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Was die Sagen sagen…

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Aus unbestimmter Zeit raunen die Sagen, auch wenn man mittlerweile weiß, dass sie mehr über die Zeit erzählen, in der sie aufgezeichnet wurden, als über die graue Vorzeit, von der sie berichten. Drachensagen trifft man im Alpengebiet fast überall an: „Man hat und zeigt Drachenlöcher, Drachensteine, Drachenklammen und Drachenböden. Diese und der Drachensee [auf dem Mieminger-Hochgebirge] sind die unzerstörbaren Dokumente der Drachensagen und des Glaubens einstigen Vorhandenseins dieser Ungethüme, wozu die Drachenhöhle bei der Sill zu Wilten gehört. Endlich die Drachenzunge, welche im Kloster Wilten aufbewahrt wird, sollte über das einstige vorhandensein [sic] keinen Zweifel übrig lassen“, merkt Ritter Johann Nepomuk von Alpenburg in seinem Buch „Mythen und Sagen Tirols“ aus dem Jahr 1857 ironisch an.9

Nach Alpenburg habe der typische Tiroler Drache einen Schlangen- oder Hundekopf, kurze Ohren, einen langen Hals und einen gedrungenen Körper mit langem Schwanz, dazu vier Füße mit Tatzen, und er hause bevorzugt in Höhlen neben fließendem Wasser.10

Von Drachen wird im ganzen Alpenraum erzählt: Man kannte ihn im Eisacktal in Südtirol,11 am Silumer Berg, in Triesenberg und vom Oberfeld bei Mels in Liechtenstein, wo die schuppigen Ungetüme in einer Höhle, in der Nähe der Kirche und in Sümpfen aufzufinden waren,12 in Kärnten ebenso wie in Bayern.

Geschichten, die man von Drachen erzählte, dienten vielen verschiedenen Zwecken – sie mythologisierten die Christianisierung und die Ausrottung des Heidentums (schon in der Genesis gilt die Schlange als Verkörperung des Teufels), sie kündeten von der Urbarmachung des Landes (und daraus abgeleitet dem Anspruch auf den Besitz des Landes durch den Ortsadeligen), sie erzählten von Naturphänomenen wie Lawinen, Erdrutschen, Überflutungen und Gewittern, sie konnten selbst Viehseuchen mit dem Pesthauch eines Untiers verständlich machen.

Erzählen die Menschen der Alpen von Drachen, dann datieren sie die Ungetüme oft in die Zeit zurück, in der ihre Region zum Christentum bekehrt wurde. Als teuflische Kreatur, die vertrieben wird, damit das Land christlich werden kann, begegnet uns der Drache in der Legende vom heiligen Beatus. Der vertrieb ein Untier an der Beatushöhle am Thunersee (Schweiz), das in seiner Einsiedlerhöhle hauste, indem er es zu gehen bat.13 Beatus befuhr den See auf seinem Mantel, dasselbe hören wir vom heiligen Julius vom Ortasee, der dann ebenfalls die Drachen von einer Insel vertrieb, bevor er sich dort niederließ.14 Im 5. Jahrhundert bedrohte der Sumpfdrache von Draguignan (Frankreich) die Pilger auf ihrem Weg zum Kloster Lerins, der heilige Einsiedler Hermentaire – er wurde später der erste Bischof von Antibes – erschlug darauf das Monstrum. Im 7. Jahrhundert wurde der heilige Abt Magnus bei Kempten in Bayern „von einer riesigen Schlange“ angegriffen. Er aber überwand sie durch Gebet und einen wundertätigen Stab. „Später habe ihm auf dem Wege nach Füßen [Füssen] wieder ein Drache den Weg versperrt; diesmal sei er aber voll Gottvertrauen selbst zum Angriff übergegangen, er habe ihm Harz und Pech in den drohend aufgesperrten Rachen geworfen […], daraufhin habe der Drache angefangen zu brennen.“15 Das ist wohl die biblische Geschichte vom Drachenkampf des Propheten Daniel, allerdings aus dem Zweistromland ins Allgäu verlegt. Der Chronist Konrad von Scheyern (er starb 1245) bezeichnete die Gegend der bayerischen Aschauerklamm als „Drachenlager“;16 1273 erschlug ein gewisser Sulpicius Raimond aus Sulpice im Schweizer Jura ein Ungeheuer namens Le Serpent de St. Sulpice.17

In all diesen Geschichten verkörpert der Drache die Schlange, das Tier des Teufels, das überwunden wird, oft vom jeweiligen Ortsheiligen.

Manchmal gilt nicht der Heilige, dem die Kirche geweiht ist, als Drachenbezwinger, sondern ein Vorfahr des herrschenden Adeligen, oder die Geschichte vom Drachenkampf mythologisiert und erhöht ein authentisches historisches Ereignis. Diese alten Berichte halten sich selten mit Details auf, beispielsweise wie die Drachen ausgesehen haben. Wichtiger ist die Funktion des Drachentöters als örtlicher Heros. In seiner für uns ungewöhnlichen Kleinschreibung bemerkt der österreichische Volkskundler Franz Josef Vonbun (1824–1870) 1852:

