen. Es ist, wie gesagt, schon eine Weile her.«

»Martin, du weißt, für meine Freunde tue ich, was ich kann. Schick es mir per E-Mail, meine Adresse hast du ja bestimmt noch. Ich rufe dich zurück, sobald ich ein Ergebnis habe. Und grüße Paula von mir, wünsch ihr alles Gute. Sie muss einfach stark sein.«

»Ich weiß, aber das Gefühl spielt unserem Verstand allzu oft einen Streich, und schon gerät man aus dem Gleichgewicht.«

»Ich weiß, aber trotzdem alles Gute und vielleicht sehen wir uns bald einmal wieder.«

»Möglicherweise schneller, als du denkst«, antwortete Trevisan. »Dann lade ich dich auf einen Kaffee ein.«

»Ich nehme dich beim Wort.«

Trevisan ging zurück zu Lisa, die vor dem Computer saß und einen ersten Entwurf eines Fahndungsplakates erstellt hatte.

»Was hältst du davon?«, fragte sie.

»Sieht gar nicht schlecht aus, nur die Fotos sollten noch ein klein wenig größer sein. Ich will, dass die Leute in die Augen der Mädchen sehen, das macht Eindruck.«

»Fotos größer, alles klar.« Lisa griff nach der Maus.

Trevisan legte seine Hand auf ihre Schulter. »Okay, lass gut sein, das reicht für heute. Es ist schon nach sechs, wir machen morgen weiter.«

Lisa schaute auf und lächelte ihn an. »Das ist gut. Ich dachte schon, ich versäume heute Abend das Konzert.«

»Du gehst ins Konzert?«

»Na ja, nicht direkt ein Konzert. Es ist eine Rockband. Mein Freund spielt dort Gitarre.«

Trevisan trat einen Schritt zur Seite. »Also dann, los geht’s, worauf wartest du noch.«

*

Nachdem Lisa das Büro verlassen hatte, setzte sich Trevisan noch einmal an seinen Schreibtisch. Aufmerksam blätterte er in den Akten. Schließlich rief er im Computer das Datenverwaltungsprogramm auf, das nun alle wichtigen Details enthielt. Im Startfenster wählte er die Spurenkarten an und blätterte Spur um Spur durch, geordnet nach objektiver Spur, wie Gegenstand, Fußabdruck oder DNA-Muster, oder subjektiver Spur, wie Zeugenvernehmungen oder Anhörungen. Insgesamt 344 Spuren und Hinweise waren erfasst. Manche dieser Spurenkarten waren mit einer Ergebnisnotiz versehen, bei anderen war das Ergebnis noch offen.

Angenommen, die Mädchen waren tatsächlich in einem Bus mit dänischem Kennzeichen entführt worden, dann würde der Fund des Rucksacks von Melanie Reubold an der A7 Richtung Norden sogar einen Sinn ergeben. Die dort gesicherte DNA-Spur war interessant. Er fragte sich, ob seine dänische Kollegin etwas damit anfangen konnte, denn möglicherweise waren die in Padborg verhafteten Rocker an der Entführung beteiligt gewesen. Eine Überprüfung schadete nicht, deswegen kopierte er den Befund und fügte ihn in die E-Mail an Kristina Holt ein. Die anderen erforderlichen Dokumente waren bereits in die Gesamtakte eingescannt, so hatte er es leichter. Als er auf senden drückte, dauerte es beinahe zehn Minuten, bis die Daten verschickt worden waren.

Er war hungrig, als er das LKA verließ und mit seinem Wagen nach Davenstedt fuhr. Zu Hause bereitete er sich eine Tiefkühlpizza zu, die er gerade aus dem Ofen holte, als das Telefon klingelte. Er nahm ab, Paula war am Apparat.

»Hallo, Liebes, wie geht es dir?«, fragte Trevisan erfreut.

»Gut, es geht mir gut, wirklich. Wir machen gerade Station, morgen in aller Frühe geht es weiter. Es ist herrlich hier. Die Landschaft, die Wiesen und die Natur … alles ist so friedlich, ganz anders als bei uns.«

»Das freut mich, dass du dich wohlfühlst, aber ich freue mich auch schon wieder darauf, dass du zurückkommst. Ich habe ein Eiscafé in der Innenstadt entdeckt, das Eis dort ist sagenhaft, da müssen wir unbedingt mal zusammen hingehen.«

»Ja, gerne, aber hier ist es auch toll. Schade, dass du nicht dabei bist.«

Trevisan unterhielt sich beinahe noch eine Stunde mit seiner Tochter, ehe Paula das Gespräch beendete. Von seinen Ermittlungen erzählte er nichts. Als er zurück in die Küche ging, fand er seine Pizza erkaltet vor. Nach dem ersten Bissen warf er den Rest in den Mülleimer. Das harte Toastbrot war keine schöne Alternative, aber was blieb ihm weiter übrig. Sein Magen knurrte, als er zu Bett ging. Draußen hatte es zu regnen begonnen.

Der Sohn des Apothekers

Подняться наверх