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Vorbemerkung

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Wurm bedeutet Schlange, ein Tatzelwurm ist demnach eine Schlange mit Beinen, die in den Alpen seit mindestens 500 Jahren gesehen wird – und zwar im gesamten Alpenraum, von den französischen Seealpen im Westen bis Slowenien im Osten. Heute ist er, zumindest im deutschsprachigen Raum, kaum mehr als eine folkloristische Reminiszenz, und doch war der Tatzelwurm in früheren Zeiten eine echte Gefahr für Bergbauern und Wanderer – und bedrohte sogar Seefahrer auf ihren Schiffen. Das große Reptil stürzte sich mit einem kühnen Sprung auf Menschen und spie sie mit seinem giftigen Atem an, gegen den es kein Mittel gab.

Vom Tatzelwurm – oder, je nach Region, Springwurm, Schmeckwurm, Stollenwurm (von den winzigen, stollenartigen Füßen), Haselwurm, Beißwurm, Bergstutz oder Bergstutzen, von Bisamkatze und Murbl, im Ennstal Büffel, in Kärnten Kuschka oder Kuschker, in Italien Serpentegatto bzw. Serpengatto, Aspide, Basilisco oder Aspidosordo und im Slawischen, wie die Hornnatter auch, Poskok (Springer) – wird oft erzählt.

Kryptozoologen, die sich mit unentdeckten Tieren befassen, sehen in ihm einen sogenannten Kryptiden, ein wissenschaftlich noch nicht erfasstes und bestimmtes, aber reales Tier. Mehrere dieser Forscher haben ein Phantombild des Alpendrachen erstellt: Er soll, so Gerhard Venzmer 1930, „etwa einen halben bis einen Meter lang sein, mit rundlichem Kopf, abgestutztem Schwanz und kurzen Füßen, so dick wie etwa ein Mannesarm oder Mannesschenkel, die Haut silbergrau glänzend oder scheckig, bald beschuppt, bald mit spärlichen Haaren bedeckt. [Es] wird von allen, die den ‚Springwurm‘ gesehen haben wollen, einmütig von dem Vermögen des Tieres, durchdringend zu pfeifen, berichtet.“1

Man schildere, meint der Jurist und Schriftsteller Albert von Drasenovich 1927, ihn immer gleich: „dicker, schlangenrunder, grünlicher bis schwarzbrauner, mit Schuppen und spärlichen Borsten besetzter Leib, zwei oder vier kurze Füße (Stollen), kurzer Stummelschwanz, breiter Kopf, großes Maul, feurige Augen, angriffslustiges oder doch wehrhaftes Benehmen.“2

Und Dr. Karl Meusburger, einer der eifrigsten Sammler von Begegnungen mit Tatzelwürmern, stellte 1931 im „Schlern“ fest, die „je nach der Gegend verschiedenen Namen für ein und dasselbe Tier besagen uns, daß die Kunde vom Tatzelwurm weit verbreitet ist und daß unsere […] Gewährsmänner nicht die ersten waren, die ein solches Tier zu Gesicht bekamen, oder wenigstens behaupten, es gesehen zu haben“.3

Grundlage dieses Buches sind rund 430 Augenzeugenberichte, der letzte aus dem Jahr 2015. Bei ihrer Lektüre wird klar, dass nicht immer dasselbe Tier beschrieben ist – mal hat der Tatzelwurm den Kopf einer Schlange, mal den einer Katze, mal zwei, dann mehr Füße, mal ist die Haut glatt, dann wieder schuppig. Mal ist er scheu, mal aggressiv, mal giftig, mal wird sein Genuss empfohlen. Er ist eine Eidechse, eine Schlange, hat Flügel, acht Beine – kurz: Er zeigt sich in mancherlei Form.

Da der Tatzelwurm viele Namen trägt und viele Formen hat, gelten in diesem Buch alle nicht als einheimische Schlangen und Eidechsen identifizierbaren, in den Alpen beobachteten Reptilien als Tatzelwürmer – und natürlich all jene Tiere, die von ihren Beobachtern selbst als Tatzelwurm erkannt und bezeichnet wurden.

Das Wort Tatzelwurm ruft leicht ein Lächeln hervor, der grausige Tatzelwurm ist eher ein Scherz denn eine Realität, und doch begleitet die Suche nach dem Wurm die Geschichte der Erforschung und Erschließung der Alpen – und sie ist noch nicht vorbei. Ähnlich wie beim Yeti, dem Schneemenschen des Himalaya, dem Bigfoot im nordamerikanischen Kaskadengebirge und Nessie, dem Ungeheuer von Loch Ness, hat man es mit einem Tier zu tun, das zwar gesehen, nicht aber wissenschaftlich belegt werden kann. Liest man die Berichte der Augenzeugen, meint man, der Tatzelwurm sei ein noch unerforschtes Tier, aber der Mangel an Beweisen macht aus ihm – vorerst zumindest noch – ein Tier der Sage.

Denn wie immer die zoologischen Fakten hinter der Tatzelwurmsage aussehen, er ist eine kulturelle Tatsache, die Beachtung verdient. Moderne Zoologen halten das Tier für ein mythologisches Konstrukt, und auch ich will mich dem Phänomen nicht kryptozoologisch nähern (auch wenn das eine Rolle spielen wird), sondern vor allem mit dem Handwerkszeug des Historikers – wo und wann wurde etwas gesehen, wer hat wann an was geglaubt? Das Ergebnis ist nicht nur eine aufregende zoologische Schnitzeljagd, sondern vermittelt zudem Einblicke in Glaubens- und Lebenswelten, die heute bereits in vielen Regionen verschwunden sind.

Einige abschließende Bemerkungen noch: Redaktionelle Einschiebungen in die Originaltexte sind stets mit eckigen Klammern gekennzeichnet. Einfügungen in runden Klammern stehen so im zitierten Text. Die Übersetzung aller fremdsprachigen Berichte stammt vom Autor.

Ein schwieriges Gebiet war die Geografie: Ortsnamen und Zugehörigkeiten sind im Laufe der Zeit wandelbar, im Alpenraum vielleicht noch mehr als anderswo in Europa. Was heute Österreich heißt, war früher das Habsburgerreich, zu dem unter anderem auch die Lombardei gehörte, und bis 1919 auch Südtirol und das Trentino. Die in diesem Buch verwendeten Staatsgrenzen sind stets die heutigen. Südtiroler Ortsnamen hat der Verlag immer in ihrer deutschen Form eingesetzt, selbst dort, wo in den Quellen politische Zwänge zur Verwendung der italienischen Entsprechungen geführt hatten.

Der Tatzelwurm

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