„Man malt sich die drachen oder lintwürmer aus als ungeheure schlangen mit crocodilenrachen, zwei ungeheuren löwen- oder auch vogelfüssen (adlerklauen), mächtigen fledermausflügeln und einem stachlichen kamm, ähnlich der rückenflosse mancher grösserer fische, welche zu einer förmlichen schutzwaffe gegen raubfische wird. Von diesem ungeheuer berichtet Ulrich Campell († 1782) in seinem ersten buche rhätischer geschichte folgendes: ‚Das rhätische hochgebirg dient thieren der verschiedensten gattung zum aufenthalt. Unter den schädlichen und wilden nennen wir zuerst den drachen oder lintwurm, dessen Vaterland nach Plinius, Indien und Aethiopien sein soll. Einen lintwurm erlegte Struthahn von Winkelried [Ritter Heinrich von Winkelried, gestorben 1303], musste aber von dessen blute besprengt sterben.‘ Sehr bezeichnend ist, dass der alte ehrliche chronist den Schweizer Unterwaldner helden, der den 9. Juli 1386 durch seine todesmuthige aufopferung den sieg der Schweizer über Leopold von Oesterreich bei Sempach entschied, mit einem drachen kämpfen und durch dessen blut zu gründe gehen lässt.“18

Hier hat also die Sage einen historisch verbürgten Schlachtensieg in einen mythologischen Drachenkampf umgedeutet. Die Nachrichten bleiben diffus, aber wir haben es in jedem Falle mit einer großen Schlange zu tun, die Füße hat und Flügel, die einem Krokodil ähnelt, in Steinwüsten, Seen oder Sümpfen haust, und die der Begegnung mit Menschen eher zum Opfer fällt, als dass sie sie überlebt.


Der Schweizer Ritter Heinrich von Winkelried bezwang in Unterwalden beim Dorf Wyler einen weithin gefürchteten Lindwurm. Stich nach Athanasius Kircher, 1678.

Drachen als Verkörperung einer Naturkatastrophe kommen häufig vor, insbesondere bei Überschwemmungen. So heißt es beispielsweise in einer Erzählung, die auf das Jahr 88 n. Chr. zurückdatiert wird:

„Alte Chroniken erzählen, wie [Bad] Goisern [Österreich] in der grauen Vorzeit eine große Stadt gewesen, die sieben Klöster, sechzehn Kirchen und einen Bischof gehabt habe. Nahe dabei auf dem Reichenstein war die Residenz der Könige, Goisernburg geheißen. Da befand sich aber auch ein Lindwurm, der eines Tages losgebrochen und so vieles Wasser mit sich gebracht, daß Land und Leute und die ganze Stadt verschüttet worden und gar elend zu Grunde giengen. […] Hernach hat es auf dem Wurmstein geheißen nach dem Lindwurm und heißt noch also, und das Wasser, so durch das Dorf rinnt, heißt bis heute der Wurmbach.“19

Nicht immer muss es einen konkreten Anlass für eine Drachenerzählung gegeben haben. Mittelalterliche Epiker flochten hin und wieder einen Drachenkampf in ihre Geschichten ein. In zwei zwischen 1280 und 1300 entstandenen Spielmannsdichtungen aus dem Sagenkreis um Dietrich von Bern, im „König Ortnit“ und dessen Fortsetzung „Wolfdietrich“, ist die Rede von Würmern am Ostufer des Gardasees. König Ortnit residiert mit seiner Gemahlin, der Königin Sidrat, in seiner Burg Garda. Er hatte sie dem Machorel von Syrien geraubt, und jener schickt zur Rache zwei Dracheneier, die bei Trient ausgebrütet werden; die Ungetüme verwüsten dann das Land. Der Drache ist hier ein Import aus dem exotischen Ausland, keine heimische Spezies.20

Generell ist der Drache der Sagen ein Tier aus ferner Vergangenheit, aber manchmal knüpft sich eine Drachenerzählung auch an konkrete Funde, etwa Fossilien. Eine solche Konkretisierung kann viele Formen annehmen, zuweilen will sie nur einen Ortsnamen erklärlich machen, ein anderes Mal wird auf noch sichtbare Überreste des Ungetüms angespielt. So wurde auf der Alm Mitterbach über Weißenbach in Südtirol ein ungeheurer Drache erschlagen, und nach seiner Tötung blieb eine seiner Rippen liegen, hinter der 100 Schafe Schatten fanden!21

Ab dem 19. Jahrhundert tauchen explizit auch Tatzelwurmsagen auf, die sich wenig von den echten Augenzeugenberichten unterscheiden. Sie spielen nicht im historischen Dunkel, sondern im Hier und Jetzt. So munkelt man im friaulischen Stolvizza, in der Höhle Grotta del Serpente verberge sich der Serpengatto, eine 20 Meter lange Schlange mit Fell und Katzenkopf, die das Land unsicher mache.22

Der Journalist und Schriftsteller Rudolf Freisauff von Neudegg

„schildert in seinen ‚Salzburger Sagen‘ den Tatzelwurm, oder wie er ihn nennt, den Bergstutz als ein giftiges, äußerst gefährliches Tier, das beim Angriff sich aufrichtet und pfeift. Seine Länge beträgt 3 bis 5 Fuß [90 cm bis 1,50 m], seine Dicke erreicht die eines Bierkrügels. Die Zahl der Füße wird mit zwei oder vier, manchmal sogar mit sechs angegeben. Der kurze Schwanz soll wie abgehackt ausschauen.“23

Schließlich erzählen Sagen aus dem Wallis von einer fliegenden Viper mit schuppigem Leib, die auf dem Kopf ein goldenes Krönlein mit einem kostbaren Edelstein trug. Tagsüber schlief sie, nachts flog sie „zischend und flammend wie ein Komet“ und drang in die Keller der Häuser ein, wo sie den Wein wegtrank.24

Der Tatzelwurm

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