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Lisa Winter hatte sich einen zweiten Stuhl herangezogen und die Beine hochgelegt. Sie blickte lustlos auf ihren Computerbildschirm, doch als Trevisan ächzend und stöhnend den Gang entlangkam, bepackt mit dem Wäschekorb voller Akten, schaute sie interessiert auf.

»Da hat unser Teufelchen wohl etwas Ballast abgeladen und unseren Neuen mit reichlich Lesestoff eingedeckt«, bemerkte sie lakonisch. »Die Fälle der letzten hundert Jahre?«

»Irrtum, Kollegin, das sind die Akten zu unserem neuen Fall«, entgegnete Trevisan. »Prioritätsstufe eins.«

»Das ist ein Fall?« Sie erhob sich, umrundete ihren Schreibtisch und blieb vor dem Wäschekorb stehen.

»Was tun Sie eigentlich gerade?«

Lisa zuckte die Schultern. »Ich bin Lisa und ich werte Daten aus. So wie immer.«

»Und das heißt?«

»Ich gleiche Daten aus dem Pol-Info-System des BKA mit unserer landesweiten Vermisstendatei ab.«

Trevisan räusperte sich. »Gut, schon Erfolg gehabt?«

Lisa schüttelte den Kopf. »In diesem Jahr noch nicht, aber im letzten Jahr konnte ich eine unbekannte Tote aus der Leine identifizieren.«

»Enorm«, antwortete Trevisan spöttisch »Dann wird das BKA ja noch eine Weile warten können. Wir kümmern uns ab sofort ausschließlich um diesen einen Fall. Gibt es hier so etwas wie einen Konferenzraum?«

Lisa wies den Flur hinunter. »Wir haben einen Soko-Raum am Ende des Flures. Wir nutzen ihn als Abstellraum.«

Trevisan bückte sich und drückte ihr zwei Ordner in die Hand. »Soko-Raum hört sich gut an.« Er wies mit dem Kopf den Flur hinunter. Lisa stapfte voraus und öffnete die Tür. Trevisan folgte ihr mit dem Wäschekorb.

Der Raum erinnerte ihn an das Konferenzzimmer in Wilhelmshaven. Zwei große Pinnwände standen an der Stirnseite, daneben eine Tafel. In der Mitte befand sich ein langer Tisch mit heller Arbeitsfläche, umringt von Stühlen. Zehn zählte Trevisan. Mitten auf dem Tisch standen mehrere Telefone und an der Wand gegenüber der Fensterreihe hingen Karten von Deutschland, Niedersachsen und aus der Region. Es gab zwei voll ausgestattete Computertische und einen Regalschrank. Standardausstattung für Räume, in denen Sonderkommissionen arbeiteten.

»Genau das, was wir für unsere Ermittlungen brauchen«, sagte Trevisan und platzierte den Wäschekorb auf dem Tisch. Dann nahm er Aktenordner nach Aktenordner heraus und stellte sie in den Regalschrank.

»Um was dreht es sich eigentlich in dem Fall?«, fragte Lisa, nachdem sie Trevisan eine Weile beobachtet hatte.

Er öffnete das Fenster, dann wies er auf einen Stuhl. Zögernd nahm Lisa Platz. Trevisan setzte sich neben sie und erzählte ihr, was er von Oberrat Engel über die verschwundenen Radfahrerinnen erfahren hatte.

Am Ende schluckte Lisa und schaute Trevisan mit großen Augen skeptisch an. »Und wir sollen die Ermittlungen führen?«

»Ja, genau, das werden wir in den nächsten Tagen und Wochen tun«, antwortete Trevisan bestimmt. »Und wenn wir eine Chance haben, dann werden wir den Fall auch lösen.«

»So etwas haben wir in dieser Abteilung noch nie gemacht. Das …«

»Wie lange bist du schon bei der Polizei?«

Lisa lächelte verlegen. »Ich bin seit acht Jahren hier. Direkt nach der Ausbildung. Sechs Jahre Kriminaltechnische Auswertung, dann zwei Jahre beim Lagezentrum. Seit letztem Jahr hier im Dezernat.«

»Du hast doch bestimmt schon einmal an einem Fall mitgearbeitet?«, fragte Trevisan.

