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06. November 2016

Samstag, 08:35 Uhr

Hanno lag auf dem Rücken im Bett und starrte an die Decke seines Zimmers. Sein Mitbewohner Jonas, mit dem er sich schon seit Beginn der Oberstufe das Zimmer teilte, war mit Sicherheit schon auf seiner morgendlichen Joggingrunde. Er lief jeden Morgen um 06:30 seine 5 km - auch am Wochenende. Als sie beide in die elfte Klasse kamen, waren sie aus den Viererzimmern für die jüngeren Schüler in dieses Zimmer gezogen, das sie nur zu zweit bewohnten und in dem es eine kleine Küche und ein eigenes Bad gab. Dafür zahlten die Eltern eine Menge Geld jeden Monat. ‚Wenn die Eltern auch nur den blassesten Schimmer hätten, wofür sie hier in der noblen kirchlichen Privatschule so viel Geld bezahlten.‘ Hanno schnaubte verächtlich, als die Erinnerungen wieder hochkamen und wie ein Film vor seinem inneren Auge abliefen - seine Geschichtslehrerin, die ihm ungeniert in den Schritt fasste, die ihn immer wieder gezwungen hatte, sie an den Brüsten und ihrer Scheide zu massieren, obwohl es ihm einfach nur zuwider gewesen war. Was wohl sein Vater sagen würde, wenn er wüsste, was in dieser Schule vor sich ging? Wahrscheinlich wäre es ihm egal, so wie ihm sein Sohn überhaupt egal war. In den letzten Ferien - außer im Sommer, wo das Internat für sechs Wochen seine Pforten schloss - war Hanno hiergeblieben und gar nicht mehr nach Hause gefahren, an den Wochenenden fuhr er schon lange nicht mehr heim. Zu Hause war er bestenfalls ein geduldeter Gast und er fühlte sich wie ein Fremder. Seine Freunde waren hier und sobald er nächstes Jahr achtzehn würde, würde er sich hier in Hannover eine kleine Studentenbude nehmen. Seinen Vater würde er schon davon überzeugen, zumal selbst eine kleine Wohnung und sein Lebensunterhalt wesentlich kostengünstiger wären als die Unterbringung in diesem Internat. Es gab genug andere Externe, die hier in der Stadt bei ihren Eltern lebten und trotzdem die Internatsschule hier besuchten. Dann hätte er endlich seine Ruhe, denn seit den Geschehnissen vor ein paar Monaten fühlte er sich hier im Internat nicht mehr sicher. Er hatte sich niemandem anvertraut, mit wem hätte er auch sprechen sollen. Die Antweiler war ja Anfang des Schuljahres auch noch ins erweiterte Direktorat befördert worden - irgendeine neu geschaffene Funktion im Bereich Koordination. Ausgerechnet die, die es die Hälfte der Zeit nicht pünktlich zu ihrem Unterricht schaffte und die andere Hälfte völlig unvorbereitet war. Könnte wohl damit zusammenhängen, dass sie ein Verhältnis mit dem stellvertretenden Rektor hatte.

Hanno schüttelte entschlossen den Kopf, wie, um die negativen Gedanken zu vertreiben und schwang die Füße aus dem Bett. Er schüttelte die Decke und das Kissen auf, dann schnappte er sich ein T-Shirt und frische Unterwäsche aus dem Schrank und sprang kurz unter die Dusche. Heute Nachmittag hatte er mit seinem Team ein Heimspiel und danach hatte Tom ihn zum Pizzaessen und DVD schauen eingeladen.

Frisch geduscht packte er seine Sachen für das Spiel und legte noch Wechselkleidung und seinen Kulturbeutel mit in die Sporttasche. Tom hatte gesagt, er könne auch gerne über Nacht bleiben und er freute sich darauf. An den Wochenenden gab es bis halb zehn Frühstück und so entschloss er sich, noch schnell in die Mensa zu gehen und etwas zu essen. Mittagessen würde sowieso wegen des Spiels ausfallen, dafür gab es ja dann heute Abend Pizza.

