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10. Kapitel

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»Wir haben eine arg dezimierte Mannschaft.« Sabine Thelen rieb sich über die Augen. »Fischer hat Urlaub, Ermter ist auf einer Tagung, Oliver ist krank. Hoffentlich bleibt es ruhig.«

»Nicht nur Oliver ist krank. Roland und Uta haben sich auch krankgemeldet. Magen-Darm-Grippe. Sehr ansteckend. Scheint umzugehen. Hat Oliver das auch? Dann bekommen wir es alle.« Volker schaute besorgt in die kleine Runde. Er hatte sich noch keinen Kaffee genommen und wischte sich nun die Hände an seiner Hose ab. Sabine Thelen musste grinsen.

»Oliver hat nur schwere Kopfschmerzen. Morgen ist er sicherlich wieder im Dienst. Auch Ermter ist morgen wieder da. Gibt es irgendetwas?«

»Heute Nacht ist es ruhig geblieben bei den Landschaftsgärtnern. Keine Einbrüche. Keinerlei Vorkommnisse.«

»Und sonst?«, fragte Sabine.

»Ich habe eine Meldung aus der Rechtsmedizin in Duisburg. Der tote Wehrmachtsoldat …« Vienkrath suchte in seinen Unterlagen nach dem Fax. Als er es fand, setzte er umständlich die Lesebrille auf. »Der Soldat wurde erschossen. In den Kopf. Die Kugel steckte noch.«

»Ist der Mann zu identifizieren?« Sabine sah ihn interessiert an.

»Ja, es ist schon eine Anfrage an das Rote Kreuz und das Ministerium ergangen. Offensichtlich trug er seine Marke noch.«

»Weiß der Staatsanwalt darüber Bescheid?«

Niemand äußerte sich.

»Dann sollten wir ihn informieren. Er wird alles Weitere in die Wege leiten. Ich weiß gar nicht, was mit einem Toten aus dem Krieg passiert. Muss man noch Angehörige informieren?« Sabine Thelen massierte sich den Nacken. Sie hatte schlecht geschlafen. Immer wieder war sie von den Geräuschen aus dem Nebenzimmer geweckt worden. Es war ungewohnt, jemanden in der Wohnung zu haben.

»Soweit ich weiß, wird die Kriegsgräberfürsorge eingeschaltet. Anhand der Feldpostnummer kann man die Identität feststellen und eventuell auch Angehörige ausfindig machen.« Vienkrath schob das Fax wieder in die Mappe.

»Informieren wir erst mal Altmann, der wird schon wissen, wie es weitergeht. Sonst noch was?«

Da nichts weiter anlag, beendeten sie die Besprechung. Gerade als alle den Raum verlassen wollten, kam Christiane Suttrop herein.

»Ich habe gerade einen Anruf aus Köln erhalten«, sagte sie aufgelöst. »Der Chef hatte einen Unfall. Ein LKW ist ungebremst an einer Ampel auf seinen Wagen gefahren. Guido ist schwer verletzt und liegt in der Uni-Klinik.«

Sie sahen sich fassungslos an.

»Und nun?« Dieter schob seinen Stuhl zurück, stand auf, nahm eine Packung Taschentücher hervor.

»Laut Plan ist Fischer seine Vertretung, aber der hat doch ab heute Urlaub.«

»Hilft alles nichts, wir müssen Jürgen anrufen.« Vienkrath schnäuzte sich.

»Aber er zieht doch um.« Sabine Thelen schüttelte den Kopf. »Da können wir ihn doch nicht rausreißen.«

»Es geht doch nur um das Formale. Da nicht viel los ist, werden wir ihn wohl kaum brauchen.«

»Ich ruf Fischer nachher an und du Altmann.« Sabine seufzte.

Als Fischer heute Morgen aufwachte, war Martina nicht da.

Ihre Seite des Bettes war unberührt. Er hatte bis spät in die Nacht Kartons ausgepackt und Sachen eingeräumt. Das Kreppband um die Tür- und Fensterrahmen hatte er sorgfältig entfernt und den Müll in blaue Säcke gepackt. Als er nichts mehr zu tun fand, duschte er und ging ins Bett. Der Versuchung, Martina anzurufen, widerstand er, obwohl es ihm schwerfiel.

Er hinterließ ihr einen Zettel und fuhr in seine Wohnung. Alle fünf Minuten schaute er auf sein Handy, doch sie meldete sich nicht. Er überprüfte den Akku und den Empfang, beides war in Ordnung. Langsam fing er an sich Sorgen zu machen.

Jürgen Fischer schaute sich in der Wohnung um. Er hatte alle seine Sachen eingepackt, das klapprige Bett nach unten geschafft und auch die anderen Dinge, die er nicht mehr brauchte, zum Sperrmüll gestellt. Die Wände hatte er weiß gestrichen. Die Wohnung war gefegt und gewischt. In einer halben Stunde würde der Vermieter kommen und Fischer hoffte, die Schlüssel ohne Probleme abgeben zu können.

Das Telefon klingelte in dem Moment, als auch die Türglocke schellte.

»Verdammt«, fluchte Fischer, nahm ab und öffnete dann die Tür. »Hallo? Martina?«

Er war erleichtert ihre Stimme zu hören.

»Es tut mir leid, Jürgen.«

Er bildete sich ein, dass sie fröhlicher klang als gestern, hoffte es sehr. »Wo bist du?«

»Ich bin im Haus … hier. In unserem Haus in Traar.«

Ein ganzer Berg schien ihm vom Herzen zu fallen. Unserem. Alles würde gut werden.

