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7. Kapitel
ОглавлениеDer Tag blieb ruhig. Gegen 15 Uhr bekam Fischer den Anruf, dass die Bombe entschärft war.
Kurze Zeit später klingelte wieder Fischers Diensttelefon.
»Ich habe es gewusst!« Oliver Brackhausen klang aufgeregt.
Fischer wechselte den Telefonhörer in die andere Hand, nahm einen Stift und einen Zettel. »Was hast du gewusst?«
»Es ist ein Toter in der Grube. Eingewickelt in eine Plane. Ich hab nur vorsichtig nachgeschaut.«
»Welchen Eindruck hast du denn? Wie lange ist er schon tot?«
»Das ist ein Soldat aus dem Krieg.«
»Ich werde den Staatsanwalt informieren. Bleib vor Ort, ich melde mich gleich wieder bei dir.«
Staatsanwalt Altmann ging sofort ans Telefon.
»Fischer, KK 11. Im Zoo wurde eine Leiche gefunden.«
»Ich dachte eine Bombe? Davon hab ich jedenfalls gehört.«
»In dem Bombenkrater liegt ein Toter. Gut möglich, dass er dort schon so lange liegt wie der Blindgänger. Brackhausen hält ihn für einen Soldaten aus dem Krieg.«
»Ist da überhaupt noch etwas zu identifizieren? Außer Knochen? Nach über 60 Jahren?« Altmann klang verwundert. »Der große Angriff auf Krefeld war doch 1943.«
»Der Leichnam war wohl in eine Plane gewickelt. Ich habe ihn selbst noch nicht gesehen, kann auch nichts über eine vermutliche Todesursache sagen. Dass er in eine Plane gewickelt war und in einem Bombenkrater lag, spricht nicht für einen natürlichen Tod.« Fischer nahm die Schachtel Zigaretten aus der Jacke, legte sie auf den Schreibtisch.
»Nicht unbedingt. Aber ob wir da jemals etwas herausbekommen werden?«
»Also keine Spurensicherung? Da sind so viele Leute vom Räumdienst gewesen, Spuren gibt es sicherlich nicht mehr.«
»Nein. Lassen Sie ihn abholen und nach Duisburg zur Rechtsmedizin bringen. Alles Weitere sehen wir dann.«
Für einen Moment war Fischer versucht in den Zoo zu fahren und beim Abtransport der Leiche anwesend zu sein. Irgendetwas an der Sache berührte ihn, obwohl es vermutlich kein Fall werden würde. Doch dann schaute er auf den Stapel Unterlagen, die er noch abzuheften hatte und rief Brackhausen an.
Die abendliche Besprechung verlief ruhig. Im Moment gab es keine dringenden Fälle und Fischer verabschiedete sich für die nächsten zwei Wochen in den Urlaub.
»Ich hab noch drei Akten, die ich durchgehen muss«, sagte er der Sekretärin Christiane Suttrop. »Die nehme ich mit und reiche sie im Laufe der Woche ein.«
»Kein Problem. Wann ist denn dein Umzug?«, fragte sie.
»Wir machen das so häppchenweise. Martina hat für Freitag einen Wagen bestellt, sie hat mehr Möbel als ich. Aber ich muss meine Wohnung noch streichen. Und die Übergabe ist schon in wenigen Tagen.«
»Streichen? Eine elende Arbeit, abkleben, abdecken, du hast mein Mitleid.«
»Wohl wahr. Die Wände sind gelb vom Nikotin. Ich hoffe, die Farbe deckt gut.«
»Selbst schuld. Falls etwas ist, unter welcher Nummer kann ich dich erreichen?«
Fischer überlegte einen Augenblick. Am liebsten hätte er gesagt: gar nicht. Wenn er mit Martina weggefahren wäre, könnte ihn auch niemand erreichen.
»Über mein Handy. Zur Not musst du auf die Mailbox sprechen.«
»Der Chef kommt ja übermorgen wieder und im Moment ist nichts los. So ruhig war es schon lange nicht mehr. Schönen Urlaub … ähm … Umzug, Jürgen. Ich freue mich für euch.« Sie zwinkerte ihm zu.
»Hoffen wir, dass es so ruhig bleibt.«
Jürgen Fischer fuhr zu seiner Wohnung an der Rheinstraße. Wieder belud er ein paar Kartons. Er hatte nun fast alles eingepackt. Sein Bett und die Matratze kamen übermorgen auf den Sperrmüll, zusammen mit einigen anderen Sachen, die er nicht mehr brauchte. Morgen wollte er streichen. Die Farbeimer standen schon im Flur sowie Abdeckfolie, Kreppband und Pinsel. Streichen und sauber machen, dann war er fertig. Zufrieden belud er den Wagen und fuhr nach Traar.
Diesmal scholl ihm keine Musik entgegen, als er aus dem Wagen stieg. Das Haus war nicht beleuchtet und auch Martinas Wagen stand nicht auf dem Stellplatz.