Natürlich gab es im Speisesaal heute Morgen nur ein einziges Thema - den Mord an Monika Antweiler. Auch wenn natürlich niemand etwas gesehen hatte oder konkret wusste, kursierten die wildesten Gerüchte - von einer zerstückelten bis über eine gekreuzigte Leiche und Blutlachen, die unter der Tür hindurchgeflossen waren, war alles dabei. „Wer hat sie denn gefunden?“, fragte Hanno Pauline, die sich gerade zu ihm an den Tisch gesetzt hatte und Milch und Zucker in ihren Kaffee tat. Pauline rührte um, leckte den Löffel ab und legte ihn zur Seite. „Ausgerechnet der Kremer hat sie gefunden. Angeblich ist er rein zufällig am alten Bootshaus vorbeigekommen und hatte auch rein zufällig den Schlüssel in der Hosentasche. Also, wenn du mich fragst, dann sind das ein paar Zufälle zu viel.“ Hanno blickte sie überrascht an. „Meinst du, der hat was mit dem Mord zu tun?“ „Ne“, seine Schulfreundin schüttelte so entschieden mit dem Kopf, dass ihre dunklen Locken hin und her flogen. „Die hatten doch ein Verhältnis miteinander. Warum sollte er sie dann umbringen? Du erinnerst dich doch noch an die Studienfahrt im letzten Jahr, da konnten sie noch nicht einmal während des Ausfluges die Finger voneinander lassen.“ Hanno nickte. „Das stimmt allerdings, bleibt die Frage, wer ein Motiv hatte, sie umzubringen.“ „Wenn du mich fragst, wäre es einfacher, die Leute zu finden, die die Olle nicht gehasst haben“, Pauline verzog das Gesicht. „Die war schließlich echt nicht gerade everybody’s darling.“ Hanno traute sich kaum, seiner Schulfreundin in die Augen zu sehen. ‚Wusste sie mehr, als er dachte?‘ Einen kurzen Moment war er versucht, sich ihr anzuvertrauen, aber als sie fragte: „Was machst du eigentlich heute?“, verwarf er den Gedanken sofort wieder. „Um halb fünf habe ich ein Fußballspiel, danach gehe ich zu einem Kumpel aus der Mannschaft. Wir wollen Pizza essen und DVD gucken.“ „Schade“, Pauline wirkte ehrlich enttäuscht. Ihre Eltern lebten in den USA und sie hatte hier sonst niemanden. „Willst du nicht mit zum Spiel kommen?“, schlug Hanno vor. „Wir können Tom ja fragen, ob er etwas dagegen hat, wenn du auch mitkommst.“ „Das geht doch nicht“, wandte sie ein. „Fragen kostet nichts und Toms Mutter und Stiefvater sind echt schwer in Ordnung, glaub mir.“ „Na gut, dann komme ich auf jeden Fall zum Spiel“, Pauline grinste. Sie frühstückten zu Ende, ohne ein weiteres Wort über den Mord auf dem Schulgelände zu verlieren. Nach dem Frühstück setzten sie sich gemeinsam in Paulines Zimmer und machten die Aufgaben in den Fächern, die sie zusammen hatten. Sie lernten schon seit gut einem Jahr gemeinsam, Pauline, die in den USA aufgewachsen war, war ein As in Englisch und Spanisch und Hanno, der gut in Deutsch war, konnte ihr in dem Fach helfen.

Auch Tom saß am Frühstückstisch - mit seinen Eltern. Anna und Robert hatten versprochen heute Nachmittag mit ihm zum Spiel zu kommen, zumal sie ja auch Hanno mit zu sich nach Hause nehmen wollten. Auch wenn Robert zu Hause nicht gerne über die Arbeit sprach, so beschäftigte ihn der Mord von gestern doch über die Maßen. Es war weniger die enorme Brutalität des Täters, so etwas hatte er schließlich schon öfter gesehen, als das Gefühl, das ihn vom ersten Moment an in dieser Schule beschlichen hatte. Da war definitiv mehr als ein ganz normaler Mord, das war der blanke Hass und an dieser Schule ging irgendetwas vor, was sehr seltsam war. Er hatte gestern Abend im Bett noch mit Anna darüber gesprochen, und sie waren sich einig, dass sie Tom wenigstens mit einem Teil der Informationen versorgen wollten, zumal es ja schließlich um die Lehrerin seines Freundes ging, über die sie am Dienstag ja noch ausgiebig gesprochen hatten.

