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03. November 2016

Mittwoch, 16:20 Uhr

Tom hatte bis zur achten Stunde Schule gehabt und war gerade auf dem Heimweg. Heute Abend war Fußballtraining; vorher wollte er noch in der Stadt in dem neuen Sportgeschäft vorbei. Dort gab es einige sehr interessante Eröffnungsangebote, und er hatte seine Mutter Anna überzeugen können, dass er sich doch ganz nötig mal nach einem Paar neuer Fußballschuhe umsehen musste. „Hi Tom“, hörte er plötzlich eine bekannte Stimme hinter sich. Er drehte sich um und sah seinen Mannschaftskameraden Hanno aus dem Verein.

Hanno spielte mit Tom in derselben Mannschaft, kam aber eigentlich aus der Nähe von Frankfurt. Seit der Trennung seiner Eltern lebte er in Hannover im Internat. Seine Mutter war mit ihrem neuen Mann in die Staaten gegangen, für ihren Sohn war da kein Platz mehr in ihrem Leben gewesen. Sein Vater wollte ihn auch nicht bei sich haben und so besuchte Hanno seit fünf Jahren die kirchliche private Internatsschule am Rande Hannovers, die direkt an der Leine gelegen war. Es gab ein breites Kultur- und Sportangebot an der Schule - unter anderem Leichtathletik und Rudern, aber Hanno hatte sich für den TuS Kleefeld Hannover entschieden, in dem er vor drei Jahren Tom kennengelernt hatte, der nach dem Umzug mit seiner Mutter dort in den Verein gewechselt hatte. Die beiden Jungen waren schnell Freunde geworden, sahen sich aber meistens nur beim Training und zum Spiel. In den letzten Monaten wirkte Hanno jedoch oft still und bedrückt und Tom nahm sich vor, die Gelegenheit heute zu nutzen um mal mit ihm zu reden.

„Auch auf der Suche nach neuen Fußballschuhen?“ Hanno zog ein Paar schwarze Adidas Ace aus dem Regal. „Also die hier könnten mir schon gefallen“, er hielt Tom die Schuhe hin. „Du hast Recht, die sind echt cool. Gibt’s die auch in meiner Größe?“ „Was brauchst du denn?“ Tom legte den Kopf schräg. „Ich glaube 9 ⅔ oder so.“ „Probier die doch einfach mal, die sind immerhin um 30% reduziert.“ „Gute Idee“, die beiden Jungen hockten sich auf den Boden und probierten verschiedene Modelle und Größen, bis beide etwas gefunden hatten. Auf dem Weg zur Kasse fragte Tom: „Ist eigentlich alles ok mit dir? Du wirkst ein bisschen komisch in letzter Zeit.“ Sein Freund druckste ein wenig herum. „Naja, das ist eine lange Geschichte. Es läuft nicht so richtig in der Schule im Moment und ich will gar nicht drüber nachdenken, was passiert, wenn mein Vater die Nachricht bekommt, dass ich die erforderliche Punktezahl für die Abizulassung wahrscheinlich nicht schaffe. Auch wenn er sich sonst einen Dreck für mich interessiert, das wird ihn interessieren.“ Tom blickte ihn mitfühlend an. „Ist es echt so übel?“ Er überlegte einen Moment. „Komm doch einfach mit zu uns heute, wir können bei mir essen und dann zusammen zum Training gehen. Und dann erzählst du mir alles in Ruhe.“ Sein Freund schaute ihn überrascht an. „Geht das denn einfach so? Was sagen denn deine Mutter und dein Stiefvater dazu, wenn du einfach so jemanden zum Essen mit nach Hause bringst?“ „Mach dir da mal keine Gedanken, den beiden ist das völlig egal. Die sind da total tiefenentspannt. Komm ruhig mit, das geht schon in Ordnung.“

Die beiden Jungen bezahlten ihre Schuhe und gingen dann in Richtung der Reihenhaussiedlung, in die Tom vor knapp zwei Jahren mit seiner Mutter und seinem neuen Vater gezogen war.

„Hi Mum“, rief Tom, als die beiden den Flur betraten. „Ich habe noch einen Freund aus dem Fußballverein mitgebracht. Wir haben uns im Sportgeschäft getroffen.“ „Gut“, Anna kam in den Flur und streckte Hanno die Hand hin, die sie gerade an einem Geschirrtuch abgetrocknet hatte. „Ich bin Anna, schön dich kennenzulernen.“ Hanno schüttelte ihre Hand. „Guten Abend, ich bin Hanno Weiler, ich hoffe, ich störe Sie nicht, so unangemeldet.“ „Natürlich nicht“, Anna schüttelte entrüstet den Kopf. „Toms Freunde sind bei uns immer willkommen. In einer halben Stunde können wir essen. Du bleibst doch zum Essen, oder?“ „Nur wenn ich wirklich nicht störe“, sagte Hanno. „Ich habe doch gesagt, du störst nicht. Robert kann euch ja später gemeinsam zum Training fahren.“ „Jetzt komm schon“, Tom zog seinen Freund in Richtung der Treppe und drehte sich dann zu seiner Mutter um. „Wir gehen solange noch in mein Zimmer.“ Und damit schob er Hanno die Treppe hoch.