»Martina?« Er rief ihren Namen in das dunkle Haus, obwohl ihm klar war, dass sie nicht da sein konnte. »Martina?«
Es roch intensiv nach frischer Farbe und Allzweckreiniger. Langsam ging er durch die Räume, schaltete die Lampen an. Die nackten Glühbirnen verbreiteten ein kaltes Licht. Im Wohnzimmer hatte sie die Abdeckplanen zusammengerollt und in die Ecke gelegt. Das Kreppband klebte noch um die Fenster- und Türrahmen.
Er stieg die Treppe hoch, ging ins Schlafzimmer. Martina hatte einige Kartons mit Kleidungsstücken ausgeräumt und in den Schrank geräumt. Das Bett war gemacht, sogar eine Tagesdecke, die er nicht kannte, lag dort.
Sein Handy klingelte. Es war in seiner Jackentasche und die Jacke hing im Flur. Fischer lief die Treppe hinunter, doch er kam zu spät. Das Display zeigte Martinas Nummer, er betätigte den Rückruf.
»Wo bist du?«
»Hallo.« Sie klang irgendwie anders, aufgelöst oder verzweifelt.
»Ist etwas passiert?«
»Nein.« Martina zögerte. »Doch.«
»Wo bist du denn?«, fragte Fischer besorgt und fühlte sich hilflos.
»In Moers.«
»Was ist denn passiert?« Er hasste es, wenn er jemandem Informationen aus der Nase ziehen musste. »Verdammt, nun antworte mir doch.«
»Eigentlich ist nichts passiert. Ich packe nur noch einiges ein.« Sie klang, als würde sie weinen.
»Ich komme.«
»Nein …«
Fischer hatte schon aufgelegt. Er nahm sich seine Jacke und die Autoschlüssel, ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen, ohne abzuschließen. Auch das Licht ließ er brennen. Um die Geschwindigkeitsbegrenzung kümmerte er sich nicht. So schnell war er noch nie nach Moers gefahren. Was mochte ihr zugestoßen sein? Hatte sie sich verletzt?
Er parkte vor dem Haus, lief zur Tür und schellte.
Martina öffnete die Haustür. Ihre Augen waren verquollen. Jürgen nahm sie in die Arme, drückte sie an sich.
»Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Hast du dich verletzt? Bist du gestürzt?«
»Nein, nichts von alledem. Komm …« Sie zog ihn in den Flur, schloss die Tür.
»Was ist es dann?« Fischer stieß die Luft aus und rieb sich über das Kinn.
»Möchtest du einen Kaffee?«
»Kaffee? Martina! Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, bin fast hierhergeflogen. Du hast geweint, warum?« Auf einmal verspürte er die unbezwingbare Lust auf eine Zigarette. Martina war in die Küche gegangen und betätigte die Kaffeemaschine. Auch hier war schon vieles eingepackt. Überall lag Zeitungspapier und Klebeband. Fischer ging durch das Wohnzimmer, es war ein Slalom zwischen Kartons und Kisten. Er öffnete die Terrassentür, nahm die Zigaretten hervor, steckte sich eine an und inhalierte tief.
Martina trat hinter ihn. Er konnte den würzigen Duft des Kaffees riechen. Sie legte ihm eine Hand auf den Rücken.
»Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.«
»Das ist dir nicht gelungen.«
»Das tut mir leid. Ich hatte es nicht so gemeint. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich noch hier bin und später komme.«
Jürgen drehte sich zu ihr um. »Weshalb?«
»Ich habe gepackt und aussortiert. Dabei sind mir die alten Fotoalben in die Hände gefallen. Bilder von früher …« In ihren Augen glitzerte es verdächtig.
Fischer biss sich auf die Unterlippe. Martinas Mann war vor einigen Jahren an Krebs gestorben. Martina war lange Zeit nicht über seinen Tod hinweggekommen. Immer noch gab es Momente, in denen Jürgen das Gefühl hatte, dass sie in die Vergangenheit abtauchte. Gegen einen Toten anzukommen, war für ihn unmöglich. Die schlechten Erinnerungen vergaß man und die guten wurden übermächtig. Er seufzte.
»Soll ich dir beim Packen helfen?«
Martina schüttelte den Kopf.
»Was kann ich dann tun?«
Sie schwieg.
»Martina?« Fischer zog noch einmal an seiner Zigarette, warf sie dann zu Boden und trat sie aus. »Sollen wir essen gehen? Ich lade dich ein.«
»Ich glaube, ich möchte noch ein wenig alleine sein.« Ihre Stimme klang hoch und unsicher.
Fischer schloss die Augen, dann nickte er. »Okay. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.«
Er fuhr langsam über die Dörfer zurück, wählte Umwege, verfuhr sich beinahe. In Neukirchen-Vluyn hielt er bei McDonald’s und gönnte sich einen Hamburger Royal TS. Fischer hatte kein gutes Gefühl, was Martina anging. Ob sie ihren Entschluss zusammenzuziehen schon bereute? Zweifelte sie an der Beziehung, an ihrer Liebe? Oder hat sie festgestellt, dass Fischer nie so wie ihr verstorbener Mann sein würde?
Es roch immer noch intensiv nach Farbe, als er die Haustür zu ihrem Haus aufschloss. Diesmal hatte der Geruch etwas Chemisches, es roch nicht wie die Vorankündigung von neuem Glück.