Tom aß den Rest von seinem Rührei und schob dann grinsend den Teller zurück. „So, jetzt kann der Tag beginnen.“ „Tom“, begann Robert und goss seinem Adoptivsohn noch einen Kaffee ein. „Wir waren gestern in der Schule von deinem Kumpel Hanno.“ Tom blickte erstaunt auf. „Was habt ihr denn da gemacht? Da gab es doch nicht etwa einen Mord?“ „Doch leider schon, und zwar genau die Lehrerin, die Hanno das Leben so schwermacht, beziehungsweise gemacht hat.“ „Du glaubst aber jetzt nicht, dass er irgendwas damit zu tun hat?“ „Nein, natürlich nicht. Ich wollte dir nur das Wichtigste dazu erzählen, bevor Hanno heute Abend zu uns kommt. Die Einzelheiten erspar ich dir nach dem Frühstück besser“, fügte er grinsend hinzu. Dann erzählte er, was sie gestern in der Schule vorgefunden hatten und schilderte seine ersten Eindrücke. Tom hörte aufmerksam zu und schnaufte dann. „Na prima, das scheint ja ein toller Laden zu sein. Willst du heute Abend mit Hanno drüber reden?“ „Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht. Vielleicht, wenn es sich ergibt. So, und jetzt auf - Tisch abräumen.“ Tom fügte sich seufzend in sein Schicksal und verzog sich danach in sein Zimmer.

Anna räumte in der Küche die Spülmaschine ein, als ihr Mann sie von hinten umfasste und sich anlehnte. Sie drehte sich überrascht um, er hob sie hoch und setzte sie auf die Arbeitsplatte. „Was bedrückt dich?“, wollte sie wissen. Sie kannte ihn inzwischen schon ganz gut, doch so wie in den letzten beiden Tagen hatte sie ihn noch nie erlebt. Er zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich weiß nicht so richtig, wie ich es beschreiben soll. Du hättest die Leiche dieser Lehrerin sehen sollen.“ „Ich glaube eher nicht“, Anna, die für Blutbäder absolut gar nichts übrighatte, schüttelte entschieden mit dem Kopf. „Ich weiß, aber es geht darum, wie der Täter sie zugerichtet hatte. Das sah für mich aus, als wenn der Täter seinem ganzen Hass freien Lauf gelassen hätte. Und dann dieser komische Direktor und der Lehrer, der das Opfer gefunden hat. Die waren nicht nur unsympathisch, sondern auch total skurril. So als ob sie etwas wüssten oder wenigstens ahnten, es aber mit Gewalt geheim halten wollten. Und dann ist mir das eingefallen, was Hanno letzte Woche hier angedeutet hat. Ich will wissen, was da vor sich geht und was die totschweigen.“ Er blickte seiner Frau in die grünen Augen und ließ seine Hände über ihre Schulter und ihren Rücken gleiten. Sie verschränkte die Arme in seinem Nacken und er küsste erst ihre Stirn und dann die Nasenspitze, bis sich ihre Lippen trafen. Sie schmeckte wie immer wunderbar. „Sorry, dass ich euch beim Knutschen störe“, kam Toms Stimme von der Küchentür. „Aber ich bin auch gleich wieder weg - nur schnell eine Flasche Wasser holen.“ Anna warf lachend den Spüllappen nach ihrem Sohn, der ihn behände auffing und zurückfeuerte. „Bin schon wieder weg, ihr könnt also beruhigt weitermachen“, lachte er und wich dem Lappen aus, der ein zweites Mal geflogen kam.

Bittere Vergeltung

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