„Wow“, Hanno ließ seinen Blick bewundernd durch Toms Zimmer unter dem Dach wandern. „Das ist ja richtig toll.“ Tom konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ja, ich habe ziemlich Glück gehabt. Hier oben gibt es zwei Schlafzimmer und ein Bad. Meine Eltern haben allerdings das kleinere genommen, weil sie meinten, für mich wäre es ja auch Wohnzimmer und nicht nur reines Schlafzimmer. Und so bin ich zu diesem hier mit eigenem Balkon gekommen.“ „Dein neuer Vater ist echt ok, oder?“, fragte Hanno vorsichtig. Er war um den Raumteiler herumgegangen, der das Bett und den Kleiderschrank vom Rest des Raumes ein wenig abtrennte. „Mehr als das“, gab Tom freimütig zu. „Auch wenn ich ja eigentlich keinen wirklichen Vergleich habe, denn mein Erzeuger hatte, glaube ich, nicht viel mit einem Vater zu tun. Aber wir sind nicht hier, um über meinen Vater zu reden. Was ist denn jetzt los mit dir?“ Hanno ließ sich in dem Sessel nieder, der vor der Balkontür stand. Tom hockte sich auf das Sofa und blickte ihn erwartungsvoll an. „Ach, keine Ahnung“, Hanno zuckte mit den Schultern. „In meinem Leistungskurs in Geschichte läuft es gerade überhaupt nicht, ich kann machen, was ich will, ich kriege nie mehr als zwei Punkte. Und weil ich in den beiden anderen Kursen auch nicht so doll stehe, kriege ich wahrscheinlich die Punkte für die Abiqualifikation nicht zusammen. Mein Vater rastet aus, wenn er davon was erfährt. Ich habe auch schon versucht, mit der Lehrerin zu reden, aber sie ist eiskalt. Ich wollte ein Referat machen, um meine schlechte Klausur wenigstens teilweise auszubügeln, aber sie meinte, das hätte ich mir eben vorher überlegen sollen und jetzt müsste ich eben sehen, wie ich klarkäme.“ „Hört sich nicht gut an“, gab Tom zu bedenken. „Ich bin jetzt auch nicht so die Riesenleuchte in Geschichte, aber wir können vor der nächsten Klausur mal meine Mum fragen, die kann dir bestimmt helfen. Wäre doch gelacht, wenn wir der Alten nicht ein Schnippchen schlagen könnten.“ „Meinst du echt, das würde sie für mich machen?“, fragte Hanno zweifelnd. „Sie kennt mich doch eigentlich kaum.“ „Ja und, was hat das denn damit zu tun. Sie macht das, kannst du dich drauf verlassen. Wir können sie gleich beim Essen fragen. Musst du eigentlich vor dem Training nochmal ins Internat?“ „Außer den neuen Schuhen habe ich jetzt nichts dabei.“ „Dann fahren wir ein bisschen früher, beziehungsweise ich fahre dich da vorbei.“ Tom setzte sein breitestes Grinsen auf. „Wie? Du fährst?“ „Allerdings, begleitetes Fahren ab 17, seit zwei Wochen habe ich meinen Lappen und mit Robert und meiner Mum darf ich jetzt begleitet fahren.“ „Mann, das ist ja obercool“, Hanno war wirklich beeindruckt. „Darauf hätte ich auch wirklich Bock, aber das geht ja leider nicht. Naja, in ein paar Monaten bin ich auch 18, dann kann ich auch fahren.“ „Und sogar noch vor mir“, Tom stand auf und klopfte Hanno auf die Schulter. „Komm, wir gehen runter, es gibt jeden Moment Essen.“

