Читать книгу Seidenstadt-Schweigen - Ulrike Renk - Страница 5

1. Kapitel

Оглавление

»Jürgen?«

Hauptkommissar Jürgen Fischer vom KK 11 hob den Kopf, als sein Kollege Oliver Brackhausen das Büro betrat. Oliver trug die schulterlangen, glatten Haare als Pferdeschwanz. Er war Mitte 30 und somit gut zehn Jahre jünger als der Hauptkommissar mit den raspelkurzen Haaren in der Farbe von Eisenspänen.

»Ein Anruf vom Zoo. Sie haben eine Bombe gefunden.«

»Eine Bombe?« Fischer sprang auf. »Wo?«

»Irgendwo beim Regenwaldhaus. Da wird gebaut und der Bagger ist auf eine Bombe gestoßen.«

»Ein Blindgänger aus dem Krieg?« Fischer ließ sich erleichtert wieder auf seinen Stuhl sinken. »Das fällt nicht in unsere Zuständigkeit, sag der Schutzpolizei Bescheid, die werden den Kampfmittelräumdienst in Düsseldorf informieren.«

»Der Baggerfahrer meint, dass neben der Bombe ein Toter liegt.«

»Ein Toter?« Fischer rieb sich über das Kinn. »Gerade jetzt. Ermter ist auf einer Tagung und bisher war alles so schön ruhig.«

»Ich fahr hin und schau es mir an.« Oliver warf einen Blick auf Fischers vollen Schreibtisch.

»Gut.« Fischer schob einen Aktenstapel nach rechts, die Akten schwankten, kippten aber nicht um. In zwei Tagen begann sein langersehnter Jahresurlaub und bis dahin wollte er alle Berichte abgearbeitet haben. »Fahr hin.«

»Ich hatte noch nie mit einem Bombenfund zu tun. Was passiert jetzt?«

Fischer seufzte. »Der Kampfmittelräumdienst wird informiert, sie werden ein Team nach Krefeld schicken. Die Schutzpolizei wird den Fundort absichern. Je nach Größe und Art der Bombe werden die umliegenden Häuser geräumt. Dann wird die Bombe entschärft und abtransportiert. Das dauert meistens ein bis zwei Tage. In der Regel werden Handzettel verteilt, im Radio wird es dazu auch Hinweise geben.«

Brackhausen schaute auf seine Uhr. »Gut, dann fahr ich mal. Ich denke, zur Abendbesprechung bin ich wieder da. Liegt sonst noch etwas an? Ich wollte pünktlich Feierabend machen.«

»Hast du etwas vor?«

Brackhausen nickte. »Vera kommt. Sie ist nun überall durch und hat sich auf eine Stelle hier oder in Mönchengladbach beworben. Aber erst mal hat sie ein paar Tage frei.«

Vera war eine junge Kollegin, die letztes Jahr im Rahmen ihrer Ausbildung einige Zeit beim KK 11 verbracht hatte. Seitdem waren sie und Brackhausen ein Paar. »Ich wollte auch Urlaub nehmen, aber das ging ja nicht, weil du schon frei hast.«

»Falls du damit rechnest, dass ich zu deinen Gunsten auf meinen Urlaub verzichte, muss ich dich enttäuschen, Oliver. Ich habe lange genug warten müssen und freue mich nun tatsächlich, zwei Wochen frei zu haben.«

»Wie weit seid ihr denn mit dem Umzug?«

»Noch lange nicht so weit, wie wir sein wollten. Immer kommt irgendetwas dazwischen. Ein Handwerker kann nicht oder hält den Termin nicht ein, bestellte Möbel werden nicht pünktlich geliefert und so weiter.«

»Das Übliche eben. Na gut, wir sehen uns um halb sechs bei der Besprechung.« Brackhausen stand auf. »Ich finde das tatsächlich spannend, hab schon viel über Bombenfunde gelesen, aber es noch nie gesehen.«

Nachdem Brackhausen das Büro verlassen hatte, nahm sich Fischer wieder die Unterlagen vor. Zwischen zwei Ermittlungsmappen steckte ein Briefumschlag. Der Brief war an Fischer persönlich gerichtet und verschlossen. Die Adresse war mit Schreibmaschine geschrieben, es gab keinen Absender. Fischer konnte nicht entziffern, wo der Brief abgestempelt worden war.

Langsam riss Jürgen Fischer das Kuvert auf. Bevor er die Karte herausholte, sog er Luft ein, tastete in seiner Hemdtasche nach den Zigaretten. Vor einigen Jahren hatte er in seiner ehemaligen Dienststelle in Münster einen grausamen Fall bearbeitet. Der Täter hatte mehrere Stricherjungen langsam und qualvoll umgebracht. Vor jedem Mord hatte er Fischer eine Postkarte geschickt. Es waren historische Ansichtskarten von Friedhöfen.

Auch nachdem sie den Täter fassen konnten, hatte Fischer nie den Grund dafür erfahren, warum gerade er die Karten bekommen hatte.

Nun nahm der Hauptkommissar den Umschlag mit spitzen Fingern hoch und schüttelte den Inhalt auf den Schreibtisch.

Es war ein Foto eines Grabkreuzes.