»Ich war bei der daktyloskopischen Auswertung und später dann bei der DNA. Im Lagezentrum haben wir Mails und Berichte durch das ganze Land gesteuert.«

Trevisan legte den Kopf schräg und blickte ihr gedankenvoll ins Gesicht. »Also gut, wenn das so ist. Dann ist das eben unser erster Fall.«

»Und wo fangen wir an?«

Er deutete auf die Aktenordner. »Wir werden uns jetzt erst einmal in die Ermittlungsergebnisse der damaligen Sonderkommission einarbeiten. Wir sondieren das Material, legen eine Spurendatei an, sichten die Fotos und die Berichte und übertragen alles in den PC, damit wir einen schnellen Zugriff haben. Dann erstellen wir ein Tatortprofil, markieren und überprüfen die Route der beiden Mädchen und verfassen ein Schlagwortverzeichnis, für gezielte Recherchen. Wenn wir das alles eingerichtet haben, machen wir uns an die eigentliche Arbeit.«

»Das klingt aufregend … Ich habe so etwas noch nie gemacht«, stotterte Lisa.

»Aber ich, außerdem gibt es dazu Vorlagen.« Er schaute auf die Uhr. »Hast du heute noch etwas vor?«

Lisa zuckte mit der Schulter.

Trevisan erhob sich. »Das ist gut, ich ebenfalls nicht. Und richte dich in den nächsten Tagen darauf ein, dass wir ein paar Überstunden machen werden. Denn ohne wird es wohl nicht gehen, schätze ich.«

*

Der Grubhof von Bauer Tjaden lag am nördlichen Ende des Dorfes am Wiesenweg, der durch den angrenzenden Wald vorbei an den Mooren zum Bannsee führte. Dort hatte der Bauer damals die Fahrräder der verschollenen Mädchen aufgefunden. Justin Belfort lenkte seinen Wagen von der Straße in das weitläufige Gehöft und hielt an. Ein schwarzer Mischlingshund an der Kette vollführte lauthals bellend wilde Kapriolen vor seiner Hütte. Justin schaute sich um. Niemand war zu sehen, doch aus einer offenen Scheunentür drang das ohrenbetäubende Kreischen einer Kreissäge.

Justin ging auf die Scheune zu, in der zwei Männer, ein junger und ein älterer, damit beschäftigt waren, Meterstücke Holz zu zersägen. Als der Jüngere, Justin schätzte ihn auf knapp zwanzig, ihn sah, gab er dem alten Mann in blauer Arbeitskluft ein Zeichen, doch der ließ sich nicht beirren. Erneut fegte das laute Jaulen der Säge über den Hof und erst, als das Holz zersägt war, schaltete der Alte sie aus und wandte sich zu Justin um.

»Ja?«

»Sind Sie der Besitzer dieses Hofes, Herr Tjaden?«, fragte Justin.

»Ganz recht.« Er wandte sich seinem jungen Gehilfen zu. »Bring die Stücke in das Lager, du kannst schon den Spalter richten.«

Der junge Mann nickte kurz und verschwand durch eine Seitentür.

»Was wollen Sie?«, fragte Tjaden mürrisch.

»Mein Name ist Justin Belfort, ich arbeite für das Direkt-Magazin und will mit Ihnen reden.«

Der Mann in blauer Arbeitskluft zeigte überrascht auf die eigene Brust. »Mit mir? Warum das?«

»Es geht um die Geschichte der verschwundenen Radfahrerinnen«, erklärte Justin. »Meinen Informationen nach haben Sie damals in der Nähe des Bannsees die Räder entdeckt.«

»Kann schon sein.«

»Haben Sie schon gehört, dass eines der Mädchen wieder aufgetaucht ist?« Justin holte einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche.

Tjaden zuckte mit der Schulter. »Meinetwegen.«

Justin stutzte. »Es muss Sie doch interessieren, schließlich waren Sie damals auch irgendwie an dem Fall beteiligt.«

Tjaden, Justin schätzte ihn auf etwa sechzig, machte einen Schritt auf ihn zu. »Hören Sie, damals tauchten reihenweise Reporter hier auf meinem Hof auf und brachten alles nur durcheinander. Jeder wollte wissen, was ich gesehen habe und ob ich etwas Verdächtiges bemerkt hätte. Sogar mitten in der Nacht klingelten sie an meiner Tür. Man kam gar nicht zur Ruhe. Und am Ende nannten die Zeitungen unseren Ort das Dorf des Grauens. Ich habe keine Lust mehr auf den Zinnober. Ich bin mit dem Trecker einfach nur einen Weg entlanggefahren, da lagen zwei Räder im Gebüsch. Ich habe den Polizisten in Mardorf Bescheid gegeben und mehr war da nicht. Ich wusste nicht einmal, dass da ein paar Mädchen verschwunden waren, ich dachte, da hat jemand seinen Müll in meinen Wald geworfen, und das kann man sich doch nicht bieten lassen.«

»Und Sie haben niemanden dort draußen bemerkt?«

»Ich bin noch nicht mal vom Trecker abgestiegen. Ich habe der Polizei den Weg beschrieben. Erst einen Tag später erfuhr ich davon, dass da jemand verschwunden sein soll. Das habe ich damals zu Protokoll gegeben und jetzt geht es wieder von vorne los. Sie sind schon der Vierte, der hier bei mir auftaucht und wieder die gleichen Fragen stellt wie damals. Ich will meine Ruhe haben, das ist doch nicht zu viel verlangt.«