»Mein Vermieter ist gerade gekommen …«, sagt Jürgen.

»Meldest du dich anschließend, Jürgen?«

»Natürlich.«

Der Vermieter war an der Tür stehen geblieben, schaute verlegen zu Boden.

»Entschuldigung. Wir können jetzt.« Fischer führte ihn durch die Räume. Nach wenigen Minuten war sie fertig. Einen Augenblick zögerte Fischer, dann ließ er den Schlüsselbund in die Hand des Vermieters fallen. Jetzt war es endgültig und für Fischer gab es kein Zurück. Martina wusste noch nicht, was mit ihrem Haus in Moers werden sollte. Sie schwankte zwischen verkaufen und vermieten, konnte sich zu keiner der beiden Lösungen wirklich durchringen.

Jürgen traute ihrem Entschluss, mit ihm zusammenzuziehen, noch nicht ganz. Sie hatte immer noch eine Rückzugsmöglichkeit. Er hatte seine gerade aufgegeben.

Als er auf der Straße stand, klingelte sein Handy erneut. Sabine Thelens Dienstnummer erschien auf dem Display.

»Jürgen? Ich weiß, du hast Urlaub.« Sie hörte sich verlegen an.

»Stimmt.« Fischer fuhr sich durch das raspelkurze Haar.

»Zwei Dinge.« Sabine räusperte sich, zögerte dann.

»Ja?« Jürgen wurde ungeduldig. Er wollte nach Traar, wollte zu Martina, überlegte, wo er einen großen Strauß Blumen kaufen könnte.

»Zum einen hat ein Kollege von dir aus Münster angerufen. Irgendein Hansi Soundso … er wollte dich persönlich sprechen.«

»Hans-Jürgen Müller? PHK Schupo Münster?«

»Ja, ich glaube schon. Dienstgruppenleiter der Berta?« Es war eine Frage, keine Antwort.

»Ein alter Freund von mir. Was wollte er?«

»Keine Ahnung, das wollte er persönlich klären.«

»Er hat meine Handynummer.« Jürgen wurde immer ungeduldiger.

»Mag ja sein, er hat trotzdem hier angerufen und nach dir gefragt. Ich überbringe nur Nachrichten.« Sie schluckte hörbar.

»Was ist noch? Du hast von zwei Dingen gesprochen.«

»Nun ja.« Wieder zögerte Sabine. »Da ist noch was, richtig.« Sie hielt inne, versuchte die passende Formulierung zu finden.

»Spucke es aus, Mädchen.«

»Es geht um Guido. Er ist verunglückt.«

»Was?«

»Er hatte einen Autounfall und ist in der Uni-Klinik in Köln.«

»Oh mein Gott!«

Beide schwiegen. Jürgen vor Entsetzen und Sabine, weil sie nicht wusste, wie sie fortfahren sollte.

»Wie geht es ihm?«

»Ich habe keine Ahnung. Vor einer Stunde war er noch im OP.«

Fischer suchte nach seinen Zigaretten. Er hatte die letzte aus der Schachtel vorhin geraucht, fiel ihm ein.

»Gibt es irgendetwas, was wir tun können? Weiß es Sigrid schon?«

»Ja, sie weiß es, natürlich. Tun … nun ja … ich weiß, du hast Urlaub …« Sabine stockte.

»Urlaub hin oder her, wenn ich etwas tun kann, dann mache ich das.«

»Du bist als seine Vertretung eingetragen, Jürgen.«

Das hatte er vergessen.

»Stimmt.« Der Drang nach einer Zigarette wurde immer größer. Fischer stieß die Luft aus. »Und das heißt? Ich habe Urlaub, Sabine.« Die letzten Worte hätte er am liebsten wieder zurückgenommen, als ihm klar wurde, weshalb seine Anwesenheit gefordert wurde. »Was ist mit Roland?«

»Der leidet unter Montezumas Rache. Ein heftiger Magen-Darm-Virus mit Fieber scheint umzugehen. Fast die Hälfte der Belegschaft ist schon krank.«

Fischer schnaubte. »Na gut. Kann man nicht ändern. Liegt etwas an?«

»Nicht wirklich. Nur der Tote im Zoo. Altmann will deswegen zur Abendbesprechung kommen.«

»Der Tote im Zoo? Doch nicht etwa der tote Soldat aus dem Krieg? Eine über 60 Jahre alte Leiche? Und Altmann will ein Verfahren einleiten oder was? Wissen wir denn, wer es war?«

»Ich hab keine Ahnung, weshalb der Staatsanwalt mit uns reden will, aber es geht um den Soldaten, ja.« Sabines Stimme war ganz hoch und dünn. Sie tat Fischer auf einmal leid. Schließlich konnte sie nichts dafür.

»Halb sechs, wie immer?«, fragte er und bemühte sich sachlich zu klingen.

»Hmm.« Sabine brummte nur.

Fischer beendete das Gespräch und schaute auf die Uhr. Es war ein Uhr mittags.

Er hatte noch jede Menge Zeit bis zur Besprechung. Die Straße herunter neben dem Bari-Videoverleih war ein Kiosk. Dort hatte er schon oft Zigaretten geholt. Jetzt war es vermutlich das letzte Mal.

Dann ging er zu seinem Wagen, der bis oben hin vollgepackt war, setzte sich hinein und nahm wieder das Handy hervor. Er wählte Ermters Nummer. Es klingelte bestimmt 15-mal, bevor endlich der Anrufbeantworter ansprang. Fischer legte auf. Natürlich, Sigrid, die Frau des Polizeichefs, war in Köln bei ihrem Mann.

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