»Scheiße.« Fischer nahm das Telefon. »Günther, schick mir doch mal jemanden von der Spurensicherung in mein Büro.«

»Was?«

»Du hast schon richtig gehört. Mach einfach, was ich dir sage.« Dann legte er auf, dachte kurz nach, wählte eine andere Nummer.

»Fischer, KK 11 Krefeld. Könnt ihr mal überprüfen, ob ein Heinz Schröter noch einsitzt? Er ist vor drei Jahren wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden.« Während Fischer auf eine Antwort wartete, zündete er sich eine Zigarette an. Es war erst die dritte an diesem Tag. Seit einiger Zeit bemühte er sich ernsthaft, seinen Nikotinkonsum zu verringern.

»Fischer, hörst du? Heinz Schröter hat am 4. Mai 2004 in Münster Lebenslänglich bekommen. Mord zum Nachteil von drei Jugendlichen. Meinst du diesen Schröter?«

»Ja.«

»Er hat die Haft hinter sich.« Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte rau.

»Wie bitte? Er ist entlassen worden? Der Mann ist ein Psychopath.«

»Die Strafe war lebenslang. Er ist in der Haft verstorben. Vor genau drei Wochen.«

»Verstorben?« Fischer zog noch einmal heftig an seiner Zigarette, drückte sie dann im Aschenbecher aus.

»Jürgen?« Siegfried Brüx schaute in Fischers Büro. »Du brauchst mich?«

Fischer nickte, beendete dann das Telefonat mit einer Floskel. »Ich habe einen Brief bekommen. Einen anonymen Brief.«

»Eine Drohung?«

»Wie man es nimmt. Es ist eine Postkarte, nicht beschriftet. Sie steckte in diesem Umschlag.« Fischer deutete auf seinen Schreibtisch. »An mich persönlich adressiert, maschinengeschrieben, kein Absender.«

»Eine nicht beschriebene Postkarte ist für dich eine Drohung?«

»Vielleicht eher eine Warnung. Ich habe diese Art von Karten schon mal bekommen. Vor ein paar Jahren, während wir wegen einer scheußlichen Mordserie ermittelt haben.«

»Und?«

»Der Absender war der Täter. Wir haben ihn gefasst und er wurde verurteilt. Lebenslang.«

»Und nun hat er dir aus der Haft eine Karte geschickt?«

»Er ist in der Haft verstorben.« Fischer stand auf, streckte sich.

»Und wer hat dir jetzt die Karte geschickt? Ich versteh’s nicht.« Brüx trat an den Schreibtisch.

»Da geht es dir nicht anders als mir. Bitte lass die Karte untersuchen. Fingerabdrücke, DNA, was auch immer ihr finden könnt. Ich werde die alte Akte aus Münster anfordern, dann können wir vergleichen.«

Nachdem Siegfried Brüx die Karte und den Briefumschlag mit einer Pinzette in eine Spurentüte geschoben und beides mitgenommen hatte, setzte Fischer sich wieder.

Heinz Schröter war tot und doch war die Karte von der Art, wie Fischer sie früher im Rahmen des Falles schon bekommen hatte. Was konnte das bedeuten? Es hatte damals nur einen Täter gegeben, er hatte keine Helfer, keine Komplizen. Er hatte seinerzeit mit der Kripo gespielt, sich für schlauer gehalten und nur durch einen Zufall hatten sie ihn fassen können. Während der Verhandlung hatte er geschwiegen, aber Fischer nicht aus den Augen gelassen. Dabei hatte Fischer die Mordkommission nicht geleitet, sondern war nur ein Mitglied gewesen.

Schon damals hatte Jürgen Fischer die Handlungsweise nicht verstanden, die heutige Post verstand er noch weniger.

War der Brief wirklich heute angekommen? Er lag zwischen zwei Akten, die Fischer schon eine Weile auf dem Tisch hatte. War der Umschlag dazwischen gerutscht und schon vor einiger Zeit angekommen? War es möglich, dass Schröter ihn aus der Haft geschickt hatte?

Was, wenn nicht?

Bei dem zurückliegenden Fall hatte der Täter seine jungen Opfer tagelang in seiner Gewalt und quälte sie entsetzlich. Immer kurz nachdem Schröter eine Postkarte an Kommissar Fischer geschickt hatte, brachte er sein Opfer um.

Die Postkarte war wie ein Déjà-vu. Würde nun wieder ein unschuldiger Mensch grausam sterben?

Fischer schauderte. Wieder griff er nach dem Telefon.

»Klaus, hier ist Jürgen Fischer. Ich brauch mal ein paar Daten, und zwar bundesweit. Wird irgendwo ein Junge vermisst? Ein Junge aus der Callboyszene? Nicht älter als 18?«

»Bundesweit?«

»Vor allem hier in der Gegend und in Münster. Vielleicht ist ja jemand aus dem Heim oder aus einer Wohngruppe verschwunden.«

»Vage Angaben, Jürgen.«

»Ich weiß.« Seufzend legte Fischer auf, zündete sich die vierte Zigarette des Tages an. Er fühlte sich unruhig. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich immer noch die unbearbeiteten Akten und der Urlaub rückte näher.

Seidenstadt-Schweigen

Подняться наверх