Justin nickte. »Das kann ich verstehen. Aber Sie müssen doch zugeben, dass es ungewöhnlich ist, dass hier zwei Mädchen vor drei Jahren verschwanden und nun eines davon bei Flensburg wieder auftaucht.«

»Das geht mich nichts an, fragen Sie doch das Mädchen.«

Justin überging Tjadens Antwort. »Damals fand eine große Suchaktion statt. Haben Sie auch mitgeholfen?«

Tjaden schüttelte den Kopf. »Keine Zeit, war im Sommer zur Erntezeit.«

Justin Belfort zeigte auf den jungen Mann, der wieder aufgetaucht war und die gesägten Holzstücke zusammensammelte. »Und er, wohl ihr Sohn, hat er bei der Suche geholfen?«

»Ist mein Enkel. Der wohnt in Eckernförde. Hauke ist nur ab und zu hier, wenn Semesterferien sind. Studiert in Kiel und will Meeresbiologe werden.«

Justin schaute sich um. »Das ist ein großer Hof, Sie haben doch sicher jemanden, der hier Ihnen hilft?«

»Meine Frau und ich.«

»War Ihr Enkel damals auch hier auf dem Hof, als es passierte?«

»Nein, damals ist mir der Robert zur Hand gegangen. Ist aber gestorben. Letztes Frühjahr. Verdammter Krebs.«

Justin Belfort notierte Tjadens Angaben in seinem Notizbuch. »Robert?«, fragte er neugierig nach.

»Ja, Krauthoff hieß er. Ist aus dem Dorf, war alleine und hat früher mal als Schreiner gearbeitet. Hat gut mit angepackt und war ein ganz feiner Kerl. Aber ist ja nun nicht mehr. War Mitte fünfzig, noch kein Alter zum Sterben.«

»Ja, Sie haben recht, ist noch kein Alter zum Sterben. Gibt es sonst noch jemanden, der mir etwas über das Verschwinden der Mädchen sagen kann?«

»Unseren Dorfpolizisten können Sie fragen, der wohnt hier in Tennweide. Da war ganz schön was los. Sogar der Hubschrauber ist stundenlang über den Feldern und dem Wald gekreist.«

Justin Belfort schmunzelte, als er an die unschöne Begegnung vorhin dachte. »Mitte fünfzig, graue Haare und etwa einen Kopf größer als ich?«

Tjaden kratzte sich am Kinn. »Muss er wohl sein, fährt oft hier im Dorf Streife und er verscheucht das Ungeziefer.« Der Bauer grinste provokant.

»Es ist nicht alles Ungeziefer, was sich für das damalige Geschehen interessiert«, widersprach Justin.

»Aber die meisten interessieren sich gar nicht für die Geschichte der Mädchen, die wollen doch nur Geld verdienen und die Auflagen steigern. Sie drehen dir das Wort im Mund herum. Da war so einer, Anfang der Woche, wenn der nicht gegangen wäre, hätte ich Hasso auf ihn gehetzt.«

Justin warf dem gefährlich dreinblickenden Mischlingshund einen Blick zu und zwinkerte mit dem Auge. »Da bin ich ja froh, dass Sie mich ein klein wenig besser leiden können.«

»Kann ich gar nicht, aber ihr seid wie die Kartoffelkäfer, kommt immer wieder, solange es noch was zu beißen gibt. Da sag ich lieber gleich, was ich weiß, dann seid ihr zufrieden und ich hab meine Ruhe.«

»Eine Frage hätte ich noch«, sagte Justin. »Gab es damals, als die Mädchen verschwanden, viele Touristen in der Gegend?«

»Da war schon Spätsommer, ein paar Touristen waren wohl noch da, aber die sind meistens am See, der ist in der anderen Richtung.«

»Ich hörte, dass es damals eine Festnahme gab, ein Junge aus dem Dorf. Aber er wurde nach kurzer Zeit wieder freigelassen.«

Tjaden nickte eifrig. »Ja, der Sven. Aber der war es nicht, der hat nur was gefunden, das einem der Mädchen gehörte. Der ist ein bisschen bekloppt, aber der tut niemandem was. Ich hab gleich gesagt, so ein Blödsinn, zu glauben, der hätte was damit zu tun. Der ist lammfromm. Trieb sich damals oft im Wald herum und hat dort gespielt, aber ein Mörder ist das nicht, das ist klar.«

»Lebt Sven noch hier im Ort?«

Tjaden schüttelte den Kopf. »Ist jetzt im Heim. Sein Vater ist Apotheker in Mardorf, der wohnt noch hier.«

Justin Belfort bedankte sich. Seine Recherchen hatten ergeben, dass Sven Thiele seit dem Vorfall in der geschlossenen Pflegeanstalt der Psychiatrischen Klinik Langenhagen lebte und Rudolf Thiele nach wie vor in Tennweide wohnte. Justin schickte sich an, zu seinem Wagen zu gehen, wandte sich aber noch einmal um. »Können Sie mir genau sagen, wo Sie die Fahrräder damals gefunden haben?«

Bauer Tjaden zeigte in Richtung des Waldes.