Als die beiden Jungen die Treppe herunterkamen, betrat gerade Robert, der eine Runde mit dem Hund gedreht hatte, den Flur. Auch er begrüßte Hanno herzlich und kurz darauf saßen die vier am Tisch im Esszimmer. Es gab Bratkartoffeln, Spiegeleier und einen gemischten Salat und Hanno hatte seit langem einmal wieder das Gefühl von ein wenig ganz normalem Familienleben. Tom fackelte auch nicht lange, sondern brachte Hannos Probleme in der Schule direkt auf den Tisch. Anna und Robert hörten aufmerksam zu und Anna machte einen Vorschlag. „Warum kommst du nicht an den beiden Tagen, an denen ihr Training habt, nach der Schule direkt zu uns? Dann kann ich versuchen, dir bei der Klausurvorbereitung zu helfen und ihr könnt von hier aus zusammen zum Training fahren.“ Hanno schaute überrascht auf. „Das würden Sie wirklich machen? Ist das denn nicht zu viel Aufwand?“ Anna schüttelte lachend den Kopf. „Quatsch, dann wälze ich einfach ein bisschen mehr Hausarbeit auf die beiden Herren der Schöpfung hier ab und dann habe ich ein bisschen mehr Zeit.“ Sie grinste Robert und Tom an, die mit versteinerten Mienen am Tisch saßen. „So war das aber nicht gedacht gewesen“, startete Tom einen letzten Versuch, das Unheil abzuwehren, auch wenn er wusste, dass das nichts mehr bringen würde. „So schlimm wird es schon nicht werden“, schaltete sich sein Stiefvater ein. „Das kriegen wir schon hin.“ Hanno wusste gar nicht, was er sagen sollte. „Das ist unheimlich nett von Ihnen. Aber das kann ich doch nicht annehmen.“ „Doch kannst du“, sagte Anna entschieden, „und das Sie kannst du dir gerne sparen, ich heiße Anna und Robert verzichtet auch gerne auf das Sie.“ Sie lächelte den Jungen warmherzig an. „Und jetzt essen wir erst einmal in Ruhe zu Ende, sonst kommt ihr beiden noch zu spät zum Training.“ Eine Stunde später machte sich Robert mit den beiden Jungen auf den Weg, zuerst zum Internat, wo Hanno seine Tasche packte und dann zum Sportplatz.

Tom wartete mit Robert im Auto, während Hanno seine Sachen in seinem Zimmer packte. Er nutzte die Gelegenheit für ein kurzes Vier-Augen-Gespräch mit seinem Vater. „Ich habe das Gefühl, dass Hanno mir nicht alles erzählt hat.“ Robert blickte seinen Adoptivsohn an. „Wie kommst du darauf?“ Tom kaute auf seiner Unterlippe herum. „Ich weiß es nicht genau; kennst du das, wenn du das Gefühl hast, dass irgendetwas nicht stimmt, du aber nicht genau sagen kannst, warum?“ Robert musste lächeln. „Oh ja, das Gefühl kenne ich nur zu gut. Mein Chef kriegt immer die Krise, wenn ich so ein Gefühl habe und ihm dann nichts Handfestes liefern kann.“ „Genau das meine ich“, bestätigte Tom. „Hanno ist schon seit einer ganzen Weile etwas komisch und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass da noch mehr ist.“ „Wenn er es dir nicht erzählen will, kannst du nicht viel machen“, gab Robert zu bedenken. „Gib ihm Zeit, vielleicht rückt er ja mit der ganzen Wahrheit raus, wenn er häufiger bei uns ist und vielleicht ein wenig Vertrauen zu deiner Mutter oder mir fasst.“

Hanno kam mit der Tasche über der Schulter zurück, wurde jedoch auf dem Weg zum Auto von einer Lehrerin aufgehalten. Tom machte seinen Vater auf die Situation aufmerksam. „Guck mal“, sagte er, „das sieht aber nicht nach großer Harmonie aus.“ Sie konnten zwar nicht verstehen, was gesagt wurde, doch sie beobachteten, wie Hanno während des Gesprächs immer weiter zurückwich und es scheinbar eilig hatte, wegzukommen. Als er ins Auto einstieg, konnte Tom sich nicht zurückhalten. „Was war das denn gerade? Was wollte die Tante denn von dir?“ Hanno druckste herum. „Das war meine LK-Lehrerin - die von der ich dir gerade erzählt habe. Sie wollte wissen, wo ich jetzt hinwill und hat mir gute Ratschläge erteilt, dass ich doch lieber mehr lernen sollte, statt meine Zeit mit Fußballtraining zu verschwenden. Diese Frau ist echt der Hass in Büchsen, warum kann die nicht einfach vom Blitz getroffen werden?“ Tom musste wider Willen grinsen. „Weil es eben doch keine Gerechtigkeit auf der Welt gibt?“ Auch Robert musste lachen, er drehte sich zu Hanno um, der auf dem Rücksitz saß und meinte aufmunternd: „Das wird schon, und in den zwei Stunden Training heute Abend lernst du garantiert nicht mehr viel.“

Nach dem Training holte Anna die beiden ab. Sie setzten Hanno am Internat ab und fuhren dann nach Hause. Tom lag noch lange wach in seinem Bett und dachte über das nach, was Hanno ihm heute erzählt hatte.

Bittere Vergeltung

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