»Moment, ich habe eine Karte im Wagen.« Justin eilte zu seinem Audi. Der alte Mann folgte ihm. Als Justin die Radwanderkarte auf der Motorhaube auseinandergefaltet hatte, beugte sich Tjaden darüber. Nach kurzer Suche fand er Tennweide und den Wiesenweg, den er mit seinem Finger entlangfuhr, bis kurz vor dem Bannsee ein kleiner Weg nach rechts abzweigte. »Hier, etwa einhundert Meter nach der Abzweigung. Der Wald gehört mir. Da steht ein Gebüsch. Hagebutten sind das. Darin lagen die Räder, aber man konnte sie gut sehen.«

»Also wurden sie nicht versteckt«, murmelte Justin.

»Weiß ich nicht.«

»Sie sagen, man konnte sie sehen, also sind sie nicht versteckt worden, oder derjenige, der sie dort hingebracht hat, wurde gestört.«

»Gestört, wie meinen Sie das?«

»Spaziergänger, Waldarbeiter oder …«

Der alte Mann kratzte sich am Kopf. »Jetzt, wo Sie das sagen«, brummte er.

»Was?«

»Damals war ich jeden Tag da draußen, da hatte ich eine Aufforstung, die zu reinigen war. Die ganze Woche bin ich rausgefahren. In der Frühe raus und dann, wenn es dunkel wurde, wieder zurück.«

»Die Mädchen verschwanden am Mittwoch, das war der 29. September 1999.«

»Kann gut gewesen sein, genau weiß ich das nicht mehr. Aber Ende September wird es wohl so um die neun Uhr dunkel.«

Justin machte Notizen in seinem Notizbuch. »Sehen Sie, jetzt haben wir doch noch etwas herausgefunden, was für den Fall vielleicht wichtig ist.«

Tjaden wirkte ein wenig erschrocken. »Da bin ich vielleicht vorbeigefahren und hinter dem Gebüsch war der Mörder, was? Mein Gott, was da hätte alles passieren können.«

»Vielleicht«, bestätigte Justin Belfort, raffte seine Karte zusammen und verabschiedete sich.

Vom Grubhof fuhr er die gesperrte Straße zum Bannsee entlang bis zu der Feldwegabzweigung, die ihm Bauer Tjaden auf der Karte gezeigt hatte. Der Weg war derart zugewuchert, dass er seinen Wagen stehen lassen musste. Zu Fuß ging er weiter, bis er an das beschriebene Hagebuttengebüsch kam, das sich am Weg entlangrankte. Er suchte es ab, doch mehr als eine weggeworfene Bierflasche, eine alte Plastiktüte und einen leeren Tetrapack fand er nicht. Sicherlich hatte damals die Polizei das Gebüsch und den angrenzenden Wald ohnehin akribisch untersucht. Er machte ein paar Fotos und setzte seinen Weg fort, der ihn zum nahegelegenen Campingplatz führte.

Eine Frau mittleren Alters empfing ihn im Büro, doch als er nach den verschwundenen Mädchen fragte, brach sie das Gespräch unwirsch ab. »Nicht schon wieder …! – Ich habe den Platz vor zwei Jahren übernommen. Der Vorgänger ist verstorben, da werden Sie kein Glück haben.«

Als Justin nach Tennweide zurückkehrte und seinen Audi vor dem Klosterkrug parkte, fielen ihm zwei Wagen auf, die mitten auf dem Kirchplatz standen. Drei junge Männer lehnten an dem einen, einem schwarzen Golf. Jeder hatte eine Bierflasche in der Hand. Im anderen Wagen, einem blauen Honda, saßen zwei Mädchen. Justin schätzte alle fünf auf Anfang zwanzig. Wohl die Dorfjugend, die sich hier versammelte.

Im Klosterkrug lief ihm die Wirtin über den Weg. »Na, hatten Sie Erfolg?«, fragte sie spitz.

»Erfolg?«

Die Wirtin zeigte auf den Fotoapparat. »Haben Sie schöne Bilder gemacht?«

»Ach so«, antwortete Justin. »Ja, sicher.«

Der Sohn des Apothekers

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